Mechānik [1]

[494] Mechānik (griech., von mēchanē, »Werkzeug, Maschine«), die Wissenschaft von den Gesetzen des Gleichgewichts und der Bewegung der Körper. Sie zerfällt in die Statik oder die Lehre vom Gleichgewicht und in die Dynamik oder die Lehre von der Bewegung der Körper. Die rein mathematische Bewegungslehre wird auch Kinematik oder Phoronomie genannt. Die geometrische Kinematik unterscheidet sich von der Geometrie nur durch das Hinzutreten des Zeitbegriffs, die Massenkinematik nimmt auch den Begriff der Masse hinzu. Die Statik kann als Spezialfall der Dynamik betrachtet werden (Verschwinden aller Kraftkomponenten), neben der Kinetik, der eigentlichen Dynamik, und der Kinetostatik, die sich speziell mit der Bestimmung der inneren Spannungen und Reaktionen in den Gelenken und Lagern bewegter Systeme (Maschinen) beschäftigt.[494] Die wissenschaftliche M. beruht auf wenigen einfachen, auf Erfahrung begründeten Grundgesetzen, die als »Prinzipien der M.« bezeichnet werden und zuerst von Galilei erkannt und von Newton in seinem berühmten Werke »Philosophiae naturalis principia mathematica« mit voller Schärfe ausgesprochen und als Grundlage der systematischen Entwickelung der M. hingestellt wurden. Die Gesetze sind, mit Newtons eignen Worten, die folgenden drei: 1) Das Gesetz der Trägheit oder des Beharrungsvermögens: »Jeder Körper verharrt in seinem Zustand der Ruhe oder der gleichförmigen Bewegung in geradliniger Bahn, solange er nicht durch einwirkende Kräfte gezwungen wird, diesen Zustand zu ändern.« 2) »Die Änderung der Bewegung ist der einwirkenden Kraft proportional und findet in der Richtung der Geraden statt, in der die Kraft einwirkt, gleichgültig, ob die Kraft allein wirkt oder zugleich mit andern.« Aus diesem Gesetz ergibt sich als Folgerung der Satz der Superposition sowie vom Parallelogramm der Kräfte, nach dem zwei Kräfte (Komponenten), die an einem Punkt angreifen, durch eine einzige Kraft (Resultante) ersetzt werden können, die der Größe und Richtung nach der Diogonale des aus den Komponenten konstruierten Parallelogramms gleich ist. 3) Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung: »Bei jeder Wirkung ist immer eine gleiche und entgegengesetzte Gegenwirkung vorhanden, oder die Wirkungen, die irgend zwei Körper auseinander ausüben, sind immer gleich und entgegengesetzt gerichtet.« Zu diesen drei Newtonschen Prinzipien kommt noch 4) das Prinzip der Erhaltung der Energie (s. Energie, S. 780), das zwar auch schon von Newton geahnt, aber erst in neuerer Zeit nach Entdeckung der Äquivalenz von Arbeit und Wärme (Robert Mayer) in seiner vollen Tragweite erkannt wurde. Aus diesen Prinzipien läßt sich das ganze Lehrgebäude der M. durch bloße Denkprozesse, mit Hilfe der höhern mathematischen Analyse (Differential- und Integralrechnung) entwickeln, insbes. ergeben sich daraus weitere allgemeine Sätze (Prinzipe), z. B. der Satz von der Bewegung des Schwerpunktes, der Flächensatz, das Prinzip der virtuellen Verschiebungen, das Prinzip des kleinsten Zwanges, das Prinzip des kleinsten Kraftaufwandes, das d'Alembertsche Prinzip, der Hamiltonsche Satz etc. In dieser besonders sachgemäßen und allein erschöpfenden mathematischen Darstellung heißt die M. analytische M., zum Unterschied von der elementaren und von der angewandten M.

