Materialismus

[625] Materialismus ist (theoretisch) die Lehre, daß das wahrhaft Reale in der Natur (kosmologischer Materialismus) wie im Geistigen, Seelischen (psychologischer Materialismus) die Materie (s. d.) oder das Körperliche, Physische (s. d.) sei. Nach dem kosmologischen Materialismus ist alles Wirkliche körperlich, alles Geschehen im Grunde mechanischer Art, Bewegung der Körper und Atome (s. d.). Der psychologische Materialismus tritt in verschiedenen Formen auf: 1) Der Geist ist selbst eine bestimmte Materie (Atom, Gehirn); 2) das Geistige ist Product, Ausscheidung der Materie, des Körpers; 3) das Geistige ist Function (s. d.) der Materie; des Gehirns; 4) das Psychische ist ein (der Bewegung coordinierter, aber von ihr causal abhängiger) Zustand der Materie (»psychophysischer Materialismus«). Der ethische Materialismus setzt den Lebenszweck in Genuß, Sinnlichkeit, Nutzen, kennt keine eigentlichen Ideale. Der geschichtliche (sociologische) Materialismus betrachtet alle geistigen Culturprocesse als Reflexe, Wirkungen von wirtschaftlichen Veränderungen (s. Sociologie). – Von dem dogmatischen, metaphysischen Materialismus ist der kritische, empirische, phänomenologische Materialismus zu unterscheiden, der zwar wissenschaftlich alles Natur-Geschehen auf materielle Processe bezieht, im Materiellen selbst aber nur eine Erscheinung erblickt. Der heuristische Materialismus endlich ist nichts als die consequente Durchführung der mechanistisch-energetischen Naturbetrachtung.

»Materialist« kommt schon bei R. BOYLE vor. BERKELEY versteht unter einem Materialisten jeden, der überhaupt die Existenz einer Materie (s. d.) annimmt (Princ. LXXIV). CHR. WOLF bestimmt: »Materialistae dicuntur philosophi, qui tantummodo entia materialia sive corpora existere affirmant« (Psychol. rational. § 33). BAUMGARTEN erklärt: »Qui negat existentium monadum, est materialista universalis. Qui negat existentiam monadam universi, e. g. huius, partium est materialista cosmologicus« (Met. § 395).

Der griechische Hylozoismus (s. d.) ist organischer, den Stoff als beseelt betrachtender Materialismus. Die Atomistik (s. d.) bestimmt alles Geschehen als Bewegung (s. d.) von Atomen (s. d.); die Seele (s. d.) besteht aus feinsten Atomen. Von den Peripatetikern (s. d.) nähert sich STRATO dem Materialismus (s. Seele). Die Stoiker lehren einen organischen Materialismus. indem Ihnen der Weltstoff, das Pneuma (s. d.) zugleich als vernünftige Urkraft gilt. Alles Wirkliche ist körperlich: pan gar to poioun sôma esti (Diog. L. VII 1, 56); onta gar mona ta sômata kalousin (Plut., De comm. not. 30; vgl. Plac. I, 11, 4; Cic., Acad. I, 11, 39). Einen mechanischen, atomistischen Materialismus[625] lehren die Epikureer (Diog. L. X, 39). Kath' heauton de ouk esti noêsai to asômaton plên epi tou kenou (l.c. X, 67).

Von den Patristikern (s. d.) halten ARNOBIUS und TERTULLIAN die Seele (s. d.) für materiell. Letzterer erklärt von ihr: »Nihil enim, si non corpus« (De an. 7; Adv. Prax. 7). »Omne quod est, corpus est sui generis; nihil est incorporale, nisi quod non est« (De carne Chr. 11.). Von den Materialisten bemerkt AUGUSTINUS: »Qui opinantur [mentem] esse corpoream, non ob hoc errare [videntur], quod mens desit eorum notitiae, sed quod adiungant ea, sine quibus nullam possunt cogitare naturam. Sine phantasiis enim corporum, quidquid iussi fuerint cogitare, nihil omnino esse arbitrantur« (De trinit. X, 7, 10).

