Verdacht

[573] Verdacht im criminalrechtlichen Sinne nennt man die Wahrscheinlichkeit, daß Jemand der Urheber eines Verbrechens sei. Die Gründe, auf welche sich dieser Verdacht stützt, sind mehr oder minder stark und bestehen oft in bloßen Vermuthungen, welche aus Umständen und Handlungen hergeleitet werden, die möglicherweise im Zusammenhange mit dem Verbrechen stehen, oft aber in sogenannten Indicien oder Anzeigen, d.h. Thatsachen, welche einem wirklichen Zusammenhange mit der strafbaren Handlung sich befinden. Die Wirkung dieser Anzeigen ist eine ganz andere als die der bloßen Vermuthungen; der Richter kann hier Denjenigen, welchen eine solche Anzeige trifft, in Untersuchung ziehen, verhören und ihn auffodern, sich über seinen Zusammenhang mit der verbrecherischen That zu rechtfertigen. Alle Vermuthungen und Anzeigen beruhen auf dem Gesetze des Causalzusammenhangs der Dinge und dem Wechselverhältniß zwischen Ursache und Wirkung, ferner auf dem Gesetze, nach welchem das Bedingte im Verhältniß steht zu seiner Bedingung (der Aufenthalt am Orte des Verbrechens ist Bedingung zur Begehung desselben) und endlich auf dem Gesetze, nach welchem die Prädicate einer Sache im Zusammenhange mit ihr selbst stehen. Wir fällen oft schon im gemeinen Leben über einen Menschen, der etwas begangen haben soll, das Urtheil, daß sich solches ihm zutrauen lasse, ebenso der Richter im peinlichen Processe. Diese Möglichkeit des Zutrauens stützt sich entweder auf moralische und psychologische Erscheinungen und daraus abgeleitete Grundsätze, oder auf die physischen Verhältnisse einer Person zur That. Die vorzüglichsten Vermuthungen, welche im Criminalrecht vorkommen, gründen sich: 1) auf die Erfahrung, daß, wenn Jemand eine gewisse Neigung zu etwas zeigt, er leicht und oft Das wiederholen werde, wozu die Neigung ihn treibt. Daraus fließt die Vermuthung, daß wir Dem, welcher schlechten Lebenswandel führt und öfters schon Verbrechen beging, die Begehung von neuen Verbrechen zutrauen. 2) Auf die Erfahrung, daß Der, welcher mit schlechten Menschen viel umgeht, selbst schlecht ist oder wird. 3) Wer Verbrechen billigen kann oder vorher den Wunsch äußerte, daß ein solches begangen werde (z.B. A. todtgeschlagen werden möchte), ist verdächtig, sobald solches nachher wirklich geschah. 4) Wer die meiste Gelegenheit zur Begehung des Verbrechens hatte, dem ist dasselbe am ersten zuzutrauen, daher Derjenige, welcher in einem Hause, wo gestohlen und gemordet wurde, allein unversehrt blieb, oder zuerst Eingang hatte, oder sich da befand, wohin ein Anderer unter den bestimmten Umständen nicht kommen konnte, verdächtig wird. 5) Wer die nöthigen Bedingungen zur Begehung eines bestimmten, unter gewissen Umständen begangenen Verbrechens besitzt, dem kann die That auch leichter zugetraut werden, daher wird man im Zweifel den Stärkern eher für den Mörder halten, als den Schwächern; wer die nöthigen Instrumente, z.B. Brechstangen, Stempel zum Münzprägen, besitzt, wird leichter des Diebstahls oder der Falschmünzerei verdächtig; wer allein den Aufbewahrungsort einer Sache kennt, wird des Diebstahls zuerst beschuldigt werden können, wenn solche gestohlen ist. 6) Wer das meiste Interesse an der Begehung der That hatte, bei welchem die meisten und die dringendsten Motive dazu sich fanden, ist auch am ersten der That verdächtig. 7) Wer öfters Drohungen gegen Jemanden äußert, von dem ist leicht zu vermuthen, daß er sie auch wahrmachen werde. Bei allen diesen Vermuthungen bleibt immer nur Möglichkeit; es fehlt an Grund, Den zu verhören oder in Untersuchung zu ziehen, gegen welchen blos eine solche Vermuthung vorliegt; so wird der Richter nie blos deshalb, weil Jemand einen Erschlagenen haßte, ihn in Untersuchung ziehen und seinen Daß als Verdachtsgrund vorhalten dürfen. Anders ist es bei den Anzeigen oder Indicien. Sie berechtigen nicht nur den Richter zur Vernehmung des Verdächtigen und zur Einleitung einer Untersuchung, sondern es kann sogar nach neuern Gesetzen allein auf dieselben der Beweis der Schuld (der