Carnotsches Befestigungssystem

[704] Carnotsches Befestigungssystem. Der Widerstand, welchen viele Plätze in den Kriegen Napoleons geleistet hatten, gab dem Kaiser der Franzosen die Veranlassung, 1809 an Carnot (s.d. 1) die Aufforderung ergehen zu lassen, eine Instruction zu verfassen, welche die commandirenden Offiziere in den Festungen ebensowohl auf die Pflichten als auf die Mittel der Vertheidigung aufmerksam machen sollte. Carnot gab von 1810 an in Folge dessen sein berühmtes Werk heraus, in welchem er alle Pflichten für Vertheidigung der Festungen in zwei Punkten zusammenfaßt: der Commandeur der Festung muß lieber sterben wollen, als sich ergeben, u. er muß alle Mittel der Kunst kennen, welche die Vertheidigung sichern. An die Spitze aller dieser Mittel stellt Carnot den Gebrauch der blanken Waffen. Zahlreiche u. schnell auf einander folgende Ausfälle sind in seinen Augen das einzige Mittel, eine glänzende Vertheidigung herbeizuführen; diese Ausfälle sollen nicht in großer Entfernung vom Platze, sondern erst dann unternommen werden, wenn der Feind die 3. Parallele errichtet od. das Glacis krönt od. sich in den Außenwerken logirt. Um diese Ausfälle aber schnell u. kräftig genug ausführen zu können, was bei dem bisherigen Bastionärsystem nicht möglich war, schlägt er vor, die Contrescarpe des Hauptgrabens ganz wegzulassen u. statt ihrer eine sanfte, rampenartige Böschung anzulegen (Glacis en contrepente), auf welcher der Ausfall vor der Sohle des Hauptgrabens schnell u. sicher auf das Glacis gelangt. Der Feind, glaubt Carnot, müsse hiergegen sehr starke Trancheewachen bereit halten. Diese sollen aber durch zahlreiches Verticalfeuer aus kasemattirten Wurfbatterien überschüttet werden, so daß sie sich nicht in der Parallele halten können u. zurückgezogen werden müssen. Hierauf sollen sogleich wieder die Ausfälle beginnen etc. Wenn auch diese Theorie Carnots theilweise verfehlt ist, da erfahrungsmäßig die Wirkung der Wurfbatterien weit hinter seinen Erwartungen zurückbleibt, so sind dennoch diese Vorschläge als bedeutsam zu bezeichnen. Und wenn diese Vorschläge auch nicht von ihm erfunden wurden (denn die Wurfbatterien entlehnte er von Virgin u. das Glacis en contrepente kam schon bei den Römern zur Anwendung u. später hatten schon Rimpler, Glaser, Rottberg u. A. dasselbe vorgeschlagen), so gebührt ihm doch das Verdienst, diese wichtigen Vertheidigungsmittel mit mehr Nachdruck empfohlen zu haben, als irgend ein Ingenieur vor ihm. Von den übrigen Vorschlägen Carnots, welche er in seinen 3 Manieren angewendet wissen wollte, verdienen bes. der innerhalb des Hauptwalles angelegte Generalabschnitt, die Anwendung der Contregarde u. die Errichtung einer krenelirten Mauer, deren Vertheidiger durch Arkaden gegen das feindliche Wurffeuer vollkommen gedeckt sind, Anerkennung. Auch schlägt er zur Verstärkung schon bestehender Bastionärbefestigungen die Anlage einer Generalcouvreface vor. In seiner ersten Manier zeigte Carnot die Anwendung des Bastionärsystems nach seinen Grundsätzen; er wollte diese Befestigung angewendet wissen, wo ein vorzugsweise ebenes u. trockenes Terrain, welches erst bei mehr als 12 F. Tiefe Wasser hat, die Anlage sehr starker Profile gestattet u. das Defilement nicht erschwert. In der 2. u. 3. Manier wendete er die Tenaillenbefestigung an, u. zwar in der 2. für ein nasses, in der 3. für ein bergiges Terrain. Als allgemeine Nachtheile seiner Vorschläge bezeichnet man: Mangel an bombensicheren Räumen u. die Gefahr, daß bei dem Glacis en contrepente der Feind mit den zurückgeworfenen Ausfalltruppen gleichzeitig in den Platz eindringen könne. Keine seiner Manieren ist vollständig zur Anwendung gekommen.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 3. Altenburg 1857, S. 704.
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