Das epikureische System erneuert GASSENDI, der aber doch die Ursprünglichkeit der Empfindung zugibt. HOBBES betrachtet als Grundlage aller Geschehnisse, auch der psychischen, die Bewegung. Die mechanistische (s. d.) Naturauffassung hat auch DESCARTES, PRIESTLEY identificiert die Empfindung mit dem Nervenproceß (Disquis. I, sct. VII, p. 81 ff.), während HARTLEY sie nur als von der Gehirnbewegung abhängig betrachtet. Im 18. Jahrhundert überhaupt blüht der Materialismus (und Hylozoismus: DIDEROT, ROBINET u. a.). Zum System wird er bei HOLBACH, für den die Welt nichts als ein großer Mechanismus ist; alles Geschehen ist das Spiel von Anziehung und Abstoßung der Atome, im Menschen als Liebe und Haß auftretend und in der Geschichte wirksam. »L'homme est un être purement physique« (Syst. de la nat. I, ch. 1, p. 2). LAMETTRIE betont die Gebundenheit des geistigen Lebens an die leiblichen Zustände (L'homme mach. S. 23 ff.). Der Mensch ist nur eine »Maschine, welche selbst ihr Triebwerk aufzieht« (l.c. S. 25). Die Seele ist nur ein Teil des Gehirns (l.c. S. (;6). Das Denken ist eine Eigenschaft der Materie (l.c. S. 74), deren Wesen allerdings unbekannt ist. – Während LOCKE hypothetisch bemerkt, die Materie könne vielleicht die Eigenschaft des Denkens besitzen, betont HUME die Unvergleichbarkeit von Gedanken und Ausdehnung (Treat. IV, sct. 5). Gegen den Materialismus richtet sich der kritische Idealismus (s. d.) KANTS. Dieser bemerkt: »Wir haben... bewiesen, daß Körper bloße Erscheinungen unseres äußeren Sinnes und nicht Dinge an sich selbst sind. Diesem gemäß können wir mit Recht sagen: daß unser denkendes Subject nicht körperlich sei, das heißt: daß, da es als Gegenstand des innern Sinnes von uns vorgestellt wird, es, insofern als es denkt, kein Gegenstand äußerer Sinne, d. i. keine Erscheinung im Raume sein könne« (Krit. d. r. Vern. S. 304).

Nach CABANIS ist das Denken eine physiologische Function des Gehirns, etwa wie die Absonderung der Galle von der Leber (Rapp. du phys.2, 1805). SCHOPENHAUER nähert sich zuweilen dem (phänomenologischen) Materialismus, indem er den Intellect als »Gehirnphänomen« bestimmt. »Es ist ebenso wahr, daß das Erkennende ein Product der Materie sei, als daß die Materie eine bloße Vorstellung des Erkennenden sei; aber es ist ebenso einseitig. Denn der Materialismus ist die Philosophie des bei seiner Rechnung sich selbst vergessenden Subjects« (W. a. W. u. V. II. Bd., C. IV; vgl. Parerga II, § 76). Nach L. FEUERBACH ist alles Wirkliche körperlich (WW. II, 321). Als Reaction gegen die Schellingschen und Hegelschen Begriffsconstruotionen und gegen die einseitige Betonung des »Geistes« tritt um 1850 ein neuer Materialismus auf. Der »Materialismusstreit« kommt 1854 zum Ausbruch, aus Anlaß eines Vortrages von RUDOLF WAGNER, »Über Menschenschöpfung und Seelensubstanz«, der sich[626] zum Teil gegen C. VOGT wendet. Darauf und auf die Schrift: »Über Wissen und Glauben« (1864) erwidert C. VOGT in: »Köhlerglaube und Wissenschaft« (1854), wo er erklärt, »daß die Gedanken etwa in demselben Verhältnis zum Gehirn stehen, wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren« (vgl. Physiol. Briefe 1847, S. 206). Weitere Ausbildung erfährt der Materialismus durch L. KNAPP (Syst. d. Rechtsphilos.), in anderer Weise durch MOLESCHOTT (Kreislauf d. Leb.5, 1876/85), L. BÜCHER (Kraft und Stoff 1855, 19. A. 1898; Natur u. Geist 1857 u. a.), dessen Begriff des Psychischen (s. d.) ein schwankender ist, D. FR. STRAUSS (Der alte u. d. neue Glaube), MORITZ BERGER (Der Material. im Kampfe mit d. Spiritual. u. Ideal. 1883), J. C. FISCHER (Die Freih. d. menschl. Willens 1871; Das Bewußtsein 1874), F. WOLLNY (Der Materialism. 1888), W. STRECKER (Welt u. Menschh. vom Standp. d. Material. 1891), B. CONTA (Philos. matérialiste I, 1880). Materialist ist eine Zeitlang CZOLBE (Neue Darst. d. Sensual. 1855; Entsteh. d. Selbstbewußts. 1856). E. DÜHRING lehrt eine »Wirklichkeitsphilosophien (s. d.). Es gibt keinen andern Träger für jegliches Wirkliche als die Materie (Körperlichkeit) (Wert d. Leb.3, S. 52). Als methodisch – heuristisches Princip schätzt den Materialismus F. A. LANGE (Geschichte des Material.5). Über und besonders gegen den Materialismus vgl. u. a. ULRICIS Schriften, ferner J. B. MEYER, Zum Streit üb. Leib und Seele 1856, SCHELLWIEN, Krit. d. Material. 1858, K. SNELL, Die Streitfrage d. Material. 1858, M. J. SCHLEIDEN, Üb. d. Mater. in der neueren Naturwiss. 1863, O. FLÜGEL« Der Material. 1865, FR. SCHULTZE, Die Grundged. d. Material. 1881; vgl. Philo(s. d.) Naturwiss. I, 5 ff., E. DREHER, Der Material. 1892, J. BERGMANN, Material. u. Monism. 1882, SCHULER, Der Material. 1891, KRAMAR, Das Problem d. Materie, LELUT, Physiol. de la pensée 1862, P. JANET, Le matérial. contemp. en Allem. 1864, LADD, Philos. of Mind 1895, p. 293 ff. u. a. Vgl. OSTWALD, Überwind. d. wissensch. Material. 1895; L. BUSSE, Geist u. Körp. S. 12 ff.

Den psychophysischen Materialismus vertreten KÜLPE (in der Psychologie, s. Dualismus), ZIEHEN (psychologisch), H. MÜNSTERBERG, R. AVENARIUS, E. MACH, W. HEINRICH, DESPINE, RICHET, HUXLEY, SERGI, RIBOT u. a. Der psychophysische Materialismus betrachtet als Substrat der psychischen Vorgänge das körperliche Individuum; das Psychische ist etwas Eigenartiges, aber es besteht aus Elementen (Empfindungen), die durch Gehirnprocesse zu erklären sind, als »Abhängige« dieser. Dagegen besonders WUNDT. »Der Materialismus beseitigt die Psychologie überhaupt, um an ihre Stelle eine imaginäre Gehirnphysiologie der Zukunft... zu setzen.« Der Materialismus verkennt, daß »der inneren Erfahrung vor der äußern die Priorität zukommt, daß die Obiecte der Außenwelt Vorstellungen sind, die sich nach psychischen Gesetzen in uns entwickelt haben, und daß vor allem der Begriff der Materie ein gänzlich hypothetischer Begriff ist« (Grdz. d. physiol. Psychol. II4, 629). Das Psychische (s. d.) läßt sich nicht als Function des Physischen ansehen (Philos. Stud. XII 14 f., 17, 20, 30 ff.). Vgl. Psychisch, Seele, mechanistische Weltanschauung, Materie, Hedonismus.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 625-627.
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