[693] Dehnung in der Elastizitäts- und Festigkeitslehre. Wenn ein prismatischer Stab der anfänglichen Länge l durch eine gleichmäßig über seinen Querschnitt verteilte ruhende oder ganz allmählich anwachsende Kraft P parallel der Stabachse gezogen wird, so erleidet er eine Verlängerung Δl, deren Wert pro Einheit der anfänglichen Länge λ = Δl/l die spezifische Längenänderung oder Dehnung des Stabes durch die Kraft P genannt wird.
Diese Dehnung ist für technisch wichtige Materialien (Schweißeisen, Flußeisen, Stahl) innerhalb gewisser Grenzen annähernd proportional der wirkenden Kraft pro Einheit des ursprünglichen Querschnitts F, d.h. proportional der Stabspannung σ = P/F Der Proportionsfaktor E in σ = Eλ für elastische Dehnungen, nämlich für solche, die nach Entfernung der Kräfte P verschwinden (im Gegensatze zu bleibenden Dehnungen) heißt Elastizitätsmodul (s.d.). Neuerdings wurde empfohlen, anstatt des Elastizitätsmoduls E seinen reziproken Wert, den »Dehnungskoeffizienten« ε = 1/E aus λ = εσ in der Technik zu verwenden, wodurch die wichtige Verhältniszahl zwischen λ und σ gleich der Längenänderung pro Längeneinheit Stab und so dem tatsächlichen Verhalten des Materials entsprechend definiert sei, ihre Größe, weil mit den elastischen Formänderungen wachsend, zugleich ein Maß der Elastizität bilde, und Analogie zwischen s und dem linearen Ausdehnungskoeffizienten α bestehe (s. Dehnungskoeffizient und [8], S. 4). Jedoch ist die Einführung von E meist bequemer und sie schließt nicht aus, beliebige Aussagen auch über den Bruch ε = 1/E zu machen. Oberhalb der »Proportionalitätsgrenze« wachsen die Dehnungen λ stärker, als der Proportionalität mit den Spannungen σ entspräche, und bei Erreichung eines Wertes σ = s tritt eine verhältnismäßig rasche und starke Verlängerung ohne wesentliche Aenderung von ff, ein Strecken des Stabes, ein, weshalb s die Streckgrenze genannt wird. Den größten Widerstand σ = z leistet der Stab kurz vor Eintritt des Bruches, worauf noch vor letzterem, infolge Störung der Kohäsion, eine Abnahme eintreten kann. Trägt man in geeigneten Maßstäben die P oder σ als Ordinaten bei den entsprechenden Δl oder λ als Abszissen an, so läßt die entstehende Kurve diese Verhältnisse übersehen (in Figur verzerrt angedeutet); doch sind die charakteristischen Stellen nicht immer gleich deutlich ausgeprägt, wie sie überhaupt nur für gewisse Materialien gelten und z.B. für Gußeisen weder eine Proportionalitätsgrenze noch eine Streckgrenze existiert (vgl. Zugelastizität). Durch Hämmern, Walzen, Härten, Ausglühen u.s.w. lassen sich wesentliche Aenderungen der Dehnungen wie der übrigen Festigkeitseigenschaften erreichen, auch die Querschnittsform kann von erheblichem Einflusse sein [4], [6], [11]. Kurz vor dem Bruche, nach Erreichung des größten Widerstands z pflegt unter deutlicher Querschnittsverminderung an der Bruchstelle (Kontraktion, Einschnürung) eine entsprechende lokale Verlängerung daselbst einzutreten, so daß die Bruchdehnung aus zwei Teilen besteht, von welchen der eine der Stablänge nahezu proportional, der andre fast unabhängig von ihr ist. Die vergleichende Beurteilung von Bruchdehnungen verschiedener Stäbe kann also nur unter Berücksichtigung der Längen und Querschnitte erfolgen, weshalb die »Konferenz zur Vereinbarung einheitlicher Prüfungsmethoden für Bau- und Konstruktionsmaterialien« auch Bestimmungen über die Dimensionen der Probestäbe getroffen hat [4], 21, S. 1; 23, S. 95. Die Bruchdehnung S wird gewöhnlich in Prozenten der ursprünglichen Länge angegeben, so daß δ = 100 Δl/l = 100 λ, und zwar gemessen nach dem Bruche, während die wirkliche Bruchdehnung um den Betrag der elastischen Dehnung größer ist.
Greifen wir einzelne Beispiele heraus. Bei je 30 Versuchen mit Eisenstäben aus I-Trägern 15 deutscher Normalprofile des Neunkirchener Eisenwerks fand Tetmajer folgende Mittelwerte [2], 3, S. 142:
Da man annimmt, daß das Material auch allgemein um so größere bleibende Formänderungen zuläßt, je größer die Dehnung und Kontraktion beim Bruche sind, was bei genügend hoher Fertigkeit und Proportionalitätsgrenze gegen ruhende Belastung günstig für die Widerstandsfähigkeit gegen die wirklichen Beanspruchungen der Baukonstruktionen ist, so werden bei Lieferungsbedingungen gewöhnlich neben Grenzwerten der Zugfestigkeit auch Minimalwerte der Bruchdehnung oder Kontraktion oder beider vorgeschrieben [5]. Auch bei Beurteilung des Materials auf Grund der Arbeitskapazität (s.d.) und der Qualitätszahlen (s.d.) spielt neben der Zugfestigkeit meist die Bruchdehnung eine Rolle [3], § 16.[693]
Es war oben nur von ziehenden Kräften P und Spannungen σ = P/F die Rede. In weiterem Sinne spricht man von Dehnungen auch, wenn die P, σ drückend wirken. Sind Zug und Druck gleichzeitig zu behandeln, so pflegen ziehende P, σ als positiv, drückende P, σ als negativ eingeführt zu werden, während die Längenänderungen Δl und Dehnungen λ = Δl/l als positiv oder negativ gelten, je nachem sie Verlängerungen oder Verkürzungen bedeuten (vgl. Dehnung in der allgemeinen Elastizitätslehre). Der Streckgrenze bei ziehenden P entspricht die Stauchgrenze (Quetschgrenze) bei drückenden P. Beide werden auch Fließgrenze genannt (vgl. Fließen fester Körper).
S.a. Zerreißversuch, Zugelastizität, Druckversuch, Druckelastizität, Elastizitätsgesetz, Elastizitätsmodul.
Literatur: [1] Considère, Mémoire sur l'emploi du fer et de l'acier dans les constructions, Paris 1885, p. 8 (deutsche Ausg., Wien 1888, S. 7). [2] Tetmajer, Mitteilungen u.s.w., Zürich, Heft 3, 1886, S. 4; Heft 4, 1890, S. 30. [3] Weyrauch, Die Festigkeitseigenschaften und Methoden der Dimensionenberechnung von Eisen- und Stahlkonstruktionen, Leipzig 1889, S. 41, 89. [4] Bauschingers Mitteilungen u.s.w., München, Heft 21, 1892; Heft 22, 1894; Heft 23, 1895. [5] Normalbedingungen für die Lieferung von Eisenkonstruktionen für Brücken- und Hochbau, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 1893, S. 364 ( s.a. »Hütte« 1902, I, S. 488). [6] Martens, Handbuch der Materialienkunde für den Maschinenbau, I, Berlin 1898, S. 17, 82 u.s.w. [7] Foeppl, Vorlesungen über technische Mechanik, III, Festigkeitslehre, Leipzig 1900, S. 46, 402. [8] Bach, Elastizität und Festigkeit, die für die Technik wichtigsten Sätze und deren erfahrungsgemäße Grundlage, Berlin 1902, S. 3 (1. Aufl., 188990). [9] Ders., Zum Begriff »Streckgrenze«, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 1904, S. 1040, und 1905, S. 615. [10] v. Tetmajer, Die angewandte Elastizitäts- und Festigkeitslehre, Leipzig und Wien 1904, S. 8, 184. [11] Thallner, Konstruktionsstahl, ein praktisches Handbuch über die Festigkeitseigenschaften von Stahl und Eisen, Freiberg 1904. [12] Handbuch der Architektur, Erster Teil, Bd. 1, Heft 1: Die Technik der wichtigsten Baustoffe, Stuttgart 1905, S. 235.
Weyrauch.
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