Gesangbuch

[674] Gesangbuch, im allgemeinen eine Sammlung von Gedichten zum Singen; im besondern eine Sammlung religiöser Lieder (Kirchenlieder) für den Gesang beim Gottesdienst. Die Hussiten führten den Gemeindegesang ein, und ihr Pfarrer Michael Weiße hat ihnen 1531 auch ein deutsches G. gegeben. Nur wenige dieser Gesänge sind in spätere Gesangbücher übergegangen (darunter »Nun laßt uns den Leib begraben«). Als der eigentliche Gründer des deutschen Kirchenliedes ist Luther anzusehen, der 1523 sein erstes Kirchenlied: »Nun freut euch, liebe Christengemein'« dichtete, eine Sammlung von acht geistlichen Liedern veranstaltete (darunter drei von Speratus) und im gleichen Jahr ein »Geistliches Gesangbüchlein« mit 24 eignen Liedern und vierstimmigen Melodien herausgab. Die spätern Ausgaben bestehen aus einer immer wachsenden Anzahl von Liedern sowohl Luthers als auch einiger seiner Freunde. Die letzte Ausgabe: »Geistliche Lieder« bringt von Luther selbst 37 Lieder. Auch als die Zahl der Liederdichter sich im 16. wie im 17. Jahrh. mehrte, hielt man sich in den Kirchen hauptsächlich noch an Luthers Gesänge, die Gemeingut des Volkes geworden waren. In der reformierten Kirche hatte man anfangs einfach den Psalter zum G. erhoben. Später entstanden auch auf diesem Boden eigentliche Kirchenlieder. Hier wie dort wurde um des gemeinschaftlichen Kirchengesanges willen die Einführung bestimmter Gesangbücher notwendig, womit denn auch gegen Ende des 17. Jahrh. einzelne Behörden vorgingen. Eine neue Periode für die Gesangbücher begann in der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. mit dem Auftreten Gellerts, der 1757 seine »Geistlichen Oden und Lieder« herausgab, und Klopstocks, der 1758 eine Umarbeitung von 19 alten Kirchenliedern im Geiste der Zeit unternahm. Das erste G., worin diese neuen Dichter vorwiegend vertreten waren, war das von Chr. F. Weiße und Zollikofer herausgegebene G. der reformierten Gemeinde in Leipzig, deren Beispiel immer mehr Städte und Provinzen folgten, so daß zu Ende des 18. Jahrh. an die Stelle der orthodox-pietistischen eine neue Richtung getreten war, die sich vielfach durch Entstellung des ältern Liederschatzes im Geist rationalistischer Aufklärung und poesieloser Moral charakterisierte. Im Gegensatz dazu hat die kirchliche Reaktion besonders seit 1848 die Klage über die »Gesangbuchsnot« angestimmt und, wo sie irgend konnte, die Gemeinden mit Wiederherstellung aller dogmatischen und stilistischen Härten des 16. u. 17. Jahrh. heimgesucht. Das Signal dazu gaben die von der Eisenacher Kirchenkonferenz 1853 herausgegebenen 150 »Kernlieder« samt Melodien. Dabei war als Grundsatz festgehalten, daß diesseit des Jahres 1750 kein echtes Kirchenlied mehr entstehen konnte. Immerhin hat die mit diesen praktischen Bestrebungen Hand in Hand gehende wissenschaftliche Beschäftigung mit dem altlutherischen G., wie sie von Bunsen, Grüneisen, Knapp, Wackernagel, Stier, Lange, Bähr, Schöberlein, Vilmar, Geffcken, Koch, R. v. Liliencron, E. Wolf, W. Fischer u. a. betrieben wurde, den glücklichen Erfolg gehabt, daß man dieses eigentümlichsten Bestandteils unsrer deutschprotestantischen Literatur wieder bewußt und froh geworden ist. Denn was die katholische Kirche in der Wessenbergschen Periode Ähnliches zu leisten unternahm, war Nachahmung und ging rasch vorüber.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 7. Leipzig 1907, S. 674.
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