Constitution

[462] Constitution, ein dem Lateinischen entlehnter Ausdruck, bezeichnet die Einrichtung und die Eigenschaften einer Sache, durch welche sie eine bestimmte Beschaffenheit oder Verfassung erhält. Constituiren heißt daher festsetzen, ordnen, und wenn z.B. gesagt wird: die franz. Pairskammer habe sich als Staatsgerichtshof constituirt, so bedeutet das, sie habe ihre Sitzungen als solcher unter Beobachtung der vorgeschriebenen Formen eröffnet. Man spricht ferner von der robusten, guten, festen und von der schwächlichen und zarten Constitution eines Menschen und versteht darunter seine Körperbeschaffenheit, insofern sie ihm die Aussicht auf eine dauernde oder leicht gestörte Gesundheit eröffnet. Eine besondere Bedeutung hat der Ausdruck Constitution in neuerer Zeit in seiner Anwendung für Staatsverfassung erhalten, indem man darunter nicht etwa die Verfassung jedes Staats, was der ursprünglichen Wortbedeutung entspräche, sondern eine bestimmte Art, nämlich die stellvertretende oder repräsentative versteht, jedoch dabei voraussetzt, daß über die [462] Gesammtheit der gesetzlichen Bedingungen, welche die Rechte und Pflichten der Staatsbürger und ihr Verhältniß zum Staatsoberhaupte, sowie die Ausübung der demselben beiwohnenden Gewalt regeln, eine schriftlich abgefaßte Urkunde, die Constitutions- oder Verfassungsurkunde, vorhanden sei. Staaten mit solchen Verfassungen werden auch constitutionnelle genannt und unterscheiden sich wesentlich durch eine Theilnahme des Volkes an den Regierungsrechten, welche es durch aus seiner Mitte nach den Bestimmungen der Verfassung gewählte Deputirte, Abgeordnete (s.d.), Stellvertreter oder Repräsentanten ausübt, und findet diese Wahl vorzugsweise nach den verschiedenen Ständen statt, so heißt die Verfassung auch eine ständische. Nur aus einer höhern Civilisation und einer vollkommenern Entwickelung des Bürgerthums können solche Verfassungen auf natürlichem Wege hervorgehen, daher sie auch vorzugsweise das Eigenthum hochgebildeter Völker sind, und ihr Gegentheil, nämlich inconstitutionnelle, absolute, autokratische oder unumschränkte Regierungen, bei denen der Wille des Herrschers statt des Gesetzes gilt, in der Regel bei ungebildeten Nationen gefunden wird.

Zur gemeinschaftlichen Ausübung ihrer hochwichtigen Pflichten wird in constitutionnellen Staaten die Gesammtheit der gewählten Volksvertreter für gewöhnlich in bestimmten Zwischenräumen vom Staatsoberhaupte nach der Hauptstadt berufen, was jedoch in dringenden Fällen auch außerdem geschehen kann. Dort vereinigen sie sich dann nach den zum Theil von der Größe des Staats bedingten Umständen zu einer gemeinschaftlichen oder zu zwei nebeneinander bestehenden Versammlungen, die dann Kammern genannt und als erste und zweite unterschieden werden. In der ersten Kammer, deren Mitgliederzahl nach der geltenden Staatspraxis ungefähr halb so groß wie die der zweiten bestimmt wird, pflegt man diejenigen Abgeordneten zu vereinigen, welche durch Verhältnisse und eigne Interessen vorzugsweise an das Bestehende geknüpft sind, und es sitzen darin in der Regel: die Prinzen des regierenden Hauses als geborene, sowie die Häupter gewisser adeliger Familien als erbliche oder vom Regenten auf Lebenszeit ernannte Mitglieder, welche in Frankreich und England Pairs, in Baiern Reichsräthe heißen; ferner große Gutsbesitzer; die Inhaber gewisser hoher geistlicher Würden; die ersten Magistratspersonen großer Städte; die gewählten Abgeordneten gewisser Corporationen, z.B. der Domcapitel und Universitäten, und andere dazu ausdrücklich ernannte Personen. Obgleich vernünftigerweise beide Kammern nur ein gemeinschaftliches Ziel, das Wohl des Staates, verfolgen können, wird doch durch eine solche Zusammensetzung der ersten Kammer eine gewisse Beschränkung der zweiten beabsichtigt, welche dann nur aus gewählten Abgeordneten besteht, bei denen man im Allgemeinen eine größere Hinneigung zur Bewegung im Staatsleben voraussetzt, wogegen jedoch ein zweckmäßiges, die Wahl der einsichtsvollsten und besten Staatsbürger sicherndes Wahlgesetz (s.d.) die beste Bürgschaft liefert, während eine im obigen Sinne zusammengesetzte erste Kammer das größte Hinderniß der ständischen Wirksamkeit werden kann, wenn sie die Foderungen des gemeinen Besten verkennt. Die Rechte dieser versammelten Abgeordneten werden in den Landesverfassungen näher bestimmt und sind von sehr verschiedenem Umfange. Im Allgemeinen bestehen sie: in einer gewissen Theilnahme an der Gesetzgebung, die sich entweder auf eine blos berathende Stimme beschränkt oder ihre Zustimmung zur Gültigkeit eines Gesetzes unumgänglich erfoderlich macht; theils haben sie das Recht, die Regierung um Vorlage eines bestimmten Gesetzes zu bitten, theils können sie selbst einen Gesetzentwurf zur Annahme vorlegen, welches letztere Recht, die sogenannte Initiative, ihnen wieder zugleich mit der Regierung oder allein zustehen kann, wo dann die Regierung blos berechtigt ist, die Annahme des Gesetzes zu verweigern oder ein veto einzulegen, dabei aber noch dahin beschränkt sein kann, daß dies nur zwei- oder dreimal bei demselben Gesetze geschehen darf; in einer gewissen Theilnahme an der Besteuerung, sodaß die Regierung keine Abgaben ohne Zustimmung derselben erheben darf und verpflichtet ist, über die Einnahmen und Ausgaben des Staates den Repräsentanten der Nation Rechnung abzulegen oder ein Budget (s.d.) vorzulegen. Das Recht der Steuerbewilligung beschränkt sich oft nur auf die Vertheilung der von der Regierung gefoderten Postulate oder Steuern auf die Steuerpflichtigen, ist aber auf der andern Seite auch mitunter so weit ausgedehnt, daß sowol einzelne Foderungen nicht zugestanden als auch das ganze Budget verworfen werden kann. Den Kammern steht ferner eine gewisse Oberaufsicht über die Verwaltung und die Beamten des Staats zu, und sie haben daher das Recht, die Regierung auf Mängel in der Staatsverwaltung aufmerksam zu machen, Vorschläge zu ihrer Abstellung zu thun und über vorgekommene Pflichtwidrigkeiten der Beamten Beschwerde zu führen, welche in constitutionnellen Staaten den Volksvertretern der Nation verantwortlich sind und von denselben in Anklagestand versetzt werden können, was jedoch in den meisten Verfassungen auf die Minister oder Vorstände der einzelnen Verwaltungszweige beschränkt ist, welche deshalb alle aus ihrem Departement erlassenen Befehle zu contrasigniren, d.h. mit zu unterzeichnen haben. Dagegen ist die Person des constitutionnellen Regenten heilig und unverletzlich und über alle Verantwortlichkeit erhaben. Haben die Kammern ihre Arbeiten vollendet, so entläßt sie der Regent, meist steht ihm aber auch das Recht zu, ihre Versammlung willkürlich zu vertagen, d.h. auf einige Zeit zu entlassen, oder aufzulösen, d.h. ihre Wirksamkeit vor der im Gesetz bestimmten Zeit ganz zu beendigen, in welchem letztern Falle eine neue Wahl der nicht beständigen Kammermitglieder erfoderlich wird. Dergleichen Auflösungen erfolgen, wenn die Regierung sich mit den gewählten Abgeordneten über in Frage stehende Maßregeln nicht vereinigen kann und sind wie Befragungen der Wähler zu betrachten, welche durch Wiedererwählung entlassener Kammermitglieder zu erkennen geben würden, daß sie die Überzeugung derselben theilen. Hierbei wird aber die Oeffentlichkeit der Kammersitzungen und die Bekanntmachung ihrer Verhandlungen durch den Druck vorausgesetzt, denn nur dadurch ist das Volk im Stande, über die von ihm gewählten Vertreter richtig zu urtheilen und darnach seine künftigen Wahlen einzurichten, und nur auf diese Weise kann ein wohlthätiges Vertrauen zwischen dem Volke und seinen Vertretern erhalten werden. In Deutschland scheint dieser Öffentlichkeit kein Hinderniß entgegenzustehen, sobald die darüber in der Schlußacte der wiener Ministerialconferenzen von 1820 aufgestellte Bedingung: »daß dabei durch die Geschäftsordnung dafür gesorgt werden müsse, daß die gesetzlichen[463] Grenzen der freien Äußerung weder bei den Verhandlungen noch bei der Bekanntmachung derselben durch den Druck, auf eine die Ruhe des einzelnen Bundesstaats oder des gesammten Deutschlands gefährdende Weise überschritten werde«, erfüllt wird.

Außer diesen Bestimmungen gehören zu den eigentlichen staatsrechtlichen Vorbedingungen jeder neuen Verfassung: die Freiheit der Person und des Eigenthums mit Aufhörung jeder Art von Hörigkeit und Frohnen, durch angemessene Ablösung der letztern; die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz, sowie daß Niemand seinem ordentlichen Richter entzogen und mit Hintansetzung der in den Gesetzen bestimmten Form verhaftet, verfolgt und bestraft werden kann; gleiche Berechtigung aller Staatsbürger zu allen Graden des Staatsdienstes und zu allen Bezeichnungen des Verdienstes, sowie gleiche Besteuerung Aller nach Entschädigung der bisher Begünstigten und gleiche Verpflichtung zu allen für Erhaltung und Fortbildung des Staats nothwendigen Leistungen; gleiche Rechte für alle religiösen Bekenntnisse und ihre Anhänger; Freiheit der Rede und der Schrift, jedoch nach den Regeln eines Preßgesetzes, welches den Begriff von Preßvergehungen in Beziehung zum In- und Auslande, sowie in privatrechtlicher Hinsicht, ferner die Form des gerichtlichen Verfahrens und die angedrohte Strafe und endlich die Fälle festsetzt, wo Censur vielleicht fortbestehen soll, was namentlich in den Verfassungen der Staaten des deutschen Bundes von Belang ist, wie sie denn überhaupt nichts enthalten können, was den Grundgesetzen des deutschen Bundes zuwiderliefe. Auch dürfen Bestimmungen über die Erbfolge des regierenden Hauses, für den Fall der Minderjährigkeit des Regenten, über die Unveräußerlichkeit des Staatsgebietes nicht fehlen, und daneben die Einführung zweckmäßiger Kreis-, Städte- und Gemeindeordnungen nicht unterbleiben.

Auf die Bestimmungen der verschiedenen Verfassungen ist der Ursprung derselben nicht ohne Einfluß geblieben. Es sind dieselben nämlich theils octroirte, d.h. vom Souverain eines Volkes aus eigner Entschließung verliehene, wie die bairische und badische, und enthalten dann in der Regel die wenigsten Beschränkungen der Regentenmacht; theils ohne Antheil des Regenten von Nationalversammlungen berathene und beschlossene, wie die Verfassung der span. Cortes (s.d.), die gewöhnlich die größtmögliche Beschränkung der Regentenrechte aufstellen; theils pactirte oder auf dem Wege des Vertrags zwischen Regenten und Abgeordneten des Volkes zu Stande gebrachte, nachdem sich beide Theile über die mit dem vom Regenten vorgelegten Entwurfe des neuen Staatsgrundgesetzes etwa vorzunehmenden Veränderungen geeinigt haben. In diesen Verfassungen waltet gewöhnlich das verständigste Ebenmaß der Regenten-und Volksrechte und als Ergebniß gemeinsamer Bestrebungen werden sie von beiden Theilen auch mit gleicher Liebe gepflegt. In Bezug auf die oben schon angedeutete, in der Berufungsart der Abgeordneten gegründete Verschiedenheit der Verfassungen sind die ständischen die ältesten, stehen aber, da nach ihnen die Abgeordneten nur als Vertreter des Interesse einzelner Stände zu betrachten sind, den repräsentativen Verfassungen weit nach, welche die Wahrnehmung des allgemeinen Landesinteresse fodern, sich aber nicht ohne Schwierigkeit und Rechtskränkung in den Staaten einführen lassen, welche bereits ältere ständische Verfassungen haben, daher man auch in den meisten deutschen Ländern zu einer Verschmelzung des ständischen und des Repräsentativsystems seine Zuflucht genommen hat.

