[491] Theorie (v. gr.), 1) überhaupt Betrachtung, Beschauung, erkennendes Denken im Gegensatz theils zu der erfahrungsmäßigen sinnlichen Auffassung (Empirie), theils zur thätigen Ausführung (Praxis). Im engeren Sinne 2) eine Verknüpfung u. Ableitung der Gedanken, vermöge deren das erfahrungsmäßig Gegebene aus seinen sinnlich nicht wahrnehmbaren Ursachen od. wenigstens nach seinen allgemeinen, die einzelnen Thatsachen beherrschenden Gesetzen erkannt wird. Jede Th. überschreitet daher das thatsächlich Gegebene, um die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aus der Einheit einer im Denken vorausgesetzten Ursache u. Gesetzmäßigkeit sich begreiflich zu machen. Diese Voraussetzung ist das Princip einer Th.; wo das Princip nicht selbst ein aus anderen Erkenntnissen mit Nothwendigkeit abgeleitetes ist, sondern versuchsweise als Erklärungsgrund angenommen wird, nimmt es die Gestalt einer Hypothese (s.d.) an; der Prüfstein einer Th. ist dann die Folgerichtigkeit der Ableitung der einzelnen Erscheinungen aus dem Principe u. die genaue Übereinstimmung des so Gefolgerten mit den Thatsachen der Erfahrung; eine Th. ist unhaltbar, wenn entweder ihr Princip unmöglich ist od. seine Consequenzen mit den Thatsachen der Erfahrung streiten od. auch sie nicht vollständig erschöpfen. Der Begriff der Th. findet überall Anwendung, wo es darauf ankommt eine Summe gleichartiger Thatsachen aus ihren Ursachen od. nach ihren allgemeinen Gesetzen zu begreifen; daher spricht man von physikalischen, chemischen, geologischen, physiologischen, psychologischen, astronomischen Th-n etc., eben so in Beziehung auf einzelne Gegenstände von einer Th. des Hebels, der Wage, des Lichtes, der Elektricität etc. In so fern eine Th. keinen anderen Zweck hat als das Gegebene zu erkennen, macht sie weder einen Anspruch darauf, dasselbe zu beurtheilen u. mit einem Maßstabe seines Werthes zu vergleichen, noch kümmert sie sich um die praktische Anwendung ihrer Resultate; gleichwohl werden die Fortschritte des theoretischen Wissens namentlich in den Naturwissenschaften auf die Gewerbe, die Industrie, den Ackerbau etc. einen großen u. entscheidenden Einfluß haben, u. wenn man häufig sagt, daß die Th. für die Praxis unnütz sei, so übersieht man dabei, daß entweder die Th. noch nicht weit genug ausgebildet ist, um mit Sicherheit praktisch angewendet zu werden, od. daß die Praxis nicht im Stande ist, die Bedingungen herbeizuschaffen, von denen die Anwendung der Th. abhängt. 3) Im gemeinen Sprachgebrauch so v.w. Musterbild, Ideal; so, wenn man in Beziehung auf politische Einrichtungen, sittliche Anforderungen etc. sagt, etwas sei in der Th. (in thesi) richtig, aber in der Praxis (in praxi) unausführbar. In dieser Beziehung beruht der Gegensatz zwischen Th. u. Praxis häufig darauf, daß der ein Musterbild entwerfende Gedanke für sich allein keine Bürgschaft dafür enthält, daß die Bedingungen seiner Darstellungen vorhanden sein werden. Vgl. Kant, Über den Gemeinspruch, das mag in der Th. richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, 1793.