Ruhr

[766] Ruhr (die) ist eine meist in großer Verbreitung (d.h. epidemisch), seltener vereinzelt vorkommende Krankheit, die in einem katarrhalischen, rheumatischen Erkranken der dicken Därme ihren Grund hat, mit ungewöhnlich häufigem Drange zum Stuhl, wobei aber entweder Nichts oder doch nur wenig schleimige oder blutige Flüssigkeit ausgeleert wird, mit heftigen reißenden Schmerzen im Unterleibe, Stuhlzwang und Hervorpressen des Afters, Schmerzen beim Urinlassen, großem Durst, Fieber und auffallender Veränderlichkeit des Pulses verbunden ist. Die Krankheit befällt meist plötzlich, seltener nach Vorausgang von Krankheitserscheinungen, die ihr Herannahen befürchten lassen. Dergleichen sind dann allerhand Unordnungen in der Verdauung, mit vielem Schleime oder Galle vermischte Darmausleerungen, von Zeit zu Zeit sich einstellende Schmerzen im Unterleibe und eine ungewöhnliche Empfindlichkeit und Reizbarkeit der Haut. Im Beginne der Krankheit ist das Drängen zum Stuhlgange noch weniger ungestüm und häufig, auch gehen mit diesem noch wirklich kothige Stoffe ab, nach und nach nimmt aber dieser nicht nur zu, sondern es wird auch der Drang zur Stuhlausleerung fast anhaltend, und das Ausgeleerte besteht blos in wässerigen, schleimigen, eiterigen oder blutigen Flüssigkeiten, mit denen zuweilen häutige, röhrenförmige Gebilde abgehen; ebenso steigern sich die Leibschmerzen fast bis zur Unerträglichkeit, und die Unruhe, Hinfälligkeit und Mattigkeit wird immer größer. Ist das Entleerte mit Blut gemischt oder reines Blut, so wird die Krankheit rothe Ruhr, ist es schleimig, weißlich oder grünlich, weiße, und wird gar nichts ausgeleert, trockene Ruhr genannt. Wendet sich die Krankheit zum Bessern, so mindern sich nach 4, 7 oder 14 Tagen der Drang zum Stuhlgange und der damit verbundene Stuhlzwang, die Ausleerungen werden wieder kothig, das Fieber läßt nach und entscheidet sich durch kritischen Schweiß und Urin. Aber lange dauert auch im glücklichen Falle die Zeit der Wiedergenesung, indem die Kranken immer noch mit schwacher Verdauung, Neigung zu Durchfall, oder im Gegentheil mit Stuhlverstopfung zu kämpfen haben. Häufig führt die Ruhr aber auch zum Tode, und zwar entweder schnell auf der Höhe der Krankheit durch Entzündung und Brand der Gedärme, durch die Bösartigkeit des Fiebers, wenn es, wie nicht selten, einen nervösen oder fauligen Charakter annimmt, durch gänzliche Erschöpfung der Lebenskraft, oder aber langsamer, indem sie zur Vereiterung, Verengerung oder Durchbohrung der Gedärme Veranlassung gibt, in langwierige Durchfälle, Magenruhr übergeht, oder schwere Leberleiden, Wassersucht u. dgl. nach sich zieht. Über den glücklichen oder unglücklichen Ausgang derselben entscheiden hauptsächlich der Charakter der jedesmaligen Epidemie und die Außenverhältnisse, insofern grade bei dieser Krankheit sehr viel darauf ankommt, daß der Kranke die nöthige Abwartung und Pflege hat. Verwandelt sich die Ruhr in wahre Gedärmeentzündung, wobei fast gar nichts mehr ausgeleert wird, oder nimmt sie einen nervösen oder fauligen Charakter an, der sich durch Eingenommenheit des Kopfs, auffallend rasches Sinken der Kräfte und aashaft riechende, ohne Bewußtsein abgehende Darmausleerungen zu erkennen gibt, so steht es schlimm um den Kranken. Dasselbe ist der Fall, wenn sich eine Menge Ruhrkranker beisammen befinden, wie dies z.B. im Kriege, in Spitälern leicht geschehen kann, wo es dann nur zu oft an der erfoderlichen Reinlichkeit gebricht und die Luft bald verpestet wird. Unter solchen Umständen kann die Krankheit zu einer mörderischen Seuche werden, was die neuere Kriegsgeschichte aufs Neue hinreichend bestätigt hat. Epidemische Einflüsse, die uns freilich ihrer Natur nach nicht genauer bekannt sind, häufiger Wechsel in der Temperatur der Atmosphäre (heiße Tage, kühle Abende und Nächte) und die davon abhängigen Erkältungen, der Genuß unreifen Obstes, schlechter Biere u.s.w. tragen in der Regel die meiste Schuld an der Entwickelung der Krankheit, daher ihr auch diejenigen Menschenclassen, welche sich am häufigsten dem Wechsel der Wärme und Kälte, dem Durchnäßtwerden und allerhand Strapazen aussetzen müssen und dabei oft ganz unzweckmäßige Speisen und Getränke genießen, wie die Soldaten und Landleute, am meisten unterworfen sind.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 766.
Lizenz:
Faksimiles:
Kategorien: