Handschrift

[760] Handschrift, was jemand mit seiner eignen Hand geschrieben hat (s. Chirograph), im Gegensatz zu der Druck- und Prägschrift, oder, abstrakt gebraucht, der Charakter seiner Schriftzüge (vgl. Handschriftendeutung). Konkret bezeichnet H. ein geschriebenes Buch oder ein Teil desselben, die unmittelbare Übersetzung des lateinischen Liber manuscriptus, Manuskript, im Gegensatz zur Urkunde, d. h. einer kürzern, bloß zu einem praktischen, meist rechtlichen Zweck bestimmten H., die in den meisten Fällen auf ein Einzelblatt geschrieben ist; zuweilen auch die in farbigen Zeichen auf einer Fläche bestehende Schrift im Gegensatz zu[760] einer eingeritzten, gewirkten oder geätzten Schrift. Die Wissenschaft, die sich mit der Untersuchung alter Handschriften beschäftigt, heißt im weitesten Sinne Handschriftenkunde; im engern Sinne wird die Entzifferung und Prüfung der darin vorkommenden Schriftarten Paläographie (s. d.) genannt. In Griechenland und Rom schrieb man in der ältesten Zeit auf Stein, Holz, Metall, Bast, Baumblätter und andre Materialien; aber erst die Erleichterung des Verkehrs mit Ägypten zur Zeit der 26. oder Saïtischen Dynastie (7. Jahrh.) verschaffte den Griechen in dem in Ägypten seit uralter Zeit zu Schriftzwecken verwendeten Papyrus (s. d.) ein bequemes und billiges Schreibmaterial. Schon zu Herodots Zeit (5. Jahrh. v. Chr.) war der Gebrauch des Papyrus in Griechenland allgemein, da er es als eine Eigentümlichkeit barbarischer Völker anmerkt, daß einige von ihnen nur auf Felle schrieben. Doch wurde später nach der Erfindung des Pergaments (s. d.) auch dieses aus Tierhaut bereitete Material häufig zu Handschriften verwendet, während für kürzere Notizen und Briefe namentlich mit Wachs ausgegossene Holztafeln beliebt waren, weil man darauf ebenso leicht schreiben, wie das Geschriebene wieder auslöschen konnte. Zu diesem Behuf hat der Griffel (stilus) ein spitzes und ein plattes Ende. Die Handschriften oder Bücher der Alten (libri, codices) waren. anfänglich durchaus Rollen (volumina), d. h. eine Anzahl zu einem langen Streifen zusammengeleimter Blätter (paginae), die sich hinten an einem Stab aus Holz, Knochen oder Elfenbein befestigt fanden, der oben und unten je mit einem dicken Knopf (cornu, umbilicus) versehen war. Auch am Anfang der Rolle konnte ein solcher Stab angebracht sein. Die Ränder der Rolle wurden mit Bimsstein geglättet oder beschnitten, der Titel (titulus, index) stand auf einem auf der Rolle oder an dem Stab festgeklebten und hervorstehenden Papierstreifen. Die Stelle des Buchdeckels konnte eine Kapsel aus gefärbtem Pergament vertreten; oft wurde beim Nichtgebrauch die H. auch nur zusammengerollt und mit einem Band umwickelt, wie dies auch bei uns mit Karten, Grundrissen, Noten u. dgl. geschieht. Eine H. aufschlagen hieß bei den Römern evolvere, d. h. aufrollen. Die Rollen waren meist von geringem Umfang und wurden in den Papyrusfabriken gleich in bestimmter Länge, die sich danach richtete, ob ein Poesie- oder ein Prosabuch hergestellt werden sollte, gefertigt. Von der alten Rollenform kommt es, daß ein Teil eines Schriftwerkes auch häufig Buch (liber) oder Rolle (volumen) heißt. In der Regel wurde nur die eine Seite der Rolle beschrieben; waren beide Seiten benutzt, so hieß dies ein Opisthograph. Die heutige Buchform aus zusammengelegten und gehefteten Blättern fand im Altertum erst im 4. Jahrh. n. Chr. allgemeine Anwendung. Zu derselben Zeit verdrängte das Pergament den alten Beschreibstoff, den Papyrus, fast vollständig, und Kodexe aus Papyrus gehören seit jener Zeit zu den größten Seltenheiten, während in Urkunden noch jahrhundertelang Papyrus bevorzugt wurde. Die Schreiber (librarii) waren in der Regel Sklaven, und gegen Ende der republikanischen Zeit entwickelte sich in Rom der Buchhandel. Die Vervielfältigung der Handschriften wurde in großem