Die ersten geschichtlichen Anfänge der M. entsprangen jedenfalls dem praktischen Bedürfnis. Daß schon die Babylonier, die Ägypter und andre Nationen des Altertums beträchtliche Kenntnisse in der praktischen M. besessen haben müssen, beweist der Bau der Pyramiden, die Errichtung der Obelisken und andrer Bauwerke, welche die Hebung und Fortbewegung großer Lasten durch kleine Kräfte nötig machten. Die theoretische M. aber entwickelte sich zuerst bei den Griechen, unter denen Archimedes (gest. 212 v. Chr.) als ihr Begründer anzusehen ist; er entdeckte das Hebelgesetz, den Auftrieb der Flüssigkeiten und ist der Urheber der Idee vom Schwerpunkt. Von seinen praktischen Erfindungen sind besonders der Flaschenzug (Polyspast), die Schraube ohne Ende und das Aräometer hervorzuheben. Unter den alexandrinischen Gelehrten haben sich namentlich Ktesibios und sein Schüler Heron um die M. verdient gemacht; der letztere führte alle mechanischen Vorrichtungen auf die Theorie des Hebels zurück, konstruierte verschiedene aus Hebeln und Zahnrädern zusammengesetzte Maschinen und erfand mehrere noch heute nach ihm benannte Apparate (Heronsball, Heronsbrunnen, Äolipile). In spätern Zeiten haben sich Isidorus von Milet, Anthemius und der jüngere Heron durch Erfindung von Kriegsmaschinen hervorgetan. Im Mittelalter scheinen die mechanischen Wissenschaften gänzlich in Vergessenheit geraten zu sein; man findet weder bei den Arabern noch im Abendland Spuren von mechanischen Kenntnissen. Selbst im 16. Jahrh. waren die Fortschritte der theoretischen M. noch unbedeutend. Doch ward die Statik von Guido Ubaldi und Marchese del Monte mit ziemlichem Glück bearbeitet und ganz auf das Gesetz des Hebels zurückgeführt; auch fanden Tartalea und Benedetti einige richtige Sätze der Lehre von den geworfenen Körpern. Simon Stevinus entdeckte das Gesetz des Gleichgewichts auf der schiefen Ebene, erfand die sinnreiche Methode, die Größe der Kräfte durch gerade, ihrer Richtung parallel laufende Linien auszudrücken, und kam dadurch auf den Satz des Gleichgewichtes zwischen drei Kräften (Parallelogramm der Kräfte). Die glänzende Epoche der M. aber beginnt mit Galilei, der durch die Entdeckung der Fallgesetze den Grund zur höhern oder analytischen M. legte, von der er schon selbst einige Lehren, z. B. vom parabolischen Wege geworfener Körper, von der Bewegung der Pendel, vom Widerstand fester Körper, entwickelte. In der ersten Hälfte des 17. Jahrh. wurde die höhere M. durch Torricelli, Baliani, Borelli in Italien sowie durch Roberval und Descartes in Frankreich weiter ausgebildet. Huygens wandte zuerst das Pendel an, um den Gang der Uhren gleichförmig zu machen, entdeckte die merkwürdigen Eigenschaften, die der Zykloide hierbei zukommen, erweiterte und berichtigte die Theorien vom Mittelpunkt des Schwunges und des Stoßes und entdeckte die Gesetze über die Zentralbewegung. Wallis und Wren fanden die Sätze vom Stoß unelastischer, bez. elastischer Körper. Endlich vollendete Newton durch seine Entdeckungen das Gebäude der höhern M. Er behandelte die Lehre von den krummlinigen Zentralbewegungen in der größten Allgemeinheit und entwarf zuerst eine vollständige Theorie der Bewegungen in widerstehenden Mitteln. Er unterschied zuerst die höhere M. ausdrücklich von der gemeinen oder der Maschinenlehre, und seitdem hat man den Unterschied genau zu beobachten fortgefahren. Von nun an ward die höhere M. mit Hilfe der Rechnung des Unendlichen immer ansehnlicher erweitert. Man pflegte sich damals Aufgaben vorzulegen, an deren Auflösung die Mathematiker ihre Methoden prüfen konnten. Dahin gehören die mechanischen Probleme von den isochronischen Kurven, der Kettenlinie, der elastischen Kurve, der Linie des kürzesten Falles, der Figur des kleinsten Widerstandes etc., woran Huygens, Leibniz, Jakob und Johann Bernoulli, L'Hôpital, Fatio de Duillier, Saurin u. a. ihre Kräfte übten. Hermann trug die Lehren der höhern M. synthetisch, Euler hingegen analytisch vor. Johann Bernoulli fand das Prinzip der virtuellen Verschiebungen, d'Alembert das der verlornen, d. h. unter sich im Gleichgewicht befindlichen Kräfte; Lagrange vereinigte beide zu einer einzigen Formel und leitet in seiner »Mécanique analytique« aus dieser die ganze Statik und Dynamik ab; Laplace wendete in seiner »Mécanique céleste« die Bewegungsgesetze auf das Planetensystem an. Die analytische M. wurde ferner noch durch Navier, Poisson und Poinsot, durch Hamilton, Green[495] und Maxwell, durch Gauß, Jacobi, Möbius und Kirchhoff wesentlich gefördert. Auch die Maschinenlehre hat seit Newton eine neue Gestalt gewonnen. In England zeichneten sich in der angewandten M. D. Hook und Desaguliers, in Frankreich Hautefeuille, Varignon, de la Hire, Amontons, Parent, Camus, Coriolis, Poncelet, Morin u. a., in Deutschland Gerstner, Woltmann, Eytelwein, Redtenbacher, Weißbach, Zeuner und Reuleaux aus. Die Ausbildung der graphischen Statik (Culmann, Ritter, Cremona, Mohr, Henneberg, Föppl, Müller-Breslau, Land, Gräbler, Hauck) ermöglichte Gleichgewichtsbedingungen und Kräfte auf dem einfachern graphischen Wege zu ermitteln, und die Trennung der Kinematik (Monge, Ampère, Willis, Reuleaux, G. Herrmann, Rodinger) von Statik und Dynamik ergab manche Vereinfachungen bei der Behandlung von Bewegungsproblemen. In neuester Zeit findet indes auch die analytische M. ausgedehnte Anwendung in der Maschinentechnik, insbes. veranlaßt durch die Konstruktion rasch laufender Dampfmaschinen für elektrotechnische Zwecke und erschütterungsfreier Schiffsmaschinen (Wischnegradsky, Stodola, Lorenz), so daß die technische M. keineswegs mehr als gemeine M. der höhern M. gegenübergestellt werden kann.

