Kreisel [2]

[457] Kreisel. Die Fortschritte der letzten Jahre auf diesem Gebiet erstrecken sich auch in der Theorie wesentlich auf die technischen Anwendungen (Bd. 5, S. 688) des Kreisels [21], [22], [23].

Zu 3. Stabilität des Fahrrads. Zwar kann die automatische Stabilität des Zweirades durch die Geschicklichkeit des Fahrers ersetzt werden, auch wenn dieser die Lenkstange nicht in der Hand hält, doch kann sie prinzipiell auch vermöge der Massenwirkungen erzielt werden. Ein Ueberfallen des Rades bedingt zunächst vermöge der Kreiselwirkung (Bd. 5, S. 688) des Vorderrades ein Ablenken des Rades aus der geraden Fahrtlinie und die dadurch hervorgerufenen Zentrifugalkräfte können das Rad wieder aufrichten. Die Kreiselwirkung ist zwar weit geringer, aber dafür rascher in der Auffassung eines drohenden Falles, als die Zentrifugalkraft ([23], § 8).

Zu 4. Whithead-Torpedo. Von neueren Torpedokonstruktionen wird eine weit größere Schußweite verlangt (bis zu 5000 m), als früher (für das Jahr 1900) angegeben war. Der Torpedokreisel muß infolgedessen größere Massen und Umlaufsgeschwindigkeit besitzen, um der verlängerten Schußdauer gewachsen zu sein.

Zu 5. Kreiselkompaß. Die glänzendste Anwendung des Kreisels ist heute der von Anschütz-Kämpfe, Kiel, konstruierte Kreiselkompaß, der seit 1908 in der Kriegsmarine den Magnetkompaß ersetzt hat, da dessen Bedienung infolge der großen beweglichen Eisenmassen auf Kriegsschiffen (s. Art. Kompaß) immer mehr erschwert worden ist [24]. Dessen mechanisches Prinzip stimmt im allgemeinen mit der von Martienssen [18] behandelten Anordnung überein, und ist der Föpplschen [9] zum Nachweis der Erdrotation nahe verwandt [24], [23, 7]. Die Durchführung ist ein Meisterwerk der Technik. Der Kreisel, der drei Freiheitsgrade besitzt, ist an einem ringförmigen, in Quecksilber getauchten Schwimmer so befestigt, daß seine Achse im Ruhezustand horizontal hängt. Rotiert der Kreisel, so wird die Achse, vermöge ihrer Tendenz ihre Richtung im Räume beizubehalten (Bd. 5, S. 687), sich relativ gegen den Horizont erheben, da die[457] Zenitlinie infolge der Erdrotation ihre Richtung im Räume ändert. Das nun auftretende Schweremoment bedingt eine pseudoreguläre Präzession (Bd. 5, S. 688), deren Nutationen übrigens wegen der Flüssigkeitsdämpfung unmerklich werden. Durch die Veränderlichkeit der Erhebung der Achse gegen den Horizont artet diese Präzession in eine Schwingung um die Nordsüdlinie aus, in die die Achse sich schließlich vermöge einer künstlichen, den vom Kreisel erzeugten Luftstrom benützenden Dämpfungsvorrichtung [24] einstellt. Ihre Bewegung im Raum ist jetzt eine reguläre Präzession um die Erdachse, die durch ein dauernd begehendes kleines Schweremoment infolge einer kleinen Erhebung der Achse über den Horizont erhalten wird.

Der Kreisel erhält durch einen Drehstrommotor eine Tourenzahl von 20000 pro Minute und hat hierdurch einen so Harken Impuls (Bd. 5, S. 687), daß sein Gleichgewicht durch Erschütterungen nicht merklich beeinflußt wird, wie bei einem Körper mit sehr hohen Trägheitsmomenten, obgleich sein Gewicht nur ca. 1300 g beträgt. Infolgedessen, sowie durch die Dämpfungsvorrichtung, wird die Kompaßeinstellung auch nur in geringem Maße durch Beschleunigungen und Wendungen des Schiffes beeinflußt. Eine Mißweisung bedingt die Nordsüdkomponente der Fahrtgeschwindigkeit, sowie die Aenderung der geographischen Breite, die aber weit geringer als beim Magnetkompaß und mathematisch berechenbar ist. Die deutschen Kriegsschiffe besitzen heute je einen an drei Stellen des Schiffes durch elektrische Uebertragung ablesbaren Kreiselkompaß sowie einen Reservekompaß. In der Marine der Vereinigten Staaten ist ein verwandtes System, der Sperry-Kreiselkompaß, eingeführt [37].

Zu 6. Der Schiffskreisel ist in größerem Maßstab als bei seiner ersten Ausführung im »Seebär« in mehreren Schiffen, z.B. dem deutschen Nordseedampfer »Silvana« und dem englischen »Lochiel«, eingebaut worden. Der Erfolg war nach Angaben von O. Schlick [25] [23, § 6] auch hier befriedigend. Es liegen zwei wesentlich verschiedene Versuchsreihen vor: a) Verkleinerung der durch den Seegang erzwungenen Schiffsschwingungen, b) Dämpfung der bei ruhiger See künstlich erzeugten freien Schwingungen. Mit Rücksicht auf die freien Schwingungen wird die Aufhängung des Kreisels so gewählt, daß seine freie Pendelung mit der Rollschwingung des Schiffes gleichperiodisch wird [26] [27, § 41 f.], [23, § 4, 5], wodurch die beste Ausnützung des Kreisels erzielt wird. Für günstigere Ausnützung des Kreisels auch im Seegang schlägt Föppl [27] eine Handsteuerung der Bremse vor, die im geeigneten Moment den Kreisel die Energie der auffallenden Welle aufnehmen und dann vernichten läßt. Ohne eine solche Steuerung könnte der Kreisel im Seegang unter Umständen auch ungünstig wirken [23, § 5]. Die Möglichkeit, daß der Kreisel unliebsame Stampfschwingungen des Schiffes erzeugt [28], dürfte praktisch immer vermieden werden können [23, § 6], [29], und kann prinzipiell durch Anwendung von zwei entgegengesetzt umlaufenden Kreiseln beseitigt werden [30]. Uebrigens wird neuerdings der Zweck des Schiffskreisels auch durch »Schlingertanks« erreicht, im Schiffskörper untergebrachte größere Wassermassen, deren innere Reibung die Schwingungsenergie verzehrt.

7. Einschienenbahnen. a) Schwebebahn (s.d.). Bei diesem mit Rücksicht auf Raumverhältnisse geschaffenen Bahntypus ist auch der Einfluß der Trägheitswirkungen weniger empfindlich als bei der Zweischienenbahn (Bd. 5, S. 688), so daß größere Geschwindigkeiten ermöglicht sind. An Kurven stellt sich der Wagen infolge der Zentrifugalkräfte von selbst in die seiner Geschwindigkeit entsprechende Neigung ein. Kreiselwirkungen treten ebenso auf wie im gewöhnlichen Eisenbahnbetrieb, doch verringern sie hier das Moment der Zentrifugalkräfte in geringem Maße, Während sich dort beide Wirkungen verstärken [23, § 10, 1].

b) System L. Brennan [31] und A. Scherl [32], [23, § 10, 3], [33]. Bei diesen Systemen soll das an sich labile Gleichgewicht eines auf einer Schiene stehenden Wagens durch Einbau eines Kreisels stabil gemacht werden. Der so stabilierte Wagen wird sich wie der Schwebebahnwagen an Kurven in die der jeweiligen Geschwindigkeit entsprechende Neigung automatisch einstellen. Die Idee der Stabilierung knüpft an die bekannte Stabilität eines aufrechten Kreisels an, dessen Schwerpunkt gleichwohl oberhalb des Stützpunktes liegen kann (Bd. 5, S. 687). Beim Einschienenwagen ist der eine Freiheitsgrad die Neigung des Wagens um die Schiene, den zweiten muß die Kreiselachse im Wagen besitzen, ähnlich wie die des Schlickschen Kreisels im Schiff. Und zwar muß dieser zweite Freiheitsgrad gleichfalls labil sein, damit auf eine Neigung des Wagens der Kreisel vermöge der Kreiselwirkung mit einem hinreichend andauernden Ausschlag reagiert. Durch diesen wird dann die neue Kreiselwirkung hervorgerufen, die den Wagen wieder aufrichten kann. Durch zwei Anordnungen kann diese Wirkung erzielt werden: 1. Die Kreiselachse pendelt um eine quer zum Wagen liegende Achse und steht in der Ruhelage vertikal, der Schwerpunkt oberhalb der Pendelachse. 2. Die Kreiselachse pendelt um eine vertikale Achse, und ihre Ruhelage ist horizontal, quer zum Wagen. Diese Lage müßte aber künstlich labil gemacht werden; auch mit Rücksicht auf das Verhalten des Kreisels an Kurven ist die erste Lage vorzuziehen.

Bezüglich der Dämpfung ist zweierlei zu beachten: Die Schwingungen des Wagens müssen abgedämpft sein, damit wirkliche Stabilität vorhanden ist, etwa durch innere Flüssigkeitsreibung. Neigt sich aber der Wagen langsam aus seiner vertikalen Gleichgewichtslage, so wird seine potentielle Energie in kinetische verwandelt und als solche durch die Dämpfung verringert. Der Schwerpunkt könnte die höchste Lage nicht wieder erreichen, wenn dem System nicht zeitweise auch Energie zugeführt würde. Etwas Aehnliches ist das Aufrichten des in einer rauhen Pfanne stehenden Kreisels auf Kosten seiner Rotationsenergie ([3], Kap. VII, § 4). Im Brennanschen Patent ist eine Vorrichtung vorgesehen, die diese Energie gleichfalls der Kreiselrotation, also indirekt dem Antriebsmotor, entnimmt.

Versuche mit Einschienenwagen wurden im November 1909 von Brennan in England und Scherl in Berlin vorgeführt, die nach den Berichten günstiges Ergebnis gezeigt haben.

8. Aeronautik. [23, § 10, 7.] Bei einem Motorflugapparat kommen die Kreiselwirkungen der Propeller in Betracht, ähnlich wie bei Turbinendampfern, sogar in relativ stärkerem Maß[458] wegen der im Verhältnis zur Gesamtmasse größeren Masse der Propeller und deren hoher Tourenzahl [34]. Doch dürften sie nirgends so stark sein, daß sie die Steuerungsfähigkeit wesentlich beeinflußten und könnten überdies durch einen zweiten entgegengesetzt rotierenden Propeller kompensiert werden.

Andererseits hat man auch Kreiselwirkungen zur Stabilierung der Flugzeuge anzuwenden versucht nach einer dem Steuerungsprinzip des Whitheadtorpedo ähnlichen indirekten Methode [35]. Ueber Erfolge auf diesem Gebiet ist wenig bekannt geworden. Der Flugapparat als Ganzes ist aber ein unsymmetrischer Kreisel (Bd. 5, S. 686), dessen Schwerpunktslage, sowie Trägheits- und Deviationsmomente für die direkte Stabilierung eine wichtige Rolle spielen [36]. Daneben liegen natürlich auf aerodynamischem Gebiet die wesentlichen Grundlagen für das Verhalten der heutigen »stabilen« Flugzeugtypen.


Literatur: [21] Eine neuere elementare Monographie über den Kreisel ist: H. Crabtree: Theory of spinning tops and gyroscopic motion, London 1909. – [22] Ebenso eine auf die Anwendungen hinzielende Darstellung: E.W. Bogaert, L'Effet gyrostatique et ses applications, Brüssel, Paris 1912. – [23] Inzwischen erschien (vgl. [3]) das letzte Heft v. Klein-Sommerfeld, Theorie des Kreisels (IV, enthaltend die technischen Anwendungen, bearb. v. F. Noether) 1910. – [24] Vortrag v. Anschütz-Kämpfe, Jahrbuch d. schiffbautechnischen Ges. X. 1909, S. 352. Mit theor. Anhang (Max Schüler), S. 561. – [25] Vortrag v. O. Schlick, ebend. X. 1909, S. 111. – [26] A. Föppl, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 50 (1906) S. 2048. – [27] A. Föppl, Vorl. über technische Mechanik, VI. (1910). – [28] F. Berger, Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 50 (1906), S. 982. – [29] A. Föppl, ebend., S. 983. – [30] R. Skutsch, ebend. 52 (1908), S. 464. – [31] D.R.P. Nr. 174402. Brennan Monorail Railway Engineering 1907, I. 1910, I. – [32] Monorail Scherl, Scientific American, 1910 u. Zeitschr. d. Ver. deutsch. Ing. 54 (1910), S. 1738. – [33] A. Föppl, Zur Theorie des Kreiselwagens der Einschienenbahn. Elektrotechnische Zeitschrift 1910. – [34] L. Prandtl: Einige für die Flugtechnik wichtige Beziehungen aus der Mechanik, Zeitschr. für Flugtechnik und Motorluftschiffahrt, 1 (1910). – [35] z.B. Carpentier: Comptes rendus de l'Académie des Sciences, Paris, t. 150 (1910), S. 829. Girardville, ebend. t. 152 (1911), S. 127, u. Aérophile, 1911, S. 84. – [36] Z.B.W. Deimler, Stabilitätsuntersuchungen über symmetrische Gleitflieger. Zeitschr. für Flugtechnik 1 (1910). K. Gehlen, Querstabilität von Flugzeugen, ebend. 4 (1913). – [37] Sperry-Gyrokompaß, Engineering 1912, 1, S. 722.

F. Noether.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 9 Stuttgart, Leipzig 1914., S. 457-459.
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