Kongreß

[374] Kongreß (lat., »Zusammenkunft«), Bezeichnung für die Volksvertretung verschiedener zu einem Bundesstaat vereinigter Staaten, wie der gesetzgebenden Versammlung der nordamerikanischen Union, von [374] Zentralamerika und mehrerer südamerikanischer Republiken; ferner Bezeichnung für die zu gemeinsamer Beratung zusammentretenden parlamentarischen Körperschaften in Frankreich, den Senat und die Deputiertenkammer; auch Versammlung von Bevollmächtigten oder von Häuptern mehrerer unabhängiger Staaten zur Verhandlung und Beschlußfassung über gemeinsame Interessen. Von einer Konferenz (s. d.) wird ein K. meist insofern unterschieden, als auf ersterer meistens nur Beratungen ohne Beschlußfassung stattfinden; doch ist der Sprachgebrauch in dieser Hinsicht nicht feststehend. Nehmen die Fürsten selbst an den Verhandlungen eines Kongresses teil, so spricht man von einem Monarchenkongreß. Um keinem Mitglied ein Übergewicht zu geben, wählt man gern neutrale Gebiete oder erklärt den Ort des Kongresses für die Zeit der Verhandlungen für neutral (wie 1807 Tilsit). Durch den sogen. Präliminarkongreß werden die Vorfragen über die Geschäftsform, das Präsidium u. dgl. erledigt, nachdem die Prüfung der Vollmachten vorgenommen worden ist. Die Rangfolge der Gesandten und der ihnen beigegebenen Geschäftsmänner richtet sich nach der bestehenden diplomatischen Ordnung. Früher entstanden über diese Frage vielfache Streitigkeiten, seit 1815 läßt man meistens das Alphabet entscheiden. Um eine möglichst rasche Verständigung herbeizuführen, finden vor der entscheidenden Beratung in der Plenarsitzung vorbereitende vertrauliche Besprechungen und schriftliche Erörterungen statt, die durch gegenseitige Zugeständnisse und Verzichtleistungen die wünschenswerte Einigung anbahnen. Sind die den K. beschäftigenden Angelegenheiten sehr ausgedehnt, so bildet er verschiedene Ausschüsse, die über die ihnen zugeteilten Gegenstände vorbereitende Beratungen (Kommissionssitzungen) halten. Die endlichen Beschlüsse werden in einer Haupturkunde (Kongreßakte, Schlußakte, Generalakte) zusammengestellt und von den Hauptbevollmächtigten unterzeichnet; neuestens wird regelmäßig den bei der fraglichen Sache interessierten, jedoch auf dem K. nicht vertretenen Staaten der Beitritt offen gelassen. Wenn man von dem Namen und von der modernen Form der Kongresse, wie sie sich seit dem Westfälischen Frieden ausgebildet hat, absieht, so hat es schon in den ältesten Zeiten Kongresse gegeben. Die Geschichte Griechenlands kennt viele derartige Versammlungen, weniger die römische. Im Mittelalter waren die Kirchenversammlungen ungefähr das, was allmählich die Kongresse wurden; stark mit weltlichen Elementen vermischt war namentlich die Kirchenversammlung zu Konstanz (1414–18), auf welcher der Kaiser selbst mit 26 Fürsten und 180 Grafen erschien. Den ersten rein diplomatischen K. finden wir in dem zu Cambrai 1508. Einer der wichtigsten ist der zu Münster und Osnabrück (1644–48), der zum Abschluß des Westfälischen Friedens führte. Den Krieg zwischen Frankreich und Spanien beendigte der Pyrenäische K. (1659). In die Periode Ludwigs XIV. gehören die Kongresse zu Oliva (1660), die nordischen Verhältnisse betreffend, zu Breda (1667), durch den der Krieg zwischen England und Holland (1664–67) beendigt wurde, zu Aachen (1668), zu Köln und Nimwegen (1674 und 1676–79), zu Ryswyk (1697), zu Utrecht (1712–13), zu Rastatt und Baden (1713–1714), zu Antwerpen (1715), auf dem der Barrieretraktat (s. d.) zustande kam, zu Passarowitz (1718), auf Aland, zu Stockholm und Nystad (1718–21). Der K. von Aachen (1748) beendigte den achtjährigen Österreichischen Erbfolgekrieg, der zu Hubertusburg (1763) den Siebenjährigen Krieg. Den Gegensatz zwischen Österreich und Preußen betraf auch der K. zu Teschen (1779). Der amerikanische Unabhängigkeitskrieg veranlaßte den K. zu Paris (1782), die niederländische Insurrektion den K. zu Reichenbach und Sistova (1790–91); den französischen Revolutionskriegen gehören an die Kongresse zu Pillnitz (1791), Rastatt (1797–99), Amiens (1801–02) und Erfurt (1808), letzterer der erste Monarchenkongreß. In die neuere Zeit fallen die Kongresse zu Wien (1814–15), Paris (1815), Aachen (1818), Karlsbad (1819), Wien (1819–20), Troppau (1820), Laibach (1821), Verona (1822), Paris (1856) sowie die uneigentlich Konferenzen genannten Kongresse zu Dresden (1851), Zürich (1859), London (1864) und der Frankfurter Fürstentag (1863). Aus der neuesten Zeit ist der Berliner K. (vom 13. Juni bis 13. Juli 1878) behufs Regelung der orientalischen Angelegenheiten von besonderer Wichtigkeit. Auch die Kongokonferenz in Berlin (1884/85) und die Antisklavereikonferenz in Brüssel (1889/90) hatten mehr den Charakter eines Kongresses. – Kongresse als frei gebildete Wanderversammlungen von Berufsgenossen, von Gelehrten und Dilettanten irgend einer Disziplin, zur gegenseitigen Belehrung oder zur Agitation zugunsten der Durchführung gemeinsamer Interessen oder gesetzgeberischer Forderungen, sind eine Einrichtung, die namentlich in Deutschland tiefe Wurzeln geschlagen hat.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 11. Leipzig 1907, S. 374-375.
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