Aussatz

[148] Aussatz (Lepra Arabum, Elephantiasis Graecorum, Zaraat bei Moses, Leuke bei den Griechen, Morphala bei den Ärzten des Mittelalters, Miselsucht, Krimsche Krankheit), eine allgemeine, meist chr nisch verlaufende Infektionskrankheit, die dusch den Leprabazillus hervorgerufen wird. Der Baull iis wurde von Armauer Hansen entdeckt und stimmt in seinem Verhalten gegenüber Farbstoffen mit dem Tuberkelbazillus überein. Der A. tritt in zwei Formen, der knotigen (tuberösen) und der fleckigen (makulösen), auf. Bei der tuberösen Form entstehen Lepraknoten in der äußern Haut, auf den Schleimhäuten des Mundes, der Nase und der Augen. Später werden auch die innern Organe mit wenigen Ausnahmen befallen. Diese braunroten, von Erbsen- bis Nußgröße wechselnden Knoten können lange Zeit unverändert bleiben, in andern Fällen zerfallen sie geschwürig. Die knotige Form setzt oft mit leichten Fiebererscheinungen ein, und auch spätern Schüben gehen wieder Temperatursteigerungen und allgemein es Unbehagen voraus. Die Dauer der Erkrankung beträgt 8–10 Jahre. Die Kranken sterben im Zustande tiefster Ersch opfung, sehr häufig erblinden sie vorher durch Knotenbildung an den Augen oder durch Entzündungen der Iris. Bei der augenscheinlich mildern makulösanästhetischen Form treten keine Knoten, sondern nur rotbraune Flecke in der Haut auf. Die Affektionen lokalisieren sich vorzugsweise in den peripheren Nerven. Die anfänglichen roten Flecke, die übrigens später wieder verschwinden können, werden gefühllos,[148] und oft gesellt sich Atrophie der Muskulatur hinzu (Lepra nervosa). Infolge der Gefühllosigkeit verletzen sich die Kranken häufig, es entstehen an den gefühllosen Stellen vielfach Geschwüre, die um sich greifen, ja zum brandigen Absterben einzelner Gliedmaßen führen (Lepra articulorum mutilans). Der A. ist in beiden Formen als ansteckend zu bezeichnen, wenn auch wohl erst bei längerm und intimerm Verkehr. Erblich ist er nicht, doch werden die Kinder, die mit den Eltern zusammenleben, gewöhnlich von diesen angesteckt. Auf welchem Wege die Ansteckung erfolgt, ist nicht bekannt, doch enthält namentlich der Nasenschleim Lepröser Leprabazillen in großer Menge.

Der A. war im Altertum gut bekannt. Im Mittelalter und besonders nach den Kreuzzügen wurde er zu einer Volkskrankheit in Mitteleuropa; er erreichte den Höhepunkt seiner Ausbreitung im 13. Jahrh. und verschwand erst im 17. Jahrh. infolge der rigorosen Absperrungsmaßregeln. Man errichtete schon sehr früh Aussatzspitäler (Leproserien, Maladreries, Meselleries, Lazaretti, Sondersiechenhäuser, Gutleutehäuser), um die Kranken zu isolieren. Schon Gregor von Tours gründete 564 solche Asyle, im 12. und 13. Jahrh. gab es in Frankreich allein 2000 und in der ganzen christlichen Welt 19,000. Die Spitäler lagen meist vor der Stadt, sie waren in Norddeutschland gewöhnlich dem heil. Georg geweiht. Die noch jetzt vielfach als Kranken- oder Siechenhäuser existierenden Georgs-, St. Jürgen- und Lazarusspitäler sind meist aus alten Leproserien entstanden. Aussätzige wurden im Mittelalter vielfach als bürgerlich tot erklärt, sie durften nicht heiraten, sie trugen ein besonderes Gewand, vielfach mußten sie durch eine Klapper (Lazarusklapper) vor ihrer Annäherung warnen, und jedenfalls waren sie von jedem Verkehr ausgeschlossen. Durch diese gewiß oft grausame Härte gelang es aber, des Aussatzes Herr zu werden und ihn endlich ganz zu tilgen. Gemildert wurde die rücksichtslose Isolation durch die großartige Wohltätigkeit des Mittelalters. Die Leproserien wurden mit reichen Stiftungen bedacht. Ganze Orden, z. B. die Lazaristen, widmeten sich der Pflege der Aussätzigen. Heute ist der A. in Europa nur noch in einzelnen Strichen Südeuropas (in Frankreich unter 100,000 Wehrpflichtigen etwa 7,7 Aussätzige) und in Skandinavien sowie den russischen Ostseeprovinzen heimisch. Eingeschleppt wurde er von den letztern aus in den Kreis Memel vor ungefähr 30 Jahren, es sind dort einige 30 Fälle bekannt geworden. Im Orient, in Nordamerika, auf den Inseln des Stillen Ozeans kommt der A. auch heute noch häufig vor.

Ein Mittel gegen den A. kennen wir nicht, wenn auch spontane Heilungen, namentlich bei der makulösanästhetischen Form, vorkommen. Die internationale Leprakonferenz, die 1897 in Berlin tagte, sprach sich für zwangsweise Isolierung der Leprakranken aus, indem man sich namentlich auf die trefflichen Erfolge der Norweger in dieser Richtung berief. Für den Kreis Memel wurde 1899 ein modern eingerichtetes Lepraasyl eröffnet, in dem die dort bekannten Leprakranken Aufnahme fanden. Da halbjährlich die Angehörigen sämtlicher Leprakranken auf ihren Gesundheitszustand untersucht werden, so steht wohl zu hoffen, daß der Memeler Herd binnen weniger Jahre erlöschen wird. In Livland unterhält eine Gesellschaft zur Bekämpfung des Aussatzes vier Hospitäler mit zusammen 280 Krankenbetten und 168 Aussätzigen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß gelegentlich A. wieder nach Deutschland eingeschleppt wird, aber es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß es zur Ausbreitung oder Bildung neuer Herde kommen wird. Vgl. »Mitteilungen und Verhandlungen der internationalen Leprakonferenz« (Berl. 1897); R. Koch, Die Lepraerkrankungen im Kreise Memel (Jena 1897); Blaschko, Die Lepra im Kreise Memel (Berl. 1897); Sticker, Mitteilungen über Lepra (in der »Münchner medizinischen Wochenschrift« 1897); Kirchner, Aussatzhäuser sonst und jetzt (in der »Berliner klinischen Wochenschrift« 1900); Häser, Lehrbuch der Geschichte der Medizin und der epidemischen Krankheiten, Bd. 2 (3. Aufl., Jena 1880); Hecker, Volkskrankheiten des Mittelalters (Berl. 1865); »Lepra. Bibliotheca internationalis« (Leipz. 1900 ff.).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 148-149.
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