Biegungselastizität

[2] Biegungselastizität wird die Elastizität (s.d.) gegen Beanspruchungen auf Biegung genannt. Bei Versuchen in dieser Hinsicht pflegen prismatische, beiderseits frei aufliegende Stäbe mit horizontaler Achse durch eine Einzellast P inmitten ihrer Spannweite l belastet zu werden (Fig. 1). Fürs Gleichgewicht solcher einfachen Balken (s.d.) liefert die technische Biegungstheorie unter Voraussetzung gleicher und konstanter, eventuell mittlerer Elastizitätsmoduln E für Zug und Druck und[2] eines konstanten Schubelastizitätsmoduls G die Einsenkung unter P infolge dieser Last:


Biegungselastizität

wonach speziell für rechteckige Stäbe von der Breite b und Höhe h (Querschnitt F = bh, Trägheitsmoment J = bh3/12, Koeffizient der Schub Wirkung k = 6/5, s. Biegung I):


Biegungselastizität

Bei Versuchen in physikalischen Laboratorien hat man auch den einerseits horizontal eingespannten, anderseits frei schwebenden geraden Stab mit einer Last P am freien Ende verwendet (Fig. 2), für den unter Voraussetzung konstanter E, G und absoluter Festspannung (s. Einspannung) die rechnungsmäßige Einsenkung unter P beträgt:


Biegungselastizität

und speziell bei rechteckigem Querschnitte der Dimensionen b, h:

Biegungselastizität

Entsprechende Formeln für andre Fälle enthält die Tabelle Bd. 1, S. 520, 521, über die F, J, k verschiedener Querschnitte s. Biegung I.

Die Gleichungen 1.–4. für die von P herrührenden Einsenkungen, die sich den vom Eigengewicht erzeugten zufügen, gelten auch bei wachsendem P, wenn die Zunahme ganz allmählich, ohne Erzeugung lebendiger Kraft erfolgt. Bei plötzlich mit voller Größe einwirkender Last P würden die Einsenkungen theoretisch zunächst doppelt so groß sein, worauf Schwingungen um die Gleichgewichtslagen 1.–4. stattfänden, die infolge Abgabe lebendiger Kraft nach außen, Umwandlung in Wärme u.s.w. bald erreicht würden. Vgl. [1] A 38, 109, 110, 131–134. Durch Vergleichung obiger Ausdrücke mit Versuchsresultaten können Schlüsse auf darin vorkommende Größen, z.B. auf E bei bekanntem E:G gezogen werden (s. Elastizitätsmodul). Das mit k behaftete Glied in 1.–4. stellt den Einfluß der vertikalen Schubkraft Vx dar. Ohne Rücksicht auf diesen früher vernachlässigten Einfluß (vgl. Biegung I) würde die rechnungsmäßige Einsenkung im zweiten der obigen Fälle gerade 16 mal so groß als im ersten, wogegen das Verhältnis des Beitrags von Vx zu/ zur sonstigen Einsenkung im ersten Falle viermal so groß als im zweiten ist. Bei rechteckigem Querschnitte erhält man mit E:G = 5 : 2 (vgl. Elastizitätsquotient) in 2.:


Biegungselastizität

Die obigen Gleichungen sind nur so lange zuverlässig, als ihre Voraussetzungen genügend gelten, was wohl für elastische Biegungen von Schweißeisen und Flußeisen, nicht aber beispielsweise für Gußeisen zutrifft. Sie ergeben die Einsenkungen f proportional den Belastungen P, wie dies bei Annahme gleicher und konstanter Elastizitätsmoduln für Zug und Druck selbstverständlich ist. Die Grenze, bis zu der genügende Proportionalität zwischen P und f besteht, speziell die entsprechende größte Normalspannung σ = Mx/W (Mx Angriffsmoment, W Widerstandsmoment, s. Biegung I) wird Proportionalitätsgrenze und noch häufig Elastizitätsgrenze für Biegung genannt, wobei jedoch letzterer Ausdruck im Sinne des ersteren aufzufassen ist. Eine Proportionalität zwischen P und f kann auch dann bestehen, wenn die obigen speziellen Beziehungen nicht eintreten, wie sich dies bei Glas bis nahe zum Bruche gezeigt hat [2], S. 10, 22. Die Proportionalitätsgrenze für Biegung braucht für kein Material genau mit derjenigen für absoluten Zug oder Druck zusammenzufallen, Considère fand sie für Eisen und Stahl, Konstruktionsmaterial, um mehr als ein Drittel höher [3], S. 81. Wird die Biegungsbeanspruchung von Flußeisen, Schweißeisen u.s.w. über die Proportionalitätsgrenze getrieben, so gelangt man an eine Stelle, von Tetmajer Bieggrenze genannt, der bei absolutem Zug die Streckgrenze, bei absolutem Druck die Stauchgrenze oder Quetschgrenze entspricht, indem von nun an die Einsenkungen für gleiche Zunahmen von P weit rascher wachsen als zuvor. Siehe z.B. die Diagramme [4] III, Taf. IV, und [5], Taf. XXII und S. 92. Bezeichnen E, p, s, b den Elastizitätsmodul und die aus σ = Mx/W berechnete Proportionalitätsgrenze, Streckgrenze und Fertigkeit für Biegung, Ez, pz, sz, z die entsprechenden Werte für absoluten Zug, so lieferten vergleichende Versuche von Tetmajer mit 15 deutschen Normalprofilen (I-Eisen[3] Nr. 10–24) von Gebr. Stumm in Neunkirchen die Mittelwerte in Kilogramm pro Quadratzentimeter (vgl. [4] III, S. 95, 104, 116, 134, 144, bezüglich E auch [6], S. 100):


Biegungselastizität

Bei Berechnung von E nach 1. ist E:G = 5/2 angenommen, während sich mit 8/3 die Mittelwerte 2030000 und 2149000 ergeben hätten, so daß die Wahl zwischen diesen Grenzen ohne großen Einfluß ist (vgl. Elastizitätsquotient). Die Ez sind Mittelwerte für Flansche und Steg, pz, sz, z beziehen sich auf Flanschenmaterial allein. Als Biegungsfestigkeit b (s.d.) ist diejenige Normalspannung σ in der äußersten Faser unter P angenommen, bei der die Träger infolge Verbiegung ihre Tragfähigkeit verloren, da eine Trennung der Teile nicht zu erreichen war. Mit wachsender Profilhöhe sanken p, s, b bei Schweißeisen von etwa 1700, 2600, 4050 bis 1400, 2150, 3150, bei Flußeisen von 2700, 3500, 4500 bis 2000, 2500, 3500 [4] III, S. 145. Für Schweißeisen I-Profile von de Wendel in Hayingen fand Tetmajer im Mittel pro Quadratzentimeter (vgl. [4] IV, S. 186):

E = 1960000 kg = 0,98 Ez, s = 2230 kg = 0,91 sz,

p = 1570 kg = 0,97 pz, b = 3860 kg = 1,04 z,

und speziell für die Trägerhöhe


h =10152024303440 cm:
s:sz =0,830,910,970,900,980,830,95
b:z =1,101,061,041,011,011,011,04.

Ueber Versuche mit genieteten Blechträgern s. [4] IV, S. 82, 211, 220, und [5], S. 68, 81, 84, 86, 91, 109, vgl. Blechträger.

Um den Einfluß der Zusammensetzung des Materials auf die Elastizitäts- und Festigkeitsverhältnisse an einem Beispiele zu zeigen, lassen wir einige Resultate von Bauschinger mit Ternitzer Bessemerstahl von verschiedenem Kohlenstoffgehalt folgen (vgl. [7] III, S. 8). Die Versuchsstücke waren speziell für die Proben von gleicher Gattierung, aber verschiedenem Spiegeleisenzusatze hergestellt. Die Zugversuche wurden mit Stäben von 7–1,2 cm Querschnitt und 44 cm freier Länge, die Biegungsversuche mit Stäben von l = 100, h = 14, b = 5,5 cm vorgenommen, die Elastizitätsgrenze ist jedoch etwas höher als bei späteren Versuchen Bauschingers (wo sie die Proportionalitätsgrenze bedeutet), etwa in der Mitte zwischen Proportionalitätsgrenze und Streckgrenze angenommen, während für den Elastizitätsmodul dessen Mittelwert bis zu dieser Grenze gesetzt ist. Die Werte für Biegung sind im folgenden absolut und im Verhältnis zu den entsprechenden Zahlen für Zug angegeben. Die angeführten Absolutwerte sind Kilogramm pro Quadratzentimeter. Zwei für Biegung in Klammer gesetzte Zahlen bedeuten keine Bruchspannungen, da die betreffenden Stäbe äußerer Verhältnisse halber nicht zum Bruche kamen.


Biegungselastizität

Während die Elastizitätsgrenze und Festigkeit für Biegung wie in andern Fällen durch Ueberschreiten der Elastizitätsgrenze, mechanische Behandlung, Härten u.s.w. wesentlich beeinflußt werden können [8], ist der Elastizitätsmodul von Schweißeisen und Flußeisen im allgemeinen nur wenig veränderlich. So ergaben die umfassenden Versuche, die der österreichische Ingenieur- und Architektenverein mit zehn genieteten Fachwerk- und Blechträgern aus Flußeisen und Schweißeisen verschiedener österreichischer Werke vornehmen ließ: »Die Biegungselastizität der Träger bleibt während aller Belastungsstufen bis nahe zur Bruchgrenze unverändert erhalten, die elastischen Formänderungen sind auch nach Ueberschreitung der Elastizitäts- bezw. Proportionalitätsgrenze proportional der Belastung.« [5], S. 84, 103. Dabei konnten bleibende Einsenkungen mehrfach schon bei 600 kg pro Quadratzentimeter größter Beanspruchung wahrgenommen werden.

