Gräser

[239] Gräser (Gramineen, Süß- oder echte Gräser; hierzu Tafel »Gräser I-VI«), monokotyle Pflanzenfamilie aus der Ordnung der Glumifloren. Der Sproß bildet einen aufrechten, knotig gegliederten Halm (culmus) mit meistens hohlen Gliedern (Internodien), die durch massive Halmknoten getrennt sind. Durch Verzweigung am Grunde des Hauptsprosses (Bestockung) kann eine Pflanze mehrere Halme erzeugen. Das Wurzelsystem besteht ausschließlich aus faserigen Seitenwurzeln, die büschelig gedrängt aus den untern Halmknoten entspringen. Die abwechselnd zweizeilig an den Knoten entspringenden Blätter bilden in ihrem untern Teil eine Scheide (vagina), die das nächstobere Internodium umfaßt. Ihre Fläche ist einfach, ganzrandig und meist bandartig langgestreckt, von parallelen Nerven durchzogen. An der Übergangsstelle zwischen Scheide und Blattfläche entspringt bei sehr vielen Gräsern ein farbloses Blatthäutchen (ligula). Der Blütenstand besteht immer aus einer Vereinigung kurzgliederiger Einzelblütenstände, der Ährchen (Grasährchen, spicula, locusta). Je nachdem die Ährchen zu einer Ähre oder zu mehreren fingerartig gestellten Ähren, oder zu Rispen mit kürzern oder längern Seitenachsen in dem Gesamtblütenstand am Ende des Halmes vereinigt sind, unterscheidet man Ährengräser (z. B. Agropyrum, Tafel IV, Fig. 7; Lolium, Fig. 5 u. 8; Elymus, Fig. 6), Fingerährengräser (z. B. Cynodon, Tafel I, Fig. 3), Rispenährengräser (z. B. Phleum, Tafel I, Fig. 5, und Alopecurus, Fig. 8) und Rispengräser (z. B. Agrostis, Tafel I, Fig. 6 u. 7; Avena, Tafel II, Fig. 5; Briza, Tafel III, Fig. 2; Poa, Fig. 5, 6 u. 8). Beim Mais sind die Spindeln der Fingerähren der weiblichen Ährchen zu einem einfachen markigen Kolben verwachsen. Das einzelne Ährchen (Fig. 1, S. 240) trägt unten an seiner Spindel einige, meistens zwei trockenhäutige, spelzenartige Hochblätter, die Hüllspelzen (Kelchspelzen, Klappen, glumae steriles oder schlechtweg glumae, Balg, Fig. 1 bei h). Weiter oben folgen an der Ährenspindel abwechselnd zweizeilig gestellt einige (seltener nur eine) ähnlich beschaffene, bisweilen eine Granne tragende Hochblätter, Deckspelzen (glumae floriferae oder paleae inferiores, Fig. 1 bei d), die in ihren Achseln je eine Blüte tragen. An der stark verkürzten Achse der Einzelblüte entspringt ein mit dem Rücken zur Ährchenspindel gewendetes (adossiertes) dünnhäutiges Vorblatt, die Vorspelze (palea superior, Fig. 1 u. 2 bei v). Deck- und Vorspelze werden gemeinsam als Blüten- oder Kronspelzen bezeichnet. Die zwischen ihnen eingeschlossene Blüte (Fig. 2) besteht der Hauptsache nach aus drei (seltener zwei oder sechs[239] oder mehr) langfädigen Staubblättern und dem einsamigen Fruchtknoten mit zwei (seltener drei) meist sprengwedel- oder fiederförmigen Narben (Fig. 2, n). Als Rudiment der fehlenden Blütenhülle erscheinen zwei kleine, vorn unterhalb der Staubblätter stehende fleischige Schüppchen (Schwellkörperchen, lodiculae, Fig. 21), die zur Blütezeit die Deck- und Vorspelze auseinander drängen, so daß die Staubfäden mit den Antheren und die Narben des Fruchtknotens dem die Bestäubung vermittelnden Winde frei zugänglich werden. Neben Zwitterblüten kommen auch eingeschlechtige Blüten vor, die bisweilen (z. B. beim Mais) zu gesonderten weiblichen und männlichen Blütenständen vereinigt sind.