Maßstabe betrieben, indem eine größere Anzahl Schreiber gleichzeitig nach einem Diktat schrieben. Dabei mögen in der Eile manche Fehler untergelaufen sein, und manche der falschen Lesarten, die sich in den auf die Neuzeit gekommenen Handschriften der alten Autoren vorfinden, gehen wahrscheinlich hierauf zurück; die meisten dürften aber auf Rechnung der Schreib- und Lesefehler zu setzen sein, welche sich die Mönche des Mittelalters beim Abschreiben der alten Handschriften zu schulden kommen ließen. Handschriften aus dem Altertum haben sich nur in sehr geringer Zahl erhalten, Papyrusrollen (s. d.) nur in Herculaneum, Pompeji und Ägypten; von den dauerhaftern Pergamenthandschriften des Altertums sind die wichtigsten die Palimpseste (s. d.). Sehr beträchtlich ist dagegen die Menge der aus dem Mittelalter, namentlich aus den spätern Jahrhunderten, auf unsre Zeit gekommenen Handschriften, besonders der lateinischen. Im frühen Mittelalter erwarben sich die Mönche das Verdienst der Fortpflanzung der literarischen Schätze des Altertums und ihrer eignen Zeit, und von dem Werte, den man auf die Handschriften legte, gibt die Auszierung derselben durch die sogen. Miniatoren mit goldenen oder farbigen Anfangsbuchstaben, später sogar mit Bildern (Miniaturen) Zeugnis. In der Folge entwickelte sich auch der Stand der Lohnschreiber, die von Fürsten, Gelehrten und Buchhändlern und an den Universitäten beschäftigt wurden, aufs neue. Leider sind auch die Handschriften des Mittelalters in vielen Fällen dem Untergang anheimgefallen, und wieviel namentlich seit Erfindung der Buchdruckerkunst von Buchdruckern und Buchbindern zerstört wurde, entzieht sich der Schätzung. Eine der ältesten griechischen Pergamenthandschriften ist der von Tischendorf in dem Sinaikloster entdeckte Codex Sinaiticus, die Bibel enthaltend, wohl noch im 4. Jahrh. n. Chr. geschrieben. Die älteste in einer germanischen Sprache abgefaßte H. ist der sogen. Codex argenteus (»silberne H.«, weil in Silber gebunden), jetzt in Upsala befindlich, der Ulfilas' gotische Bibelübersetzung enthält und aus dem 5. und 6. Jahrh. stammt.

Hinsichtlich des Materials zerfallen die erhaltenen abendländischen Handschriften in Pergament- und Papierhandschriften, wobei man unter Papier alles künstlich zusammengesetzte Material, im Gegensatz zu den bloßen Tierhäuten, zu verstehen hat. Im allgemeinen kann man von der Voraussetzung ausgehen, daß Handschriften auf Papyrus und Pergament älter, solche auf Papier aber jünger sind. Zu erst zählte man nach Lagen, später nach Folien (Blättern), dann nach Seiten. Die meisten Lagen bestehen, wie in den jetzt gedruckten Oktavbänden, aus Quaternionen, d. h. aus vier Doppelblättern oder 16 Seiten; doch kommen auch Ternionen, Quinternionen, Sexternionen u. dgl. vor, und auf den italienischen Universitäten pflegte man die Handschriften nach Pezien, d. h. nach Lagen von zwei Doppelblättern, zu berechnen. Fast alle Pergament- und Papierhandschriften sind liniiert, die ältesten durch eingedrückte Linien (blinde Linien), die neuern mit Blei- oder Braunstift oder mit Tinte. – Bei der Benutzung der Handschriften handelt es sich vor allem darum, von den verschiedenen erhaltenen Handschriften eines Werkes durch Untersuchung ihrer gegenseitigen Verwandtschaft einen Stammbaum derselben zu entwerfen und auf diese Weise dann so genau wie möglich den Wortlaut des allen oder je einigen zugrunde liegenden Codex archetypus (Urhandschrift) festzustellen. Wichtig hierfür ist auch das äußere Schicksal der Handschriften, und es gehört daher in dieses Kapitel auch die Geschichte der Handschriftensammlungen und des Manuskriptenhandels, der besonders während der Auflösung des byzantinischen Kaiserreichs in Italien die höchste Blüte erreichte.[761] Vgl. A. Kirchhoff, Die Handschriftenhändler des Mittelalters (2. Ausg., Leipz. 1853; Nachträge, Halle 1855).

Von den orientalischen Handschriften sind die ägyptischen die ältesten, da die Papyrusrollen bis ins zweite, ja bis in das dritte Jahrtausend v. Chr. zurückreichen. Auch die Chinesen, die Erfinder des Papiers und einer wenn auch unvollkommenen Druckerei, können sich sehr alter Handschriften rühmen. Von den Chinesen haben durch die Vermittelung der Araber, welche die Papierfabrikation vervollkommt und den Stoff in den Welthandel gebracht haben, die meisten andern Kulturvölker den Gebrauch des Papiers überkommen. Unter den vorderasiatischen Handschriften sind die syrischen die ältesten und gehen teilweise ins 4. und 5. Jahrh. zurück. Die älteste hebräische H. gehört dem 9. Jahrh. an. Auch die armenischen, arabischen und persischen Handschriften haben alle kein hohes Alter aufzuweisen, und ganz jung sind begreiflich die türkischen. Die alten Iranier schrieben auf Kuhhäute, aber die ältesten erhaltenen Handschriften des Zendavesta sind auf Papier geschrieben und nur wenige Jahrhunderte alt. Die alten Assyrer kannten noch kein andres Schreibmaterial als Tontäfelchen, deren sich bei den neuern Ausgrabungen viele gefunden haben. In Indien liegen Inschriften aus dem 3. Jahrh. v. Chr. vor, aber die ältesten Handschriften gehören dem 12. Jahrh. n. Chr. an. Dieser Umstand fällt indes dem zerstörenden Klima Indiens zur Last, dem die Palmblätter, auf die man gewöhnlich zu schreiben pflegte, nicht zu widerstehen vermochten, außer in Neapel, wo sich bedeutend ältere Handschriften erhalten haben. Noch weniger dauerhaft sind die Birkenrindenblätter, und auch das chinesische Papier, das die Mohammedaner um das Jahr 1000 nach Indien brachten, pflegt sich daselbst nur wenige Jahrhunderte zu halten. Die hinterindischen Handschriften, die alle nicht alt sind, sind häufig mit schwarzen Lettern auf mit Silber überzogene Holztafeln geschrieben.

Bedeutende Handschriftensammlungen finden sich in allen größern Bibliotheken Europas. An wichtigen lateinischen und griechischen Handschriften sind Italien, Paris und London besonders reich; die wertvollsten Sammlungen orientalischer Handschriften besitzt England, wo namentlich die Bodleyanische Bibliothek in Oxford an persischen, das Britische Museum an syrischen und die India Office Library in London an indischen Handschriften ungemein reich sind. Die wichtigsten Handschriftensammlungen Deutschlands sind die Berliner und die Münchener. Gute Handschriftenverzeichnisse mit genauer Angabe der Beschaffenheit, des Alters, Schriftcharakters und der Herkunft der Handschriften sowie ihres Verhältnisses zu andern Handschriften oder Drucken des nämlichen Werkes gehören zu den verdienstlichsten Arbeiten eines Bibliothekars. Von ältern Werken dieser Art sind z. B. Bandinis Werk über die Lorenzbibliothek in Florenz (1764–93) und Montfaucons kürzere »Bibliotheca bibliothecarum manuscriptorum nova« (1739, 2 Bde.) hervorzuheben. Unter den neuern europäischen Handschriftenkatalogen gehören die Berliner, Münchener, Wiener, Oxforder, Londoner Verzeichnisse zu den hervorragendsten. Ein bibliographisches »Verzeichnis der Handschriftenkataloge der deutschen Bibliotheken« von A. Blau verdanken wir dem »Zentralblatt für Bibliothekswesen« (3. Jahrg., 1886). In Frankreich ist ein »Catalogue général des manuscrits des bibliothèques publiques de France« begonnen und bereits stark gefördert, der die Pariser und die Departementsbibliotheken umfassen soll. Die Handschriftensätze des Vatikans werden verzeichnet in der seit 1885 in Rom erscheinenden »Bibliotheca apostolica Vaticana codicibus manuscriptis recensita«. Mittelalterliche Handschriftenkataloge sammelten G. Becker, »Catalogi bibliothecarum antiqui« (Bonn 1885), und Th. Gottlieb, »Über mittelalterliche Bibliotheken« (Leipz. 1890). Wichtig für das Studium der indischen Literatur sind die verschiedenen im Auftrag der englischen Regierung neuerdings herausgegebenen Verzeichnisse über die außerordentlich massenhaften Sanskrithandschriften, die in den großen in Indien befindlichen Sammlungen aufgespeichert sind. Vgl. noch Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter (3. Aufl., Leipz. 1896); Birt, Das antike Buchwesen in seinem Verhältnis zur Literatur (Berl. 1882) und die Zeitschrift »Serapeum« von R. Naumann (Leipz. 1840–70, 31 Bde.), auch die Artikel »Autograph« und »Autographensammlungen«.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 8. Leipzig 1907, S. 760-762.
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