Elastizitätsgesetz

[383] Elastizitätsgesetz. Die wichtigste Grundlage der Elastizitätslehre (s.d.) bildet das zwischen Spannung und Dehnung im einfachsten Falle bestehende Elastizitätsgesetz oder ein die Wirkung je zweier Körperpunkte aufeinander bestimmendes Kraftgesetz. In ersterer Beziehung veröffentlichte 1679 Robert Hooke in der Form »Ut tensio sic vis« die Regel, daß die Kräfte zur[383] Erzeugung elastischer Deformationen eines festen Körpers proportional der Größe dieser Deformationen seien [1]. Die gleiche Proportionalität, ohne Beschränkung auf elastische Deformationen, nahm 1680 Mariotte als näherungsweise zutreffend an [2]. Für einen homogenen prismatischen Stab vom anfänglichen Querschnitt F und der anfänglichen Länge l, der lediglich durch gleichmäßig auf die Endquerschnitte verteilte Kräfte P = σ F in der Richtung seiner Achse gezogen oder gedrückt ist (ohne Biegung) und hierdurch eine elastische Längenänderung Δl = λl erleidet, soll nach Hooke im Gleichgewichtszustände sein:


Elastizitätsgesetz

worin σ die Spannung oder Beanspruchung pro Flächeneinheit von F, λ die elastische Dehnung oder Längenänderung pro Längeneinheit von l, E eine Konstante. Da der Elastizitätsmodul E bei der Spannung σ und der mittlere Elastizitätsmodul E' von σ = 0 bis σ = σ allgemein definiert sind durch die Ausdrücke:


Elastizitätsgesetz

(vgl. Zugelastizität, Druckelastizität, Elastizitätsmodul und [12], S. 119), so nahm Hooke E konstant und damit E' = E an.

Vom Hookeschen Gesetze wird sowohl in der Elastizitäts- und Festigkeitslehre (s.d.) als in der allgemeinen Elastizitätslehre (s.d.) weitgehender Gebrauch gemacht. Doch kann dasselbe nur für solche Materialien und innerhalb solcher Intervalle als genügend genau gelten (bei konstanter Temperatur, vgl. Ausdehnungskoeffizient), für die dies durch Versuche oder sonstige Erfahrungen (elastische Schwingungen u.s.w.) bestätigt ist. Letzteres trifft innerhalb der üblichen Beanspruchungen allerdings für die wichtigen Baustoffe, Schweißeisen, Flußeisen und Stahl, zu (vgl. Elastizitätsgrenze, Dehnung, Zugelastizität, Druckelastizität), nicht aber im allgemeinen für Gußeisen, Steine, Beton, Holz. Hier suchte man sich durch mittlere Elastizitätsmoduln bei Verwendung der gleichen Formeln wie für konstante E zu helfen. Sodann hat man einerseits die Gesetze stetiger Spannungen und Verschiebungen ohne Rücksicht auf irgendwelche Beziehungen zwischen denselben abgeleitet (z.B. in [12], Abschnitt I-V), anderseits die Hookesche Annahme durch genauere Beziehungen zu ersetzen unternommen, wobei früher oft kein Unterschied zwischen elastischen und bleibenden Dehnungen gemacht wurde.

Schon Varignon ließ allgemein zu [3]


Elastizitätsgesetz

welche Beziehung nach Hooke mit konstantem ε = 1/E lauten würde:


Elastizitätsgesetz

während Varignon 1702 auch beispielsweise anführt [3], S. 75, und Bilfinger 1729 annahm [14], S. 20:


Elastizitätsgesetz

Dieselbe Formel (Potenzgesetz) wandte 1822 Hodgkinson [14], S. 122, und 1897 Schüle zur Darstellung von Versuchsresultaten Bachs an [24], wobei für σ in Kilogramm pro Quadratzentimeter gesetzt werden konnten:


Elastizitätsgesetz

Weitere Werte s. Druckelastizität und [24], S. 251, vgl. auch [25]. Nach 5. wären zufolge 2. der Elastizitätsmodul von 0 bis σ:


Elastizitätsgesetz

Da aber auch das Potenzgesetz 5. häufig nicht bis zu den höchsten Versuchsspannungen genügte, so nahm Schüle als allgemeineres Gesetz an [27]:


Elastizitätsgesetz

mit konstanten a, b, k, welcher. Ausdruck für b = 0 in 5. übergeht.