Die Frucht der G. ist eine Karyopse, selten eine Nuß- oder Beerenfrucht. Bei der Aussaat (s. d.) leisten die Spelzen und Grannen, die sich bei der Reise mitsamt der eingeschlossenen Frucht von der brüchigen Spindel lösen, als Flug- oder Klettvorrichtungen gute Dienste. Bei den Getreidegräsern, deren Aussaat der Mensch übernommen hat, ist die natürliche Verbreitungsvorrichtung in der Kultur verloren gegangen. Der Same enthält ein stärkereiches, mehl- oder glasartiges Endospermgewebe, dem vorn der kleine Embryo anliegt. Der letztere besitzt ein schildförmiges Keimblatt (scutellum), das bei der Keimung die Nährstoffe des Endosperms auffängt und der Keimpflanze zuführt.

Fig. 1. Ein Ährchen vom Weizen. 2. Einzelne Blüte vom Weizen. h Die Hüllspelzen, d Deckspelzen, v Vorspelzen, n Narben, l Blütenschüppchen (lodiculae), r oberste Deckspelzen, in deren Achsel keine Blüten mehr gebildet werden.
Fig. 1. Ein Ährchen vom Weizen. 2. Einzelne Blüte vom Weizen. h Die Hüllspelzen, d Deckspelzen, v Vorspelzen, n Narben, l Blütenschüppchen (lodiculae), r oberste Deckspelzen, in deren Achsel keine Blüten mehr gebildet werden.

Das Stammknöspchen ist anfänglich von einer rohrförmig geschlossenen Keimscheide (coleoptile) umhüllt, und ebenso ist auch die Anlage der ersten Wurzeln ursprünglich von einer Wurzelscheide (coleorrhiza) eingeschlossen, die bei der Keimung gesprengt wird. Den Gräsern stehen die Halbgräser oder Cyperazeen (s. d.) verwandtschaftlich nahe; der gewöhnliche Sprachgebrauch dehnt die Bezeichnung G. auch auf die letztgenannten Pflanzen aus.

Die etwa 3500 Arten G. sind über die ganze Erde verbreitet; in der größten Menge der Individuen und zugleich in großer Artenzahl finden sie sich in der nördlichen gemäßigten Zone, wo sie vorzugsweise die niedrige Vegetationsdecke, den Hauptbestandteil der Wiesen, bilden; gegen den Äquator hin nimmt zwar die Zahl der Arten zu, aber die Menge der Individuen ab; die baumartigen G. (Bambus) sind auf die heiße Zone beschränkt. Die südliche Halbkugel ist etwas weniger reich an Gräsern. Gegen die Pole hin und ebenso in den höhern Gebirgsregionen verschwinden die G. allmählich. In der Ebene und in den tiefern Gebirgshöhen treten gewisse G. wiesenbildend auf, andre machen im Schatten der Wälder den Hauptbestandteil der niedern Vegetation aus, wieder andre G. wachsen nur auf dürrem, sandigem oder steinigem Boden, auf Heiden u. dgl. Die Savannengräser zeichnen sich durch ihren oft über manneshohen Wuchs aus. Die Bambuseen bilden in den tropischen Niederungen einen wichtigen Waldbestandteil (Graswälder). Auch in den höhern Gebirgen treten eigentümliche Arten auf. Nicht wenige G. sind streng an ganz feuchte Stellen oder, wie das Schilf, selbst an die Gewässer gebunden (Phragmites communis, Phalaris arundinacea, Glyceria spectabilis, G. fluitans u. a.). Die als Getreide angebauten G. kommen jetzt nur noch als Kulturpflanzen, manche, wie das Einkorn (Triticum monococcum), die Gerste (Hordeum vulgare), die Mohrenhirse (Sorghum vulgare), angeblich auch in wilden Stammformen vor (s. Getreidebau). Eine Reihe von Gräsern endlich erscheint nur in steter Begleitung der Getreidegräser als Unkräuter auf den Feldern, wie die Getreidetrespe (Bromus secalinus), der Taumellolch (Lolium temulentum) und mehrere Haferarten. – Fossile, mit Sicherheit bestimmbare G. sind nur aus Tertiärschichten bekannt; es finden sich Stengel u. Blätter aus den Gattungen Arundo, Phragmites, Bambusa u. a.