Die Behandlung von Biegungsproblemen auf Grund der allgemeinen Elastizitätstheorie ist häufig in Angriff genommen worden; doch mußten infolge auftretender Schwierigkeiten derartige Beschränkungen oder Vernachlässigungen[4] vorgenommen werden, daß die Resultate entweder ohne praktische Bedeutung waren oder einfacher aus der technischen Biegungstheorie abgeleitet werden konnten. So hat Saint-Venant für prismatische Stäbe von endlichen Querdimensionen ohne Kräfte auf die Mantelfläche bei Vernachlässigung des Eigengewichts diejenigen Kräfte auf die zur Achse senkrechten Endquerschnitte bestimmt, die gewissen im voraus angenommenen verschwindend kleinen Formänderungen entsprechen (s. Saint-Venantsches Problem und [9]). Kirchhoff untersuchte endliche Biegungen prismatischer Stäbe von unendlich kleiner Querhöhe, bei denen unter gewissen Beschränkungen auch Drücke auf die Mantelfläche wirken durften [10]. Am nächsten den Verhältnissen der Praxis kam Pochhammer [11], der sich wie Saint-Venant auf kleine Formänderungen beschränkte, aber bei endlichen und selbst veränderlichen Querdimensionen beliebige Kräfte auf die Mantelfläche zuließ. Indem er die Querdimensionen c als klein gegenüber der Stablänge l annahm, betrachtete er (c/l)n gegen 1 als kleine Größe nter Ordnung, klassifizierte die auftretenden Größen diesen Ordnungen entsprechend, und konnte so je nach der Anzahl berücksichtigter Ordnungen verschiedene Grade der Annäherung erreichen. Hierbei ergab sich, daß die Grundannahme der Navierschen Biegungstheorie (s. Biegung), wonach die Elemente eines vor der Biegung geführten Querschnittes auch nach der Biegung auf einer Ebene senkrecht der Stabachse liegen, in erster Annäherung richtig ist. Dies steht im Einklang mit Versuchsresultaten (s. Biegung I). Castigliano ist ebenfalls von den allgemeinen Elastizitätsgleichungen ausgegangen [12], hat dieselben aber mit Berufung auf die Erfahrung so weit spezialisiert, [12], S. 141, daß schließlich die üblichen Beziehungen, jedoch mit Berücksichtigung des Einflusses der Transversalkraft Vx oder Tx auf die Formänderungen, resultierten, dem er damit zuerst konsequent Rechnung trug.


Literatur: [1] Weyrauch, Aufgaben zur Theorie elastischer Körper, Leipzig 1885. – [2] Connert, Ueber die Biegungsfestigkeit des Glases, Civilingenieur 1888, S. 1, 109, 621. – [3] Considère, Mémoire sur l'emploi du fer et de l'acier, Paris 1885–86. – [4] Tetmajer, Mitteilungen u.s.w., Zürich, Heft III, 1886, Heft IV, 1890. – [5] Bischoff und Brik, Zeitschr. d. österr. Ing.- und Arch.-Ver. 1891, S.63,73. – [6] Mantel, Zum Einfluß der Schubspannungen u.s.w., Schweizerische Bauztg. 1889,1, S. 99. – [7] Bauschinger, Mitteilungen u.s.w., Heft III, München 1874. – [8] Weyrauch, Die Festigkeitseigenschaften und Methoden der Dimensionenberechnung u.s.w., Leipzig 1889, II. Abschn. – [9] De Saint-Venant, Mémoire sur la flexion des prismes, Liouvilles Journal, I, 1856; Clebsch, Theorie der Elastizität fester Körper, Leipzig 1862, S. 70 u.a. – [10] Kirchhoff, Ueber das Gleichgewicht und die Bewegung eines unendlich dünnen elastischen Stabes, Crelles Journal 1859, LVI, S. 285; Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1882, S. 285. – [11] Pochhammer, Untersuchungen über das Gleichgewicht des elastischen' Stabes, Kiel 1879. – [12] Castigliano, Theorie de l'équilibre des systèmes élastiques etc., Turin 1880 (deutsch von Hauff, Wien 1886). – [13] Bach, Elastizität und Festigkeit, Berlin 1902. – [14] Tetmajer, Die angewandte Elastizitäts- und Festigkeitslehre, Leipzig und Wien 1904.

Weyrauch.

Fig. 1.
Fig. 1.
Fig. 2.
Fig. 2.
Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 2 Stuttgart, Leipzig 1905., S. 2-5.
Lizenz:
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