[312] Wahrscheinlichkeit (Probabilitas) besitzt eine Annahme, die nicht durch zureichende, Gewißheit bedingende Gründe gestützt werden kann, aber doch auch nicht ganz willkürlich (ohne alle Gründe) ersonnen ist. Die Logik unterscheidet gewöhnlich die unbestimmte, bloß qualitative, und die zahlenmäßig ausdrückbare, quantitative W. Erstere haftet z. B. allen Analogie- und Beziehungsschlüssen (s. Schluß), somit einem großen Teile der durch Induktion aus der Erfahrung abgeleiteten Resultate an und beruht darauf, daß bei jenen der Umfang der Übereinstimmung zwischen den ähnlichen Objekten zweifelhaft bleibt, bei diesen die gegebenen Tatsachen einer mehrfachen Deutung fähig sind. Eine quantitative Wahrscheinlichkeitsbestimmung ist da möglich, wo die Häufigkeit eines bestimmten Erfolges in einer gegebenen Anzahl von Fällen von vornherein oder durch Erfahrung bekannt ist und nun hierauf eine Erwartung bezüglich des zukünftigen Eintritts des gleichen Erfolges begründet wird.
Die mathematische W. ist der zahlenmäßige Ausdruck für die Sicherheit, mit der man darauf rechnen kann, daß unter einer Reihe von Ereignissen, von denen eins eintreten muß, gerade ein bestimmtes wirklich eintrete; sie ist gleich einem Bruche, dessen Nenner die Anzahl aller möglichen Fälle angibt, während im Zähler die Anzahl aller günstigen Fälle steht, d. h. aller Fälle, in denen jenes bestimmte Ereignis wirklich eintritt. So ist z. B. bei einem Wurfe mit 2 Würfeln die Zahl aller möglichen Fälle 6.6 = 36, da jeder der 6 Würfe des ersten mit jedem der 6 des zweiten Würfels zusammenkommen kann. Ein Wurf von 9 Augen kommt heraus, wenn man mit dem ersten Würfel 3,4,5 oder 6 wirft und gleichzeitig mit dem zweiten der Reihe nach 6, 5, 4 oder 3; die Zahl der günstigen Fälle ist also für diesen Wurf 4 und seine W. 4/36 = 1/9. Man kann demnach 1 gegen 9 wetten, daß man gerade 9 Augen werfen wird. In allen Fällen, wo die Anzahl der möglichen und der günstigen Fälle wirklich gezählt werden kann, also namentlich bei allen Würfel- und Kartenspielen und bei Lotterien, wird die Berechnung der W. eines Ereignisses durch die Kombinationslehre (s. d.) geleistet. Beim Versicherungswesen muß die W. eines Ereignisses auf anderm Wege ermittelt werden, da hier die Anzahl aller und die Anzahl der günstigen Fälle unbekannt sind. Man muß dabei die Erfahrung zu Hilfe nehmen und wird um so sicherer gehen, je größer die Zahl der Erfahrungen ist, auf die man sich stützen kann. Fragt man z. B. nach der W. dafür, daß ein 30jähriger Mann noch 10 Jahre leben werde, so stützt man sich auf die Angabe der deutschen Sterbetafel (s. Sterblichkeit), daß im allgemeinen von 54,454 Männern, die 30 Jahre alt sind, noch 48,775 das 40. Lebensjahr erreichen. Daher wird man die gesuchte W. gleich 48,775/54,454 = 0,8957 setzen können. Man[312] spricht von einfacher W., wenn nur ein einziges Ereignis in Frage kommt, von zusammengesetzter W., wenn es sich um das Zusammentreffen mehrerer Ereignisse handelt. Ist die (einfache) W. für einen Mann, noch 10 Jahre zu leben, gleich 0,7, die (einfache) W. für dessen Gattin, bis dahin zu leben, gleich 0,8, so ist die zusammengesetzte W. dafür, daß beide noch 10 Jahre leben, gleich dem Produkt beider Wahrscheinlichkeiten, also gleich 0,7 > 0,8 = 0,56. Die Behandlung der Aufgaben, zu denen der Begriff der W. führt, ist Sache der Wahrscheinlichkeitsrechnung, von der die Methode der kleinsten Quadrate ein besonders wichtiger Zweig ist. Diese Methode soll dem Umstande Rechnung tragen, daß alle Beobachtungen (Messungen von Entfernungen und von Winkeln), die man macht, mit Fehlern behaftet sind und mithin auch zu Fehlern Anlaß geben, wenn man aus ihnen Größen berechnen will, die der Beobachtung nicht unmittelbar zugänglich sind. Wegen dieser unvermeidlichen Beobachtungsfehler macht man eine größere Anzahl von Beobachtungen, als eigentlich zur Berechnung der unbekannten Größen nötig wäre, und erhält dann mehr Gleichungen als Unbekannte. Es gibt dann gar keine Werte der Unbekannten, die alle diese Gleichungen auf einmal erfüllen, aber die genannte Methode gibt Vorschriften, nach denen die Unbekannten so bestimmt werden können, daß alle vorhandenen Gleichungen möglichst genau befriedigt werden. Der Name »Methode der kleinsten Quadrate« rührt daher, weil man als wahrscheinlichsten Wert einer gesuchten Größe den ansieht, dessen Abweichungen von den aus den einzelnen Beobachtungen folgenden Werten so beschaffen sind, daß die Summe ihrer Quadrate möglichst klein (ein Minimum) wird. Die Anfänge der Wahrscheinlichkeitsrechnung gehen auf Pascal und Fermat zurück; die erste zusammenhängende Darstellung hat Jacob Bernoulli in seiner »Ars conjectandi« gegeben (Basel 1713). Die Methode der kleinsten Quadrate haben Gauß und Legendre unabhängig voneinander entdeckt, doch hat Legendre sie zuerst veröffentlicht (1805). Vgl. Todhunter, A history of the mathematical theory of probability (Cambridge 1865); Czuber, Die Entwickelung der Wahrscheinlichkeitstheorie (Jahresbericht der deutschen Mathematiker-Vereinigung, Bd. 7, Heft 2, Leipz. 1899). Werke zum Studium: Laplace, Théorie analytique des probabilités (Par. 1813) und Essai philosophique sur les probabilités (das. 1814); Gauß, Abhandlungen über die Methode der kleinsten Quadrate (deutsch von Börsch und Simon, Berl. 1887); Czuber, Theorie der Beobachtungsfehler (Leipz. 1891) und Wahrscheinlichkeitsrechnung (das. 190203); Henke, Über die Methode der kleinsten Quadrate (2. Aufl., das. 1894); Poincaré, Calcul des probabilités (Par. 1896); N. Herz, Wahrscheinlichkeits- und Ausgleichungsrechnung (Leipz. 1900).