Vgl. die angegebenen Werke von Laplace (s. d.) und Lagrange (s. d.); die »Mechanica sc. Motus scientia« von Leonhard Euler (s. d.); Poisson, Traité de mécanique (Par. 1819, 2. Aufl. 1833; Bd. 1, deutsch von Pfannstiel, Dortm. 1890); Duhamel, Lehrbuch der analytischen M. (bearbeitet von Schlömilch, 2. Aufl., Leipz. 1861, 2 Bde.); Decher, Handbuch der rationellen M. (Augsb. 1851–61, 4 Bde.); H. Klein, Die Prinzipien der M. (Leipz. 1872); Redtenbacher, Die geistige Bedeutung der M. (Münch. 1879); Salcher, Elemente der theoretischen M. (Wien 1881); Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte (2. Aufl., Leipz. 1879–80, 2 Bde.); Jacobi, Vorlesungen über Dynamik (hrsg. von Clebsch, 2. Ausg., Berl. 1884); Kirchhoff, Vorlesungen über mathematische Physik: M. (4. Aufl., Leipz. 1897); Streintz, Die physikalischen Grundlagen der M. (das. 1883); Fuhrmann, Aufgaben aus der analytischen M. (3. Aufl., das. 1904, 2 Bde.); Ritter, Lehrbuch der analytischen M. (3. Aufl., das. 1898); Helm, Die Elemente der M. (das. 1884); Kraft, Sammlung von Problemen der analytischen M. (Stuttg. 1885, 2 Bde.); Schellen, Die Schule der Elementartechnik (4. Aufl., Braunschw. 1878); Lauenstein, Die M., elementares Lehrbuch (6. Aufl., Stuttg. 1904); Hertz, Die Prinzipien der M. in neuem Zusammenhange dargestellt (Leipz. 1894); Mach, Die M. in ihrer Entwickelung (5. Aufl., das. 1904); Dühring, Kritische Geschichte der allgemeinen Prinzipien der M. (3. Aufl., das. 1887); Boltzmann, Vorlesungen über die Prinzipe der M. (das. 1897–1904, 2 Bde.); Weisstein, Die rationelle M. (Wien 1898–99, 2 Bde.); Föppl, Vorlesungen über technische M. (3. Aufl., Leipz. 1905, 4 Bde.) 7 Wernicke, Lehrbuch der M. (1. Teil, 4. Aufl., Braunschw. 1900–03; 2. Teil, 3. Aufl. 1900); Königsberger, Die Prinzipien der M. (Leipz. 1901); Heun, Formeln und Lehrsätze der allgemeinen M. (das. 1902); Lorenz, Lehrbuch der technischen Physik, 1. Bd.: Technische M. (Münch. 1902); Sturm, Cours de mécanique (5. Aufl., neuer Abdruck, Par. 1905; deutsch von Groß, Berl. 1900, 2 Bde.); Autenrieth, Technische M. für Maschinen- und Bauingenieure (das. 1900); Tallqvist, Lehrbuch der technischen M. (Helsingfors u. Zürich 1903, 2 Bde.); Webster, The dynamics of particles and of rigid, elastic and fluid bodies (Lond. 1904).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 13. Leipzig 1908, S. 494-496.
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