Otfried

[247] Otfried (Otfrid), Verfasser einer poetischen »Evangelienharmonie« (s. d.), die zu den wichtigsten Denkmälern unsrer althochdeutschen Sprach- und Literaturperiode gehört, war aus der Gegend von Weißenburg im Elsaß gebürtig und genoß eine Zeitlang den Unterricht des berühmten Hrabanus Maurus in Fulda und wahrscheinlich auch den Salomos, des spätern Bischofs von Konstanz. Von Fulda kehrte O. in das Benediktinerkloster Weißenburg zurück, und hier hat er sein Gedicht, dem er den Titel »Liber Evangeliorum Domini gratia theodisce conscriptus« gab, um 868 beendet. Es enthält fünf Bücher; eine der Widmungen ist an König Ludwig den Deutschen gerichtet. O. beabsichtigte mit seiner Dichtung der Volkspoesie (dem »laicorum cantus obscoenus«) entgegenzuwirken und eine Art von christlichem Kunstepos zu bieten, für das ihm heidnische und christliche Autoren, wie Vergil, Lukan, Ovid, Juvencus, Arator, Prudentius etc., als Vorbilder vorschwebten. Der poetische Wert seines Werkes ist nicht groß und namentlich unvergleichlich geringer als der des stoffverwandten »Hêliand«. Der Verfasser stellt seine Gelehrsamkeit, wo es irgend geht, in den Vordergrund; er schiebt mit Vorliebe mystische und moralische Deutungen in die Darstellung ein, trockne Lehrhaftigkeit macht den überwiegenden Charakter der letztern aus. Die literarhistorische Bedeutung seines Werkes beruht zum größern Teil in dem Umstande, daß er zuerst mit Entschiedenheit unter dem Einfluß der lateinischen Hymnenpoesie den freilich oft sehr ungenauen Endreim statt der Alliteration als Bindemittel der Verse angewendet hat, deren Rhythmus gleichzeitig eine strengere Regelung nach diesem Vorbild erfuhr. Je vier Verse verband er zu einer Strophe. Bemerkenswert ist, daß schon O. sich in allerlei sprachlichen Künsteleien versucht hat, wie denn in den Zueignungsgedichten, mit denen er sein Werk an König Ludwig, Salomo von Konstanz und Liutbert sandte, nicht nur aus den Anfangs-, sondern sogar aus den Endbuchstaben der Strophen Akrosticha gebildet sind. Es existieren von Otfrieds Gedicht zwei ausgezeichnet schöne Handschriften in Heidelberg und Wien (die letztere wahrscheinlich von O. selbst revidiert) sowie eine minder wertvolle in München; außerdem in Wolfenbüttel, Bonn, Berlin Bruchstücke einer vierten Handschrift. Herausgegeben wurde das Gedicht zuerst von Matthias Flacius aus Illyrien (Basel 1571); neuere Ausgaben besorgten Kelle (Regensb. 1856–1869, 2 Bde.; Glossar, das. 1879–81), Piper (2. Ausg., Freiburg 1884, 2 Bde.; kleinere Ausg., das. 1882) und Erdmann (Halle 1883, Text 1882); Übersetzungen Rapp (Stuttg. 1858), Rechenberg (Chemn. 1862) und Kelle (Prag 1870). Vgl. Lachmann in Ersch und Grubers Enzyklopädie; Wackernagel (in den »Kleinen Schriften«, Bd. 2, Leipz. 1875); Behringer, Krist und Heliand (Würzb. 1870); Fertsch, O., der Weißenburger Mönch (Weißenb. 1874); Schütze, Beiträge zur Poetik Otfrieds (Kiel 1887); Pfeiffer, O., der Dichter der Evangelienharmonie im Gewande seiner Zeit (Leipz. 1905).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 15. Leipzig 1908, S. 247.
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