Häufig suchte man den Versuchsresultaten zu entsprechen durch empirische Gleichungen von der Form:


Elastizitätsgesetz

bei konstanten a, b, c ..., womit nach 2.:


Elastizitätsgesetz

oder durch solche von der Form:


Elastizitätsgesetz

bei konstanten α, β, y ..., womit nach 2.:


Elastizitätsgesetz

So wandten für Gußeisen in 8. an: Hartig 1893 zwei Glieder [17], S. 132, Cox 1850 drei Glieder [14], S. 775, Hodgkinson 1849 bis vier Glieder [14], S. 760, 774, während bei Verwendung von 10. auskamen: Meyer 1896 für Aluminiumdrähte [23] und Mehmke 1897 für verschiedene der oben zu 5. erwähnten Materialien mit zwei Gliedern [25], S. 332, Thompson[384] 1891 für Drähte aus Stahl, Kupfer, Messing, Silber mit drei Gliedern [16]. Beispielsweise wären, wenn σ in Kilogramm pro Quadratzentimeter ausgedrückt wird, in 8. nach Hartig für Gußeisen zu setzen α = 1070000, b = –82500000, und in 10. nach Thompson für Stahldraht = 1/2005000, β · 105 = 1/3278600, γ · 1010 = 1/1243600, wobei l = 22,683 m, F = 0,0003263 qcm waren. Hodgkinson kam schließlich zu der Ansicht [8], [14], S. 762, daß nach dem damaligen Stande der Versuchsergebnisse genüge (Parabelgesetz, vgl. [25], S. 332):


Elastizitätsgesetz

womit nach 9.:


Elastizitätsgesetz

Von sonstigen Beziehungen wählten Imbert 1880 für Kautschuk [17], S. 120, und Becker 1894 auf Grund theoretischer Betrachtungen allgemein [19]:


Elastizitätsgesetz

Hartig 1893 für Treibriemen aus Rindsleder bei Zug und für gebrannten Ton bei Druck [17], S. 124, [18], S. 448:


Elastizitätsgesetz

Cox 1850 für Gußeisen [7], [14], S. 775, und Lang 1896 für Steine und Mauerwerk [22] (Hyperbelgesetz, vgl. [25], S. 333):


Elastizitätsgesetz

Riccati 1739 σ = ce–1/λ [25], S. 330, Wertheim 1847 für organische Gewebe λ2 = a σ + b σ2 [25], S. 330, Poncelet 1839 für harten Messingdraht λ = σ (a + b e) [11], S. 379, Hartig für Kork bei Druck σ = λ/(1 – λ) e [17], S. 127 u.s.w.

Selbstverständlich können alle erwähnten Beziehungen nur für die Stoffe und innerhalb der Grenzen als zutreffend gelten, für die sie durch die Erfahrung bestätigt sind und nicht zu Widersprüchen mit feststehenden Verhältnissen führen. Eine einfache Beziehung, die innerhalb der in Betracht kommenden Anwendungsgrenzen genügt, ist meist vorzuziehen umständlicheren Ausdrücken, die darüber hinaus gelten, ohne innerhalb jener Grenzen Vorteile zu bieten. Bei vorsichtiger Verwendung läßt sich meist mit dem Hookeschen Gesetze, eventuell unter Einführen mittlerer Elastizitätsmoduln, auskommen.

Verschiedene Forscher wie Navier [5], [13], S. 60, Poisson [6], [13], S. 67, Beer [10] sind bei Beurteilung der Spannungsverhältnisse fester Körper von Anschauungen der Molekulartheorie ausgegangen. Dabei wurde angenommen, daß die Kraft S zwischen zwei Körperpunkten in deren Verbindungsgeraden wirke, proportional ihren Massen m, n sei und im übrigen lediglich von ihrer Entfernung r abhänge, wonach als Kraftgesetz galt:


Elastizitätsgesetz

unter F(r) eine beliebige Funktion von r verstanden. Das vorstehende Kraftgesetz hat sich jedoch nicht allgemein bewährt, in der Elastizitätslehre vermochte es insbesondere den Einfluß der Temperatur auf die Spannungen nicht zu erklären. Bekanntlich können letztere bei konstanten mittleren Entfernungen der Körperpunkte (konstantem Körpervolumen) mit Erhöhung der Temperatur sehr bedeutend wachsen. Der Verfasser nahm anstatt 17. an [12], S. 133:


Elastizitätsgesetz

worin m n i ganz allgemein eine Funktion derjenigen Größen bedeutet, die neben der Entfernung r auf S Einfluß nehmen. Die entgehenden Spannungsausdrücke können auch für Temperaturänderungen in Einklang mit der Erfahrung gebracht werden [12], S. 148. Vereinzelt sind noch andre Kraftgesetze als die in 17., 18. enthaltenen zur Erklärung (Darstellung) der Elastizitätsverhältnisse herangezogen worden [15]. Das Vorgehen auf Grund der Molekulartheorie empfiehlt sich besonders dann, wenn auch Kristalle und andre Körper mit einzelnen Elastizitätsachsen behandelt werden sollen.


Literatur: [1] Hooke, Lectures de potentia restitutiva or of Springs, explaining the power of springing bodies, Philosophical Tracts and Collections, London 1679. – [2] Mariotte, Traité du mouvement des eaux et des autres corps fluides 1686, Oeuvres de Mariotte, II, La Haye 1740, S. 461 (S. 460: Discours de la force des tuyaux etc.). – [3] Varignon, De la résistence des solides en général pour tout ce qu'on peut faire d'hypothèses touchant la force ou la ténacité des fibres des corps à rompre, Histoire de l'Académie des sciences 1702, Mémoires, S. 66. – [4] Hodgkinson, On the transverse strain and strength of materials, Mémoires of the Literary and Philosophical Society of Manchester, II. Folge, Bd. 4, London 1824. – [5] Navier, Mémoire sur les lois de l'équilibre et du mouvement des corps solides élastiques, Mémoires de l'Académie royale des sciences 1824, Bd. 7, S. 375. – [6] Poisson, Mémoire sur l'équilibre et le mouvement des corps élastiques, Mémoires de l'Académie royale des sciences 1825, Bd. 8, S. 357. – [7] Cox, The deflection of imperfectly elastic beams and the hyperbolic law of elasticity, Transactions of the Cambridge Philosophical Society, Bd. 9, Teil 2, 1851, S. 177. – [8] Hodgkinson, On the elasticity of Stone and Cristalline Bodies, The Athenaeum 1853, S. 1165 (oder Fortschritte der Physik, dargestellt von der Physik. Gesellschaft zu Berlin 1853, IX, S. 120). – [9] Navier, Résumé des leçons etc. sur l'application de la mécanique, avec des notes et des appendices de Saint-Venant, Paris 1864, S. XCIV, XCVIII, CCLXXI, 15, 175 etc. – [10] Beer, Einleitung in die mathematische Theorie der Elastizität und Kapillarität, Leipzig 1869. – [11] Poncelet, Introduction à la mécanique industrielle, Paris 1870, S. 269. – [12] Weyrauch, Theorie elastischer Körper, Leipzig 1884, I. bis V. Abschn. (insbesondere II, III, IV). – [13] Neumann, Vorlesungen über die Theorie der Elastizität der festen Körper und des Lichtäthers, Leipzig 1885. – [14] Todhunter und Pearson, A history of the theory of elasticity and the strength of materials, I, Cambridge[385] 1886, S. 5, 7, 20, 22, 122, 536, 760, 774, 891 etc. – [15] Seydler, Untersuchungen über verschiedene mögliche Formen des Kraftgesetzes zwischen Massenteilchen, Prag 1887 (aus den Abhandl. d. böhm. Akademie, 7. Folge, Bd. 1). – [16] Thompson, Ueber das Gesetz der elastischen Dehnung, Wiedemanns Annalen 1891, XLIV, S. 555. – [17] Hartig, Der Elastizitätsmodul des geraden Stabs als Funktion der elastischen Dehnung, Civilingenieur 1893, S. 113 (s.a. S. 319). – [18] Ders., Das elastische Verhalten der Mörtel und Mörtelbindematerialien, Civilingenieur 1893, S. 435. – [19] Becker, Die mathematische Beziehung zwischen endlichen elastischen Deformationen und Kräften, Beiblätter zu Wiedemanns Annalen 1894, S. 515. – [20] Voigt, Ueber eine anscheinend nötige Erweiterung der Theorie der Elastizität, Wiedemanns Annalen 1894, LII, S. 536. – [21] Finger, Das Potential der inneren Kräfte und die Beziehungen zwischen den Deformationen und den Spannungen in elastischen isotropen Körpern bei Berücksichtigung von Gliedern, die bezüglich der Deformationselemente von dritter bezw. zweiter Ordnung sind, Sitzungsber. der Wiener Akademie 1894, S. 163, 231 (s.a. S. 1073). – [22] Lang, Der Schornsteinbau, 2. Heft, Hannover 1895, S. 117–128, 161, 162 (s.a. Deutsche Bauzeitung 1897, S. 58). – [23] Meyer, Notiz über die Elastizitätskonstanten von reinem Nickel, Gold, Platin und Aluminium, Wiedemanns Annalen 1896, LIX, S. 669. – [24] Bach, Untersuchungen von Granit in bezug auf Zug-, Druck-, Biegungs- und Schubfestigkeit sowie in Hinsicht auf Zug-, Druck- und Biegungselastizität. Allgemeines Gesetz der elastischen Dehnungen, Zeitschr. d. Vereins deutsch. Ingen. 1897, S. 241 (s.a. 1902, S. 25). – [25] Mehmke, Zum Gesetz der elastischen Dehnungen, Zeitschr. f. Math, und Physik 1897, S. 327. – [26] Bredt, Das Elastizitätsgesetz und seine Anwendung für praktische Rechnung, Zeitschr. d. Vereins deutsch. Ingen. 1898, S. 694 – [27] Schule, Ueber das Gesetz der elastischen Längenänderung prismatischer Körper durch Zug und Druck, ebend. 1898, S. 855. – [28] Foeppl, Vorlesungen über technische Mechanik, II. Die Festigkeitslehre, Leipzig 1900, S. 39; – [29] Kohlrausch und Grüneisen, Ueber die durch sehr kleine elastische Verschiebungen entwickelten Kräfte, Sitzungsberichte d. preuß. Akademie 1901, S. 1086. – [30] Schule, Die Gesetzmäßigkeit der elastischen Dehnungen, Zeitschr. d. Vereins deutsch. Ingen. 1902, S. 1512 (s.a. S. 1540). 1903, S. 1014. – [31] Tetmajer, Die angewandte Elastizitäts- und Festigkeitslehre, Leipzig 1904, S. 8. – [32] Bach, Elastizität und Fertigkeit, Berlin 1905, S. 3, 13, 81.

Weyrauch.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 3 Stuttgart, Leipzig 1906., S. 383-386.
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