sogenannte Indicienbeweis) gebaut werden. Man hat die Indicien eingetheilt in nahe und entfernte, je nachdem der Verdacht mehr oder weniger dringend ist, in allgemeine und besondere, je nachdem sie bei allen Arten, oder nur bei einem einzelnen Verbrechen vorkommen können, in Anzeigen der That, des Thäters oder Beider, je nachdem sich aus ihnen blos Schlüsse auf die Begehung des Verbrechens, auf den Verbrecher oder auf Beides zugleich ziehen lassen; in unmittelbare und mittelbare, je nachdem aus ihnen direct auf das begangene Verbrechen geschlossen werden kann oder nur indirect auf einen Nebenumstand; endlich in gesetzliche oder natürliche, je nachdem sie bereits in den Gesetzen ausdrücklich als Verdachtsgründe aufgeführt sind, oder sich blos aus der Natur der Sache herleiten lassen. Die sogenannten gesetzlichen Indicien sind indeß nur beispielsweise genannt, da eine vollständige Aufzählung der Anzeigen, bei der Verschiedenheit der Umstände, unter welchen ein Verbrechen begangen werden kann, unmöglich ist. Die Stärke oder Schwäche der Indicien hängt ab: 1) Von ihrer Zahl, je mehr indicirende Thatumstände zusammentreffen, desto stärker der Verdacht. 2) Von ihrer Beschaffenheit an und für sich, je näher der indicirende Thatumstand mit der Schlußfolgerung zusammenhängt, je kürzer also die Schlußfolge ist, durch welche der Verdacht begründet wird, je genauer nach der Erfahrung das Indicium mit dem Verbrecher oder dem Verbrechen verbunden ist, desto dringender ist der Verdacht. 3) Von den Verhältniß derselben zu andern und namentlich zu den sogenannten Gegenindicien. In Beziehung auf andere concurrirende Indicien gilt die Regel, je mehr sie einander unterstützen, desto stärker sind sie. Unter Gegenindicien versteht man Thatumstände, welche für das Gegentheil Dessen sprechen, was aus dem Indicium gefolgert werden kann. Sie können doppelter Art sein: a) Directe Gründe der [573] Vermuthung des Gegentheils Dessen, was aus den Anzeigen geschlossen worden ist (contradictorische Gegenindicien). Sie bestehen in erwiesenen oder wahrscheinlichen Thatsachen, welche auf das Gegentheil schließen lassen. b) Indirecte Gründe, d.i. solche, welche die Möglichkeit des entgegengesetzten Schlusses begründen, es also unmöglich machen, ausschließend und nothwendig von der gegebenen Thatsache auf das Verbrechen oder den Urheber zu schließen (contraire Gegenindicien). So können z.B. die mit Blut befleckten Kleider eine andere Ursache als den Mord haben, so läßt sich der Besitz der gestohlenen Sachen auch aus dem Ankauf und andern Gründen erklären, so kann die anscheinende Flucht auch aus der Furcht vor schuldlosem Gefängniß, aus plötzlichen Geschäften u.s.w. entstehen. Das Verhältniß der Indicien zu den Gegenindicien begründet zwei Hauptstufen des Verdachts. Ein dringender Verdacht ist vorhanden, wenn in den Indicien mehr Grund für die aus ihnen abgeleiteten Thatsachen enthalten ist, als in den Gegenindicien für das Gegentheil. Ein entfernter Verdacht, wenn sich Gründe und Gegengründe gleich sind, wenn also dem Indicium ein gleiches contradictorisches Gegenindicium entgegensteht, oder nicht mehr Gründe da sind, um aus der gegebenen Thatsache auf das Verbrechen, als auf das Gegentheil zu schließen. Die Stärke der Indicien hängt endlich 4) auch von dem Beweise derselben ab. Nur ein vollständig bewiesener Thatumstand kann den daraus fließenden Grad von Verdacht begründen, bei unvollständigem Beweise sinkt der Verdacht um so viel, als an dem vollen Beweise mangelt. Ein Indicium verliert aber alle Kraft, wenn eine Thatsache erwiesen ist, aus welcher die Unmöglichkeit der Begehung des Verbrechens durch die verdächtige Person erkannt wird, wenn die Gegengründe das Indicium vollkommen überwiegen, wenn die Unwahrheit der verdächtigenden Thatsache selbst erwiesen ist und wenn unter verschiedenen Indicien das eine dem andern logisch widerspricht, in welchem Falle sie sich wechselseitig zerstören.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 573-574.
Lizenz:
Faksimiles:
573 | 574
Kategorien: