Orientalische Kunstwebereien

[117] Orientalische Kunstwebereien, Gewand- und Dekorationsstoffe aus Seide, Goldfäden und geringerm Material, deren ältere infolge ihrer Mustergebung ein wichtiges Studienmaterial für vielseitige Gebiete der Geschichte darstellen. Aus dem Altertum sind solche nur durch Denkmäler der Plastik und der dekorativen Malerei sowie nach Schilderungen antiker Schriftsteller bekannt. Morgenländische Originalstoffe des 1. Jahrtausends n. Chr. kamen zuerst durch die Kreuzzüge nach Europa, wo die wertvollsten heute noch in Kirchen als Reliquienhüllen aufbewahrt und in katholischen Gegenden nur zu bestimmten Zeiten den Heiligenschreinen entnommen werden, bei welcher Gelegenheit man sie durch genaue Abbildungen wissenschaftlichen Zwecken nutzbar gemacht hat. (Vgl. Lessing, Die Gewebesammlung des königlichen Kunstgewerbemuseums in Berlin, Berl. 1900 ff.) Im Laufe der Jahrhunderte mehrten sich die Bestände an orientalischen Geweben in katholischen Kirchen Europas, und man bediente sich ihrer zu den Ornaten der amtierenden Priester, später wurden viele davon für die Museen erworben. Seit den 1880er Jahren brachten die Grabfunde aus Oberägypten (s. Koptische Kunst) spätägyptische und andre orientalische Gewebe des frühen Mittelalters in reicher Auswahl, und jetzt enthalten die Sammlungen aller größern Städte davon Proben. So ist man allmählich imstande, bestimmte Typen des orientalischen Stoffmusters historisch zu verfolgen, was um so wichtiger ist, als dasselbe den Ausgangspunkt für das Flachmuster des Abendlandes bildet. Das Material zu den Prachtgeweben des Orients, die Seide, kam in ältester Zeit aus China und mit ihm vielfach die Muster, wo hingegen die persisch-sasanidischen Kunstformen der Gewebe (6. Jahrh. n. Chr.) auch an altassyrische und griechische Elemente anklingen: so die Jagddarstellungen der Könige, aufgeschirrte Rosse und geflügelte Greifen in Reihen geordnet oder innerhalb großer gemusterter Kreise, zwischen denen Gazellen und Steinböcke an schlank aufwachsenden Palmetten, deren Gestaltung an den heiligen Baum erinnert. Ein gewaltiger Umschwung in der Mustergebung orientalischer Kunstweberei vollzog sich durch den Islam, in dessen Kultur die Textilkunst eine hervorragende Bedeutung hat. Außer Bagdad, das die Stelle von Babylon und Ktesiphon übernimmt, treten Damaskus, Aleppo und Alexandria in den Vordergrund der Erzeugung von reichen Prachtstoffen. Der Sammelname für alle die verschiedenen Arten von Geweben ist »sarazenisch«, weil bestimmte Fabrikationsorte im einzelnen nicht anzugeben sind. Ihre reizvollen Muster aus stilisierten Tierfiguren (Adlern, Löwen, Panthern im Kampf oder im Angriff auf Hirsche, Rehe und Hafen) zwischen weitverzweigten Rankenornamenten erstrecken sich bis ins 14. Jahrh. hinein; viele dieser Darstellungen in Verbindung mit menschlichen Gestalten erhalten eine symbolische Bedeutung im Sinne der heiligen Bücher, da der Islam die Psalmen Davids übernommen hat und sich naturgemäß auch in derselben Bildersprache bewegt. Da die Muster auch nach Sizilien und Italien übergingen, wurden sie als »arabisch-italisch« bezeichnet. Sehr bemerkbar macht sich dazwischen in den Ländern des Islams auch zu dieser Zeit noch der Einfluß von China. Der Buddhismus und die Eroberungszüge der Kalifen brachten vielfache Beziehungen, von denen sich nachweisbare Spuren in den Geweben erhalten haben. Chinesische Palmetten, der Vogel Fo, drachenköpfige Vierfüßer und viele andre Einzelheiten der ostasiatischen Formensprache werden feste Bestandteile der orientalischen Webemuster, so daß in manchen Fällen nicht zu unterscheiden ist, ob chinesische, im Mittelalter eingeführte Waren oder gleichzeitig persische Nachbildungen vor uns liegen. Im maurischen Spanien beherrscht bis ins 15. Jahrh. hinein das geometrisch-arabische Ornament, die sogen. Arabeske, die Flächen der Textilkunst, wobei während des ganzen Mittelalters die ornamentale Verwendung der kufischen Schrift nebenher geht. Im Laufe des 15. Jahrh. erhalten die orientalischen Gewebemuster dadurch die größte Verwandtschaft mit den italienischen, daß sie wie diese den Granatapfel, die Distel und den Pinienzapfen als alleinige Flächenfüllung in spitzovalen Feldern im fortlaufenden Muster ausbilden, wozu Ansätze dort schon seit dem 12. Jahrh. in ähnlichen Palmettenbildungen und chinesischen Blütenformen vorzuliegen scheinen; aber man geht in Persien und Kleinasien nicht so breit auf die vielseitige Entwickelung des Granatapfelmusters und seiner Nebenformen ein als in Europa, wo sie während des gotischen Zeitalters und noch spät in die Renaissance hinein das[117] ganze Gebiet der gewebten Fläche beherrschen. Vielmehr tritt im 16. Jahrh. im Orient noch einmal das figurale Gewebeornament in Erscheinung in vorherrschend weiblichen Kostümfiguren, die in großer Ausführung zwischen zierlichen Blütenstauden den Grund reihenweise füllen. Die Technik ist durch die Ausbildung der Samtbrokatweberei erweitert, die vor dem 15. Jahrh. nicht besonders zur Geltung kommt. Vom 16. Jahrh. an wird es übrigens noch schwieriger, die orientalischen Kunstwebereien nach bestimmten geographischen Gebieten zu ordnen. Persien wird dabei noch immer am meisten in Frage kommen; indessen sind auch andre Länder an der Erzeugung beteiligt, so vor allem die Türkei mit Konstantinopel, ferner Brussa, das auch seine alte Seidenzucht und -Weberei bewahrt hatte, so daß selbst Lyon heute noch Material daher bezieht. Auf gleicher Höhe war lange Zeit noch Skutari mit seinen prächtigen Samten geblieben, ebenso werden Damaskus und Aleppo ihre berühmte mittelalterliche Industrie nicht so schnell verloren haben. Hierzu treten noch Erzeugungsorte in Ägypten, Marokko und Indien, woselbst sich lange Zeit Typen älterer Webemuster erhielten. Im 17. Jahrh. zeigen die orientalischen Kunstwebereien Streumuster aus ganz leicht gezeichneten Blütenzweigen, deren zierliche Bewegungen auf liebevoller Naturbeobachtung beruhen. Hierzu kommt die Leichtigkeit und Güte der Seide sowie die meisterhafte Schattierung unter Anwendung seiner Gold- und Silberfäden im Grunde, zwischen dessen schmiegsamen Falten diese vornehm stilisierten Gebilde der Natur gleichsam zu neuem Leben erwachen. Das 18. Jahrh. bringt dem orientalischen Flächenmuster schon zuviel europäische Einflüsse, womit es aufhört, vorbildlich zu sein. Der lebhafte Verkehr mit Venedig, Genua und Lyon trug dazu bei, daß sich gute Originalmuster nur noch in den gewöhnlichern Stoffarten erhielten. Indien wehrte sich am längsten gegen europäische Musterung, dort werden heute noch Brokatstoffe mit kleinern Mustern nach alten Vorbildern gewebt. Sonst hat sich nur an wenigen Stellen im Orient eine Art bäuerlicher Weberei erhalten; selbst die entferntesten Ortschaften in Ägypten, Syrien und Marokko sind seit langem nicht nur durch Muster, sondern auch durch Anilinfarben europäisch beeinflußt. Viele der großen Handelsplätze der Levante erhalten übrigens schon seit Jahrzehnten die für ihren Geschmack gefertigten Seiden- und Brokatstoffe aus Eberfeld, Krefeld, Lyon, Tours und auch von England, so daß wir oft moderne Waren aus dem Orient erhalten, die schon vor 50 Jahren bei uns angefertigt wurden.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 117-118.
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