In der Mehrzahl der europ. Reiche, namentlich der german. Ursprungs, bestanden seit dem Mittelalter Versammlungen von Reichs- und Landständen, theils durch Herkommen, theils in Übereinstimmung mit gewissen Grundgesetzen, die jedoch keineswegs erschöpfende und die Gesammtheit der Staatsrechtsverhältnisse umfassende Bestimmungen enthielten. So besaß auch das 1806 erloschene deutsche Reich in der goldenen Bulle von 1356, dem ewigen Landfrieden von 1495, der kais. Wahlcapitulation, dem passauer Vertrage von 1552, dem augsburg. Religionsfrieden, dem westfäl. Frieden, dem luneviller Frieden, dem Reichsdeputationshauptschlusse von 1803 seine Hauptgrundgesetze, die aber doch kein zusammenhängendes Ganzes ausmachten. Ebenso beruht die als Vorbild gepriesene brit. Verfassung auf mehren Grundgesetzen, von denen die Magna charta von 1215 das älteste, die Reformbill von 1832 das neueste ist; die erste schriftliche Constitutions- und Verfassungsurkunde in jetziger Bedeutung ist jedoch amerik. Ursprungs, und die, welche vom Congresse zu Philadelphia 1787 entworfen und 1789 von den 13 Vereinigten Staaten von Nordamerika angenommen worden ist. In Europa stellte Polen in seiner berühmten Constitution vom 3. Mai 1791 die erste Urkunde der Art auf; das stürmisch bewegte Frankreich that dasselbe am 3. Sept. desselben Jahres und hat bis auf die neueste Zeit die Reihe aller constitutionnellen Formen durchlaufen, sowie denselben durch seinen Einfluß in den Niederlanden, in Italien, der Schweiz und Deutschland theils vorübergehenden, theils dauernden Eingang verschafft. Norwegen und Schweden besitzen ebenfalls ihre sehr eigenthümlichen Verfassungen, Portugal und Spanien haben sich neuerdings derselben zu erfreuen und die des jungen Königreichs Belgien zeichnet sich durch die geringe Beschränkung der Volksfreiheit aus. Für Deutschland wurden seit 1815 die deutsche Bundesacte und die wiener Schlußacte neue Staatsgrundgesetze, allein obgleich die erstere erklärt, daß in allen Bundesstaaten eine landesständische Verfassung stattfinden werde, ist das doch noch nicht überall in Erfüllung gegangen. Es bestehen dermalen in den Staaten des deutschen Bundes in den dazu gehörigen Provinzen des Erzherzogthums Östreich, Königreichs Böhmen, in Mähren und Tirol, desgleichen in den Großherzogthümern Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Strelitz noch die ältern Stände und in Preußen ist der 1815 verheißenen allgemeinen Reichsverfassung seit 1823 die Einrichtung von Provinzialständen vorausgegangen, welche 1834 auch in Holstein erfolgte. Mehr oder weniger vollkommene Verfassungsurkunden besitzen endlich: das Herzogthum Nassau seit 1814; das Großherzogthum Luxemburg als Theil des Königreichs der Niederlande seit 1815; die Fürstenthümer Schwarzburg-Rudolstadt, Schaumburg-Lippe, Waldeck und das Großherzogthum Weimar seit 1816; das Königreich Baiern, das Großherzogthum Baden und das Fürstenthum Liechtenstein seit 1818; das Königreich Würtemberg seit 1819; das Großherzogthum Hessen seit 1820; das Herzogthum Sachsen-Koburg seit 1821; das Herzogthum Sachsen-Meiningen seit 1829; das Herzogthum Sachsen-Altenburg, das Königreich Sachsen und das Kurfürstenthum Hessen seit 1831; [464] das Herzogthum Braunschweig seit 1832; das Königreich Hanover und das Fürstenthum Hohenzollern-Sigmaringen seit 1833.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 462-465.
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