[905] Differentialgleichung, jede Gleichung, in der vorkommen: 1) gewisse, ganz beliebige Größen, die sogen. unabhängigen Veränderlichen, 2) gewisse Unbekannte, die sogen. abhängigen Veränderlichen, die als Funktionen der unabhängigen aufgefaßt werden, endlich 3) die Differentialquotienten (s. Differentialrechnung, S. 906) der abhängigen Veränderlichen nach den unabhängigen. Je nachdem die Zahl der unabhängigen Veränderlichen gleich 1 oder größer als 1 ist, nennt man die D. gewöhnlich oder partiell. Die D. ist gelöst oder integriert, wenn man die abhängigen Veränderlichen auf jede mögliche Weise so als Funktionen der unabhängigen bestimmt hat, daß die D. bei Einsetzung dieser Funktionen die Gestalt 0 = 0 annimmt oder, wie man sagt, identisch befriedigt wird. Die Lehre von den Differentialgleichungen bildet den umfangreichsten und wichtigsten Teil des Gebietes der höhern Mathematik, das aus der Differential- und Integralrechnung hervorgegangen ist. Unzählige geometrische Aufgaben und nahezu alle Aufgaben der Mechanik, der Astronomie und der mathematischen Physik kommen auf Differentialgleichungen hinaus. Zu diesen Differentialgleichungen treten dann noch gewisse Anfangsbedingungen hinzu, die erst vollständig bestimmen, welche unter den unendlich vielen Funktionen, die die gefundenen Differentialgleichungen befriedigen, den Anforderungen der betreffenden Aufgabe entsprechen. Fragt man z. B. nach der Bewegung eines Punktes, der von einem festen Punkte nach dem Newtonschen Gravitationsgesetz, also umgekehrt proportional dem Quadrat der Entfernung angezogen wird, so kommt man auf Differentialgleichungen, aus denen hervorgeht, daß der Punkt einen Kegelschnitt beschreibt. Welcher bestimmte Kegelschnitt von dem Punkte beschrieben wird, kann man dagegen erst angeben, wenn noch für irgend einen Zeitpunkt die Lage des Punktes und die Größe und Richtung seiner Geschwindigkeit bekannt ist. In der Lehre von den Differentialgleichungen kann man drei verschiedene Richtungen unterscheiden: Die erste, für die L. Euler in seinen »Institutiones Calculi integralis« vorbildlich ist, sucht durch Kunstgriffe zur Integration der D. zu gelangen, muß sich aber meistens damit begnügen, einzelne Klassen von Differentialgleichungen anzugeben, die sich integrieren lassen, oder schwierige Differentialgleichungen auf einfachere zurückzuführen. Die zweite Richtung, die funktionentheoretische, fragt nach der Natur der Funktionen, die einer vorgelegten D. genügen, und umgekehrt nach den Differentialgleichungen, die durch bekannte Klassen von Funktionen befriedigt werden können. Diese auf den Untersuchungen von Cauchy, Riemann und Weierstraß fußende Richtung ist besonders durch Fuchs und dessen Nachfolger ausgebildet worden. Eine zusammenfassende Darstellung vieler hierher gehöriger Untersuchungen gibt Schlesinger, Handbuch der Theorie der linearen Differentialgleichungen (Leipz. 1898, 2 Bde.). Die gruppentheoretische Richtung endlich, von Lie begründet, geht darauf aus, die Kunstgriffe der ersten Richtung in ein System zu bringen, sie lehrt entscheiden, wann eine vorgelegte D. in eine andre übergeführt werden kann, und zeigt, welches die einfachsten Hilfsdifferentialgleichungen sind, die man integrieren muß, um eine D. mit gewissen bekannten Eigenschaften zu lösen. Vgl. Lie, Vorlesungen über Differentialgleichungen mit bekannten infinitesimalen Transformationen (Leipz. 1891).