[471] Göthe, Johann Wolfgang von. Hoch über alle Erscheinungen irgend einer Literaturgeschichte hinaus ragt der Geist, den die Welt den Einzigen nennen sollte, da sie den Namen des Großen an so Viele verschwendet hat, der Genius, dessen Sonnenflug alle Felder geistiger Thätigkeit überschwebte und in allen gleich Vollendetes leistete. Auf den Höhen des Lebens, der beglücktesten Sterblichen Einer, über Zeit und Geschichte erhaben, weilte er unter uns, ein ewiger Jüngling, auf dem der Segen der Muse ruhte, an dem die Bewunderung der Mitwelt ihren herrlichsten Gegenstand fand. Sein Talent war ein rein bildendes, plastisch formendes, seine Natur hatte die Vollendung der Antike mit der Reflexion der lebendigen Schönheit in sich vereinigt; sie verklärte alles Wahre zum Schönen und jenes Talent, selbst im Unscheinbaren den Zauber der Darstellung schimmern zu lassen, ging auf Leben und Kunst über. Daher die unglaubliche Wirksamkeit seiner Romane auf den gesellschaftlichen Zustand Deutschlands, indeß seine Dramen den Sinn einer künstlerisch klarsten Ausprägung des innern Stoffs in der äußern Form erweckten. Durch alle seine Perioden aber zieht sich, wie ein Silberfaden die Lyrik, worin sein Name der unzerstörbare Typus geworden ist, während die Lieder selbst, die blühenden, unvergeßlichen, in Aller Mund und Herzen leben. Johann Wolfgang von Göthe, in Frankfurt am Main den 28. August 1749 geboren, im väterlichen Hause unter Puppen und Mährchen reichsbürgerlich erzogen, als Knabe schon ein abgeschlossenes, träumerisches Leben führend, mit Klopstock und Corneille beschäftigt, im 15. Jahre von stürmischer Liebe bedrängt, geht 1765 nach Leipzig und schreibt und dichtet bei einem muntern, rasch wechselnden Leben, ohne Regel, von der französischen Steifheit angewidert, von der Erhabenheit Shakespeare's durchdrungen. Oeser's Zeichnenstunden bringen ihn auf ein andres, auf das Feld der Kunst und ihrer Interessen; nebenbei führt ihn eine frömmelnde Richtung seiner Umgebungen in Frankfurt auf die Studien der [471] Chemie und Alchemie, bis Herder ein frisches Leben in ihm aufregt. Mit Allgewalt hat sich ihm jetzt das unermeßliche Reich, was Alles Poesie sein könne, in einem Sonnenblick geöffnet und er fühlt sich in dem ewigen Raume, Alles auf einmal arbeitet an der Befreiung seines Wesens, weit in den Hintergrund gegen das rein Poetische tritt das Speculative, das Herz geht ihm auf, dem ewigen Frühroth entgegen klopfend, und wie milder Regen fällt der Verkehr mit Friederiken in Sesenheim in jene Zeit, welche seine schönsten, duftigsten Lieder entstehen sieht. Da spricht er zum ersten Male zu des Vaterlands Schwächen und Wünschen durch den »Götz;« wie ein Donner lenkt der ihm die Geister zu, wie ein Blitz entzündet die Herzen »Werther,« aus eigener Liebe zu Lotten, der Verlobten eines Freundes, hervorgegangen. Ein herrliches Bruchstück, der Plan und die Hymne »Mahomed« entsteht, zugleich tritt an's Licht »Clavigo.« Vom Erbprinzen von Weimar eingeladen, geht Göthe 1775 nach Weimar und beendigt hier mit der wunderbaren »Stella« den ersten Abschnitt seiner Thätigkeit. Dem zweiten, mit der italischen Reise begonnen, gehören die lichten Sterne »Egmont,« »Iphigenia,« »Tasso« an, Italien öffnet ihm das Auge über die Höhen der Kunst, die Idealität gewinnt das Uebergewicht über das Natürlichkeitsprinzip und aus der gewaltigen Verschmelzung aller Kräfte und Wirkungen beginnt das größte dramatische Gedicht, der himmelstürmende Riese »Faust,« jener ewige Prototyp aller Menschennatur und ihres Kampfes gegen Welt und Gottheit, die Geister zu erschüttern. Aus der Schweiz und Italien zum zweiten Male zurückkehrend, bereitet Göthe die Farbenlehre vor und vollendet »Wilhelm Meister's Lehrjahre.« Es ist die Zeit des lebhaften Verkehrs mit Schiller und aus dem Wetteifer mit diesem entspringen die schönsten göthe'schen Balladen. Mit den »Xenien« und den dunkelglühenden »Elegien« in Roma's warmen Nächten erzeugt, schließt die zweite, die Periode der Schönheit, aus welcher in die neue »Hermann und Dorothea,«[472] das den Stempel der Idealität am Reinsten ausprägt, gleich einem homerischen Nachhall mit seiner schönen Wahrheit herüberklingt. Der höchste Ausdruck aus Göthe's eleganter Epoche, die reinste Form, aber ohne Blut und Leben ist »die natürliche Tochter,« der erste Theil einer unvollendet gebliebenen Trilogie. Der große Dichter war inzwischen zum Minister erhoben, und mit Beweisen der allgemeinsten Anerkennung von Europa reich geschmückt und erfreut worden, als über Weimar das unheilvolle Jahr 1806 hereinbrach; Göthe verheirathete sich um dieselbe Zeit, flüchtete aber aus der durchgängigen Aufregung aller Zustande an den Busen der Natur, gab die tiefdurchforschte »Farbenlehre« und in den »Wahlverwandtschaften« jenes wunderbare Geheimniß magnetischer Beziehung. In »Wahrheit und Dichtung« sehen wir das erfreulichste Ergebniß einer ruhenden Kraft, die ihr eignes Leben noch einmal überblickt und genießt. Der Naturbetrachtung, den bildenden Künsten, vornehmlich der Schauspielkunst, waren die nachfolgenden Jahre geweiht, aus denen er mit »Wilhelm Meister's Wanderjahren« und dem »Westöstlichen Divan« in seine vierte Periode trat. Die so wenig verstandenen Lieder des Divans sind als die Frucht einer in völligster Abgeschlossenheit mit dem Leben erlangten ungetrübten Befriedigung anzusehen; einzeln und isolirt hatte sich sein Treiben, Denken und Empfinden zu jener heitern Seelenklarheit geläutert, die ihn weit über die Interessen der Gegenwart erheben durfte; seine ruhig forschende und betrachtende Sinn- und Denkweise hatte in eine Zeit herüber gereicht, in welcher die That überwiegend zu werden begann, und so hat er die letzten Jahre unter uns geweilt, wie eine Erscheinung, wie ein Gott, ohne irdische Elemente. Dieses Mißverhältniß mit der Zeit, die Nachtheile, die ihm die übertriebene Anbetung einer unfruchtbaren Partei dringen mußte, ließen ihn unberührt, den glücklichsten Greis mit der Jupitergestalt, den nur ein entsetzlicher Schlag, der Tod des einzigen Sohnes. erschüttern konnte. Wie im letzten[473] Aufblick des himmlischen Genius, lodert in ihm noch Einmal die Flamme der Poesie empor, mit heiliger Begeisterung schließt er den zweiten Theil des »Faust« und erwartet, gleich einem griechischen Weisen, den letzten Freund. Ein lächelnder Engel in Gestalt des erquicklichen Schlafs erschien er ihm am 22. März 1832 an einem sonnigen Frühlingsmittage, und wie sein ganzes Leben es gewesen, so war auch die Auflösung nach einer großartig durchlebten, beispiellos allseitig genossenen Thätigkeit des Daseins, die glücklichste. Das vortrefflichste Werk zur Verständigung göthe'scher Denk- und Handlungsweise ist Johannes Falk's (s. d.) »Göthe aus persönlichem Umgange.« Als eine Schrift, die im letzten Jahre in dem gebildeten Deutschland das entschiedenste Aufsehen erregt hat, ist zu erwähnen der »Briefwechsel Göthe's mit einem Kinde« von Bettina Brentano, der Witwe Achim von Arnim's und Schwester des Dichters Klemens Brentano; in Frankfurt geboren, mit Göthe's Mutter in Verbindung, entzündete sich in dem reichen, empfänglichen Gemüthe des lebhaften, geistvollen Mädchens jene zärtliche Anbetung für den herrlichen Dichter, welche den Briefwechsel, in dem Göthe seine innersten Tiefen dem liebenswürdigen Kinde aufschloß, hervorrief.
T.