[378] Elastische Nachwirkung. Die durch ruhende Belastung oder andre statische Einwirkungen äußerer Kräfte erreichbare Gruppierungsänderung der Teilchen eines festen Körpers tritt im allgemeinen nicht sofort vollständig ein; man hat noch nach Tagen und Monaten kleine Dehnungen, Einsenkungen u.s.w. beobachtet, deren Wert wesentlich von Material, Größe der Beanspruchung, vorausgegangener Behandlung, Temperatur, Erschütterungen u.s.w. abhängt und besonders für Körper vegetabilischen und animalischen Ursprungs bedeutend werden kann. Ebenso brauchen die Teilchen nach Entfernung der äußeren Kräfte eine gewisse Zeit, bis sie wieder vollständig zur Ruhe kommen. Diese Erscheinungen wurden von Wilhelm Weber, der sie zuerst eingehender an Seidenfäden untersuchte, als elastische Nachwirkung bezeichnet [1]; sie beeinträchtigen die Genauigkeit und Vergleichbarkeit zahlreicher physikalischer Ermittlungen und sind auch bei Anordnung und Deutung technischer Versuche über Elastizität und Fertigkeit im Auge zu behalten. Ausgedehnte Versuche über dieselben in physikalischer und technischer Richtung wurden besonders von Kohlrausch [3], [4], [5] und Bauschinger [7], [15], [19] angestellt. Da die Gruppierungsänderungen der Teilchen schließlich zum Bruche führen können, so macht sich der Einfluß der Zeit auch auf die Fertigkeit geltend.
So fand Barba bei Zerreißversuchen mit Rundstäben von 1,6 cm Durchmesser aus Flußeisen bei 2,5 Minuten Versuchsdauer 3935 kg Fertigkeit pro Quadratzentimeter und 32% Bruchdehnung, gemessen auf 10 cm Länge, während die entsprechenden Zahlen bei 75 Minuten Versuchsdauer 3720 kg und 34% waren [8], S. 710. Aehnliche Resultate erhielt Goedicke mit Feinkorneisen, gewöhnlichem Puddeleisen und Wolframstahl [11], S. 578. Thurston beanspruchte je drei Stäbe aus amerikanischem Nadelholz (Yellow pine, Pinus australis) auf Biegung mit 95, 80 und 65% der auf gewöhnliche Weise erhaltenen Bruchlast, wobei nach stetigem Wachsen der Einsenkungen die letzten Stäbe der drei Gruppen nach 43 Stunden bezw. 30 Tagen und 15 Monaten zum Bruche kamen [10]. Die Vorschrift in Lieferungsbedingungen, daß die Probestäbe gewisse Beanspruchungen eine kurze Zeit, etwa 10 Minuten, aushalten sollen, hielt jedoch Bauschinger auf Grund jahrelanger Erfahrung und spezieller Versuche für Eisen und Stahl nicht für erforderlich [7], S. 270, [19], S. 4, wenn nur, wie selbstverständlich, nach Auflage jedes neuen Mehrgewichts so lange angehalten werde, bis der Wagebalken der Prüfungsmaschine oder die Blase der Libelle an derselben fest oder doch nahezu fest geworden sei. Maßgebend[378] war hierbei, daß, wenn der Bruch innerhalb der vorgeschriebenen Zeit eintrete, er sicher schon vorher erfolge, wenn ca. 0,5 kg pro Quadratzentimeter Querschnitt zugelegt werde. Auch sonst haben die Nachwirkungserscheinungen für den Konstrukteur bis jetzt keine wesentliche Bedeutung erlangt. Sie sind von verhältnismäßig kleinem Betrag und treten mein; erst für Spannungen hervor, die oberhalb der in der Konstruktion auftretenden Grenzwerte liegen [24], S. 31. Für die Vorschrift in Bedingungen für Probebelastungen, daß die Belastung vor Messung der Einsenkung eine gewisse Zeit gewirkt haben soll, kommt neben der elastischen Nachwirkung die Zeit zur Uebertragung der Lasten von den Zwischenträgern auf die Hauptträger, zur Erschöpfung der vielfach eintretenden Schwingungen und zu unveränderlicher Wirksamkeit der Verbindungen in Betracht.
Verschiedene Versuche ergaben, daß für manche Metalle, wie Blei, Zinkblech und besonders Zinn, selbst bei allmählichem Anwachsen der Belastung auch die Geschwindigkeit dieses Anwachsens oder der entsprechenden Dehnungszunahme von Einfluß ist [14]. Bauschinger fand dies ebenfalls, kam jedoch zu dem Schlusse, daß der Einfluß der Zeit oder der Geschwindigkeit, mit der die Dehnung ausgeführt wird, auf die Festigkeitsverhältnisse (Bruchbelastung, Bruchdehnung, Kontraktion) von Flußeisen, Schweißeisen, Kupfer, Messingblech und Bronzeguß innerhalb der bei praktischen Versuchen eingehaltenen Grenzen unmerklich oder kaum merklich sei und auch für Messingguß, Zinkguß und Gußeisen durch zufällige Ungleichmäßigkeiten leicht verdeckt werde [19], S. 26. Die Versuchsdauer war hierbei verhältnismäßig groß (z.B. bei Flußeisen 2677 Minuten). Dagegen erhielt Le Chatelier [23] für hartes und weiches Kupfer bei 250° Temperatur nach 10 Sekunden, 10 Minuten und 30 Minuten Versuchsdauer bezw. die Zugfestigkeiten 3400, 2470, 1800 und 1870, 1780, 1640. Wöhler und Beardslea hatten beobachtet, daß bei Erhöhung der Elastizitätsgrenze (s.d.) durch Ueberschreiten derselben die Zeit nach der Entlastung eine Rolle spielt. Bauschinger faßt seine in dieser Beziehung durch Versuche mit Schweißeisen, Flußeisen und Stahl erhaltenen Resultate in folgende Sätze zusammen [15], S. 19: 1. Die Streckgrenze (s. Dehnung) wird stets bis zu der Belastung hinaufgehoben, mit der gestreckt wurde, und zwar schon unmittelbar nach dem Strecken. In der Zeit der Ruhe aber, die nach der auf das Strecken vorgenommenen Entlastung verstreicht, hebt sich die Streckgrenze über jene Maximalbelastung, mit der gestreckt worden ist, hinaus, und zwar ist diese Hebung schon nach einem Tage sehr gut bemerkbar, dauert aber Wochen und Monate, vielleicht Jahre fort. 2. Die Elastizitätsgrenze wird durch das Strecken herabgeworfen, oft bis auf Null, so daß die Probestücke, wenn sie unmittelbar nach dem Strecken und Entlasten wieder gemessen werden, gar keine oder eine bedeutend niedrigere Elastizitätsgrenze haben. In der Zeit der Ruhe aber, die nach der auf das Strecken vorgenommenen Entlastung verstreicht, hebt sich auch die Elastizitätsgrenze wieder, erreicht nach mehreren Tagen die Belastung, mit der gestreckt wurde, und wird nach genügend langer Zeit, sicher nach mehreren Jahren, selbst über diese Belastung hinaus gehoben. 3. Mit der Elastizitätsgrenze wird in der Regel auch der Elastizitätsmodul durch vorausgegangenes Strecken erniedrigt; er erhebt sich, wie jene, in der Zeit der Ruhe nach dem Strecken und Entlasten wieder, wahrscheinlich aber langsamer. Nach mehreren Jahren findet er sich stets beträchtlich über seine ursprüngliche Größe hinaus gehoben. 4. Durch Dehnen mit Belastungen, die über der Elastizitäts-, aber noch unter der Streckgrenze liegen, wird die Elastizitätsgrenze erhöht, und zwar sofort nach dem Entlasten und um so mehr, je höher die Belastung war. Wenn letztere in die Nähe der Streckgrenze kommt, erreicht die Elastizitätsgrenze ein Maximum und wird bei Ueberschreiten der Streckgrenze herabgeworfen, entsprechend dem obigen zweiten Satze. Ueber Mittel, die durch Strecken künstlich erhöhte Elastizitätsgrenze wieder herabzusetzen s. [15], S. 24 (vgl. Elastizitätsgrenze, ursprüngliche und natürliche).
Eine theoretische Behandlung der elastischen Nachwirkung hat schon Weber versucht [2], S. 8; später haben sich O.E. Meyer, Maxwell, Kohlrausch u.a. mit einschlagenden Fragen beschäftigt; ausführliche Arbeiten auf breiterer Grundlage rühren von Boltzmann [6] und Wiechert [20] her. Auch in Lehrbüchern beginnen diese Theorien, die mit manchen Versuchsergebnissen in Einklang liehen, bereits eine eingehendere Behandlung zu finden [18], [21], [22], doch sind sie noch nicht bis zu technischer Verwendung gediehen (s.a. Thermische Nachwirkung).
Literatur: [1] Weber, W., Ueber die Elastizität der Seidenfäden, Poggendorffs Annalen 1835, Bd. 34, S. 247. [2] Ders., Ueber die Elastizität fester Körper, ebend., 1841, Bd. 54, S. 1. [3] Kohlrausch, Ueber die elastische Nachwirkung bei der Torsion, ebend., 1863, Bd. 119, S. 337. [4] Ders., Beiträge zur Kenntnis der elastischen Nachwirkung, ebend., 1866, Bd. 128, S. 1, 207, 399. [5] Ders., Experimentaluntersuchungen über die elastische Nachwirkung bei der Torsion, Ausdehnung und Biegung, ebend., 1876, Bd. 158, S. 337. [6] Boltzmann, Zur Theorie der elastischen Nachwirkung, ebend., 7. Erg.-Bd. 1876, S. 624 (s.a. Kohlrausch 1877, Bd. 160, S. 225). [7] Bauschinger, Ueber den Einfluß der Dauer der Belastung auf die Fertigkeit von Probestäben aus Eisen und Stahl, Annalen für Gewerbe und Bauwesen 1879, S. 269. [8] Barba, Etüde des allongements des métaux après rupture, Mém. etc. de la société des ingenieurs civils 1880, I, S. 682. [9] Perard, Versuche über die elastische Nachwirkung bei Eisen und Stahl, Revue universelle des mines, 1880, S. 486. [10] Thurston, Ueber den Einfluß der Anstrengungsdauer auf die Fettigkeit und Elastizität des Nadelholzes, Dinglers Polyt. Journal 1882, Bd. 244, S. 281. [11] Goedike, Welche Faktoren können das Resultat der Zerreißproben beeinflussen? Oesterr. Zeitschr. f. Berg- und Hüttenwesen 1883, S. 557, 575. [12] Hesehus, Die elastische Nachwirkung und andre verwandte physikalische Eigenschaften, Beiblätter z. Wied. Annalen 1883, S. 654. [13] Riecke, Zu Boltzmanns Theorie der elastischen Nachwirkung, Wied. Annalen 1883, Bd. 20, S. 484. [14] Fischer, Ueber die Deutung und Genauigkeit von Festigkeitsdiagrammen, Dinglers Polyt. Journal 1884, Bd. 151, S. 337, 385. [379] [15] Bauschinger, Mitteilungen u.s.w., 13. Heft, 1886 (Ueber die Veränderung der Elastizitätsgrenze und Fertigkeit des Eisens und Stahls durch Strecken und Quetschen, durch Erwärmen und Abkühlen und durch oftmals wiederholte Beanspruchung). [16] Martens, Die Festigkeitseigenschaften d. Magnesiums, Mitteilungen d. techn. Versuchsanstalten zu Berlin, Erg.-Bd. 1, 1887. [17] Lehmann, Molekularphysik, I, Leipzig 1888, S. 99, 115. [18] Winkelmann, Handbuch der Physik I, Breslau 1891, S. 321. [19] Bauschinger, Mitteilungen u.s.w., 20. Heft, 1891 (Einfluß der Zeit bei Zerreißversuchen mit Metallen). [20] Wiechert, Gesetze der elastischen Nachwirkung für konstante Temperatur, Wied. Annalen 1893, Bd. 50, S. 335, 546. [21] Wüllner, Lehrbuch der Experimentalphysik I, Leipzig 1895, S. 269. [22] Voigt, Kompendium der theoretischen Physik, I, Leipzig 1895, S. 456. [23] The strength of metalls at high temperatures, Engineering 1895, II, S. 186 (Zeitschr. d. Arch.- u. Ingen.-Vereins zu Hannover 1896, S. 254). [24] Martens, Handbuch der Materialienkunde für den Maschinenbau I, Berlin 1898, S. 28, 131, 207.
Weyrauch.
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