Neumen

[567] Neumen, 1) Bezeichnung der melismatischen Verzierungen des Gregorianischen Gesanges (s. d.). – 2) Eine das Steigen und Fallen der Melodie und die Zusammengehörigkeit einer Tongruppe zu einer Textsilbe direkt veranschaulichende Art der Notenschrift, in der im Mittelalter der kirchliche Ritualgesang notiert wurde. Die älteste bekannte Form der N. (im 8.–10. Jahrh.) zeigt zierliche Striche, Häkchen, Punkte und allerlei gekrümmte Linien, die einer sprachlichen Stenographie ähnlich sehen. Im Laufe der Jahrhunderte vergröberten und verdickten sich die Züge zu nagel- und hufeisenförmigen Gestalten, besonders seit man anfing, die Tonhöhenbedeutung der N. durch eine Linie (f-Linie) zu fixieren. Nachdem Guido von Arezzo das Liniensystem ausgebaut und seine noch heute übliche Anwendung geregelt hatte, schwand der letzte Rest von Undeutlichkeit der Tonhöhenbedeutung. Neben den verdickten N (deutsche oder gotische Choralnote etc.) entwickelte sich bereits im 12. Jahrh. die sogen. Nota quadrata oder quadriquarta mit viereckigen Notenköpfen (römische Choralnote etc.), deren Formen die Mensuralnotenschrift zum Ausgangspunkte nahm. S. Tafel »Notenschrift«. Eine vollständige Entzifferung der N. ohne Linien ist nicht möglich,[567] weil sie die Größe der Intervalle nicht anzeigen, sondern nur ungefähr die Melodierichtung andeuten. Die Elemente der Neumenschrift waren: 1) die Zeichen für eine einzelne Note: Virga (Virgula) und Punctum; 2) das Zeichen für ein steigendes Intervall: Pes (Podatus); 3) das Zeichen für ein fallendes Intervall: Clinis (Flexa); 4) einige Zeichen für besondere Vortragsmanieren: Tremula (Bebung), Quilisma (Triller), Plica (Schleifton) etc. Die übrigen sind entweder Synonyme der hier genannten oder Kombinationen derselben, z. B. Gnomo, Epiphonus, Cephalicus, Oriscus. Ancus, Tramea, Sinuosa, Strophicus, Bivirgis, Trivirgis, Distropha, Semivocalis etc. Vgl. folgende Übersicht der N.:

Tabelle

Vgl. außer den Arbeiten von Lambillotte, Coussemaker, A. Schubiger, Dom Pothier: Dom Mocquereau, Paléographie musicale (Solesmes 1891 ff.); O. Fleischer, Neumenstudien (Leipz. 1895–1904, 3 Tle.); G. Houdard, Le rhythme du chant dit Grégorien (Par. 1897); A. Dechevrens, Etudes de science musicale (1898–99, 3 Bde.); E. Bernoulli, Die Choralnotenschrift bei Hymnen und Sequenzen (Leipz. 1898); Wagner, Neumenkunde (Freiburg, Schweiz, 1905); H. Riemann, Handbuch der Musikgeschichte, 1. Bd., 2. Teil (Leipz. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 14. Leipzig 1908, S. 567-568.
Lizenz:
Faksimiles:
567 | 568
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika