Bilderschrift

[860] Bilderschrift (Piktographie; hierzu die Tafel »Indianische Bilderschrift«), vor Erfindung der Buchstabenschrift das nächstliegende Hilfsmittel, um Geschehenes, Nachrichten, Wünsche, Befehle etc. an ferne Personen oder auch an die Nachwelt gelangen zu lassen. Dahin gehören auf Denk- und Grabsteinen oder auf Felswänden eingeritzte Bilder (Petroglyphen), Einritzungen, Zeichnungen und Malereien auf Geweihen, Walroßzähnen und Knochen (bei den Eskimos), Holztafeln, Rindenstücken, Tierhaut und Gewebstoffen (vgl. »Kunst der Naturvölker«, Tafel II, Fig. 4 und 25–27). B. findet man aus der Vor- und Jetztwelt bei allen Naturvölkern, die eine gewisse Kulturstufe erreicht haben, z. B. auf Felsen und megalithischen Denkmälern Englands und Skandinaviens, wie diejenigen von Bohuslän und auf dem Kiwik-Monument in Schonen, an vielen Orten Afrikas, in Arizona, Colorado, New Mexico, Kolumbien, Venezuela, Guayana u. a. Oft sind die Bilder in härtesten Granit und, z. B. an den Ufern des Orinoko, so hoch an den steilen Felswänden eingeritzt, daß die Volkssage sie von Leuten, die bei der »großen Flut« mit Kähnen da oben fuhren, ableitet. Im weitern Sinne lassen sich auch hierher die Sandmalereien (s. d.) der Indianer, die nur für ihre Festzeiten Bestand haben, die redenden Zeichen bei der Tätowierung etc. ziehen. Ursprünglich sind die Zeichnungen möglichst naturalistisch und dem Sinne nach leicht zu entziffern; dann aber mischen sich Zeichen ein, die nur dem Stamm selbst bekannt sein können, obwohl die Deutung meist naheliegend und daher nicht schwer ist. So bezeichnen die nordamerikanischen Indianer in ihren Rindenbriefen die Zahl der zu einem Unternehmen vereinigten Personen durch rohe menschliche Figuren, die oft durch ihre Totemtiere (s. Totem) wie durch Wappen genauer charakterisiert sind. Rot angemalte Glieder bezeichnen dabei entsprechende Verwundungen, Fehlen des Kopfes, daß sie getötet wurden. Pfeile und Sonnenbilder deuten Richtung u. Tagereisen (Dauer) des Zuges, Kähne Flußübergänge an. Auch ganze Geschichtserzählungen, Gesänge u. dgl. werden bildlich fixiert, z. B. auf der innern Seite der Fellmäntel bei den Prärie-Indianern. Auch die »Winterzählungen« der Dakotas, bei denen jedes Jahr durch ein hervorragendes Ereignis in spiralförmiger Anordnung bezeichnet war, gehören hierher. Von historischem Interesse ist das Walam-Olum (»bemalte Brett«) der Lenape-Indianer, das die Schicksale dieses Stammes von seiner Auswanderung aus einer nördlichen Heimat an, seine Kriege etc. bis zu seiner Niederlassung im östlichen Pennsylvanien und Ankunft der Weißen schildert. Die Odschibwä-Indianer reichten noch 1849 eine piktographische Bittschrift beim Kongreß m Washington ein. Bei den Völkern Mittelamerikas war die B. bereits viel weiter entwickelt, so daß z. B. bei der Landung des Cortez geschickte Bild- und Schriftmaler die neuen Ereignisse sofort und mit großer Geschicklichkeit auf baumwollenen Geweben darstellten, um sie an Montezuma zu senden. Die amerikanischen Zauberer bedienten sich zur Unterstützung ihres Gedächtnisses solcher Schriftmalereien für ihre Zaubergesänge, wobei aber die einzelnen Darstellungen nicht vielmehr als mnemotechnische Hilfsmittel sind, um Inhalt und Reihenfolge der Verse ihrer Gesänge ins [860] Gedächtnis zurückzurufen. Die B. eines solchen Zaubergesanges der Wabino-Genossenschaft unter den Odschibwä-Indianern von 38 Strophen stellt die beifolgende Tafel dar. Auch hier beruht die Bedeutung vieler Zeichen schon auf Lehre und Übereinkunft. Aus der Vereinfachung und Schematisierung solcher konventioneller Bilder sind vielleicht die ältesten Wort-, Silben- und Buchstabenschriften hervorgegangen, namentlich bei den Chinesen und alten Ägyptern. Die Maya-B. der Mexikaner und die Holztafelnschriften der Osterinseln zeigen solche Übergänge. Die alten Mexikaner wußten lateinische Gebete niederzuschreiben, indem sie ihre Bilderschrift als Laut- und Silbenschrift benutzten (vgl. Schrift). Viele Beispiele solcher Bilderschriften findet man wiedergegeben in dem großen Indianerwerk von H. R. Schoolcraft (s. d.), ferner in Lubbocks »Urgeschichte der Zivilisation« (deutsch, Jena 1875) und R. Andrees »Ethnographischen Parallelen und Vergleichen« (Stuttg. 1878). Vgl. Mallery, Pictographs of the North-American-Indians (»Annual Reports of the Bureau of Ethnology IV«, Washingt. 1886) und »Picture writing of the American-Indians« (ebenda X, 1893). Über die B. der Osterinseln s. den »Annual Report of the National Museum (Smithsonian Institution) for 1888/89« (Washingt. 1891).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 860-861.
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