[441] Lesen (nach dem lat. legere; beides eigentlich soviel wie sammeln), die Kunst, aus sichtbaren Zeichen der Sprachlaute (Buchstaben) diese selbst und dadurch die von andern in Schrift oder Druck niedergelegten Gedanken zu erkennen. Dem entsprechend ist das L. einer der ersten und wichtigsten Gegenstände des Unterrichts der Kinder. Die beste Art, das L. dem Schüler beizubringen, war im Laufe der letzten beiden Jahrhunderte ein Lieblingskapitel der Pädagogik. In älterer Zeit herrschte allgemein die jetzt verworfene Buchstabiermethode. Man prägte zuerst aus der sogen. Fibel die Buchstaben des gedruckten Alphabets mit ihren Namen ein und lehrte dann deren Zusammensetzung und Aussprache in Silben und Wörtern. Erst nachdem darin eine gewisse Sicherheit erzielt war, begann der Unterricht im Schreiben. Diese rein mechanische Weise des ersten Leseunterrichts enthält den doppelten Fehler, das L. aus seiner natürlichen engen Verbindung mit dem Schreiben zu reißen und von willkürlichen Zeichen und Namen (Buchstaben), statt von der Sache selbst (Lauten), auszugehen. Die Schwierigkeiten, die daraus folgen, empfand man von jeher, ohne jedoch die Ursache zu erkennen. Schon die alten Römer gaben, um den Unterricht zu erleichtern, nach Quintilian den Kindern elfenbeinerne Buchstaben zum Spielen. Ähnliches empfahl Locke; Basedow ließ die Buchstaben backen und von den Kindern essen. Pestalozzi, der die Buchstabiermethode zur Syllabiermethode zu erheben suchte, brachte Papptäfelchen mit großgedruckten Buchstaben auf, die man trennen und verbinden kann. Seit dem 16. Jahrh. erfuhr die herkömmliche Methode viel Widerspruch. So von Valentin Ickelsamer (1534), Zeidler (1700), Vensky (1721), dem pseudonymen Nachsinner (1735), Hecker, Trapp (1780) und namentlich von Samuel Heinicke, dem Begründer des Taubstummenunterrichts in Deutschland. Im Kreise der Philanthropen beschäftigte man sich viel mit Verbesserung des ersten Leseunterrichts. Besondern Ruf erwarb unter ihnen Olivier (s. d.) durch seine Lesemethode. Schon war man ziemlich allgemein zu dem Ergebnis gekommen, daß vom Lautwerte des Buchstabenzeichens auszugehen sei, als dies zuerst klar und folgerichtig von H. Stephani (»Kurzer Unterricht in der gründlichsten und leichtesten Methode, Kindern das L. zu lehren«, 1803) durchgeführt ward. Stephani (s. d.) wird daher als der Schöpfer der Lautiermethode betrachtet. Mit ihr verband sich nach anfänglicher Fehde der beiden Urheber etwa ein Jahrzehnt später J. B. Grasers Schreiblesemethode, für die jedoch, ebenso wie für jene, sich frühere Ansätze bei Radtke (s. d.) und bei einigen französischen Pädagogen (de Launey u.a.) seit der Mitte des 18. Jahrh. nachweisen lassen. Graser ging allerdings bei seiner ersten Anweisung von der seltsamen und bald abgestreiften Annahme aus, daß die Form der (lateinischen) Buchstaben auf einer Nachahmung der zu ihrer Aussprache erforderlichen Mundstellung beruhe. Während Stephani und Graser[441] von den einzelnen Lauten ausgehen und diese zusammensetzen lassen zu Silben und Wörtern (synthetische Methode), verlangte der Franzose Jacotot (s. d.), daß man beim ersten Leseunterricht vom Ganzen ausginge, das uns im Leben als solches entgegentritt, vom Satz. Nach ihm muß das Kind angeleitet werden, einen sinnvollen Satz in seine Wörter, diese in Silben, diese in Laute zu zerlegen. Erst wenn so die einzelnen Laute als solche zum Bewußtsein gekommen sind, kann wieder an ihre Zusammensetzung gegangen werden (analytische oder auch analytisch-synthetische Methode). Diese Methode wurde in Deutschland durch den Lehrer Seltzsam in Breslau (seit 1841) und den Schulrat Graffunder in Erfurt eingeführt. Direktor Vogel in Leipzig (seit 1843) veränderte sie insoweit, daß er nicht von ganzen Sätzen, sondern von sogen. Normalwörtern (Wortmethode) auszugehen empfahl. In dieser Gestalt ist die Jacototsche Methode in Deutschland weit verbreitet und mit der Zeit fast herrschend geworden, dies besonders durch die Bemühungen der sächsischen Schulmänner Berthelt, Jäkel, Petermann u.a., des Lehrers Böhme in Berlin, der preußischen Seminardirektoren Kehr und Jütting (Vogel-Böhmesche und Kehr-Schlimbachsche Methode). Die Methodiker sind übrigens noch fortwährend auf Vereinfachung und Verbesserung des ersten Leseunterrichts bedacht. Immer mehr Gebiet gewinnt die reine Schreiblesemethode, bei der die Kinder im Anfang nur eine Schrift, die (kleine) deutsche Schreibschrift, kennen lernen, womit übrigens große Verschiedenheit des Verfahrens vereinbar ist. Im weitern Verlauf des Leseunterrichts kommt es besonders auf ein dreifaches Ziel an: die Lautrichtigkeit, die Sinngemäßheit (logische Richtigkeit) und die Schönheit des Lesens. Danach hat man drei Stufen des Leseunterrichts (mechanisches, logisches, ästhetisches L.) unterschieden. Diese Stufen lassen jedoch sich nicht streng auseinander halten; auch liegt das ästhetische L. als Kunst außerhalb des Bereichs der Schule. Vgl. Kehr, Geschichte des Leseunterrichts (in Band 1 der »Geschichte der Methodik des deutschen Volksschulunterrichts«, 2. Aufl. von Fechner, Gotha 1887); Fechner, Grundriß der Geschichte der wichtigsten Leselehrarten (2. Aufl., Berl. 1900); für das ästhetische Lesen. Palleske, Die Kunst des Vortrags (3. Aufl., Stuttg. 1892); Benedix, Der mündliche Vortrag (3 Tle., in wiederholten Auflagen; 1. Tl. in 9. Aufl., Leipz. 1902).