Alle G. sind reich an Kieselsäure, die hauptsächlich in der Epidermis der Blätter und Halme vorhanden ist; in den Knoten der Halme des Bambusrohrs finden sich größere Konkremente von Kieselsäure abgelagert, die als Tabaschir oder Bambussteine (sakkar mambu) schon seit dem 1. Jahrh. n. Chr. ins Abendland gebracht wurden. Der Saft der Halme und Wurzelstöcke enthält mehr oder weniger Zucker. Besonders zuckerreich sind das Zuckerrohr, die Wurzelstöcke der Quecke (Triticum repens) und die Maisstengel. Alle Grassamen enthalten sehr viel Stärkemehl neben eiweißartigen Verbindungen; unter letztern ist das Aleuron (Kleber) von besonderer Bedeutung, das in der Kleberschicht an der äußern Peripherie des Nährgewebes seinen hauptsächlichen Sitz hat. In der Kleie und dem Kleienbrot wird dieselbe nicht entfernt. In einigen Gräsern finden sich auch aromatische Bestandteile, z. B. Kumarin im Ruchgras (Anthoxanthum odoratum), das vorzugsweise den Heugeruch hervorbringt; einige indische Arten von Andropogon enthalten ätherisches Öl. Die Samen sind nährend, schleimig, einhüllend, reizmindernd; die Wurzelstöcke einiger G. wirken auflösend, gelind reizend, die Wurzeln aromatischer G. tonisch-reizend, Bromus purgans in Pennsylvanien u. Kanada und B. catharticus in Chile abführend. Eigentlich giftige G. gibt es wenig, wie z. B. Stipa inebrians der Mongolei; neuere Nachforschungen über die betäubenden Eigenschaften der Früchte des Taumellochs (Lolium temulentum) haben den Verdacht von dessen Giftigkeit sehr gemindert. Einige wenige G. sind dem Weidevieh schädlich, aber nur wegen ihrer sehr starren und schneidenden Blätter, wie Stipa, Calamagrostis und Molinia.

Die G. haben, weil ohne sie weder Viehzucht noch [240] Ackerbau möglich sein würde, die ersten Grundbedingungen der Zivilisation gegeben. Sie dienen besonders in gewissen Arten (Getreide) den Menschen als Hauptnahrungsmittel. Den Tieren sind sie die wichtigsten Futterpflanzen. Die trocknen Halme größerer Arten, besonders des Getreides (Stroh), dienen als Streumaterial, als Stopfstoffe, zum Flechten von Decken, Matten, Seilen, von Schuhen und Hüten, auch zur Papierfabrikation. Rohr dient zum Einziehen in die Wände der Häuser, das Bambusrohr zu Stöcken, in seiner Heimat zur Verfertigung verschiedener Hausgeräte und sogar als Baumaterial. Auf Sandboden wachsende G. mit weitkriechenden, ausläuferartigen Wurzelstöcken (Psamma arenaria und Elymus arenarius) werden angebaut zur Befestigung sandiger Ufer, von Festungswällen, Eisenbahndämmen etc. und zur Bindung des Flugsandes auf den Dünen der Nord- und Ostsee. In Gärten und Parken benutzt man die G. zur Anlage von Rasen; einige besonders zierliche oder stattlichere Arten sind beliebte dekorative Blattpflanzen des freien Landes. Eine Zusammenstellung derartiger Ziergräser gibt Tafel V. Die Blütenstände vieler G. werden zu immerwährenden Buketts verwendet, so die von Stipa-, Phragmites- und Agrostis-Arten, aber auch andre, von denen einige auf Tafel VI zur Darstellung gebracht worden sind. Die Figuren 9 und 11 dieser Tafel stellen die Blütenstände zweier Halbgräser (Cyperazeen) dar, die ebenfalls für Trockensträuße verwendet werden. – Man teilt die G. in 13 Unterfamilien; die wichtigsten sind:

Maydeen, Gattungen: Euchlaena, Coix, Zea;

Andropogoneen: Andropogon, Saccharum (Zuckerrohr);

Panizeen: Panicum (Hirse), Setaria, Pennisetum;

Oryzeen: Zizapia (Wasserreis), Oryza (Reis), Lygeum;

Phalarideen: Phalaris (Tafel I, Fig. 4), Anthoxanthum (Ruchgras, Tafel I, Fig. 1);

Agrostideen. Stipa, Phleum (Tafel I, Fig. 5), Alopecurus (Tafel I, Fig. 8), Agrostis (Tafel I, Fig. 6 u. 7), Calamagrostis, Ammophila (Tafel II, Fig. 7);

Aveneen: Holcus (Tafel II, Fig. 1), Aira (Tafel II, Fig. 6), Weingaertneria (Corynephorus, Tafel II, Fig. 8), Trisetum (Tafel II, Fig. 4), Avena (Hafer, Tafel II, Fig. 3 u. 5), Arrhenatherum (Tafel II, Fig. 2);

Festuzeen: Gynerium (Pampasgras), Arundo (Rohr), Phragmites (Schilf, Tafel III, Fig. 7), Briza (Tafel III, Fig. 2), Dactyllis (Tafel III, Fig. 3), Cynosurus (Tafel IV, Fig. 2), Poa (Tafel III, Fig. 5, 6 u. 8), Glyceria (Tafel III, Fig. 9), Festuca (Schwingel, Tafel III, Fig. 1 u. 4), Bromus (Trespe, Tafel IV, Fig. 1 u. 3), Brachypodium (Tafel IV, Fig. 4);

Chlorideen: Cynodon (Tafel I, Fig. 3), Eleusine (Dagussa), Buchloë (Buffalogras);

Hordeen: Nardus (Tafel I, Fig. 2), Lolium (Lolch, Tafel IV, Fig. 5 u. 8), Agropyrum (Quecke, Tafel IV, Fig. 7), Secale (Roggen), Triticum (Weizen), Hordeum (Gerste), Elymus (Strandgras, Tafel IV, Fig. 6);

Bambuseen: Bambussa, Phyllostachys (Pfefferrohr). Vgl. auch die Tafeln »Getreide I-III«. Literatur: Kunth, Enumeratio plantarum, Bd. 1: Agrostographia synoptica (Stuttg. 1833); Palisot de Beauvais, Essai d'une nouvelle Agrostographie (Par. 1812); Reichenbach, Icones florae germanicae et helveticae, Bd. 1: Agrostographia germanica (Leipz. 1835); Steudel, Synopsis plantarum glumacearum (Stuttg. 1854–55, 2 Tle.); Lawson, Agrostographia (Edinb. 1860); Jessen, Deutschlands G. und Getreidearten (Leipz. 1863); Hanstein, Die Familie der G. in ihrer Bedeutung für den Wiesenbau (Wiesb. 1857); Hein, Gräserflora von Nord- und Mitteldeutschland (2. Aufl., Weim. 1880) und Beschreibung der wichtigsten in Deutschland heimischen und angebauten Gramineen, Cyperazeen und Junkazeen (Hamb. 1876); Haeckel, Gramineae in Engler und Prantl, »Die natürlichen Pflanzenfamilien«, Teil 2, Abt. 2 (Leipz. 1887); Giesenhagen, Unsre wichtigsten Kulturpflanzen (das. 1899).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 239-241.
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