Raumanschauung

[634] Raumanschauung, der psychologisch zu erklärende Vorgang der Auffassung räumlicher Verhältnisse. Bedenkt man einerseits, daß Größe, Gestalt, gegenseitige Entfernung etc. der Obiekte nicht unmittelbar empfunden werden können (denn sie wirken nicht wie Farben, Töne, Temperaturen etc. als spezifische Reize auf unsre Sinnesorgane), anderseits,[634] daß in jeder bewußten Wahrnehmung das Wahrgenommene bereits in räumlicher Ordnung gegeben erscheint, so erhellt, daß die R. durch einen uns nicht zum Bewußtsein kommenden psychologischen Prozeß entstehen muß, was überdies auch durch die Gesichtstäuschungen (s. d.) erwiesen wird. Als ursprünglich die R. vermittelnd kommen übrigens nur der Gesichts- und Tastsinn in Betracht; nach dem Gehör vermögen wir zwar auch Richtung und Entfernung einer Schallquelle einigermaßen zu beurteilen, aber es geschieht dies auf Grund von Erfahrungen, die wir, nachdem durch Vermittelung jener erstern Sinne die R. bereits gewonnen ist, z. B. in bezug auf die Abnahme der Schallstärke mit der Entfernung etc., gemacht haben. Dagegen können sich die R. des Gesichts- und die des Tastsinnes unabhängig voneinander entwickeln (wie z. B. der Blindgeborne ja nur einen Tastraum kennt); der gleichzeitige Gebrauch beider Sinne führt aber beim normalen Menschen zu einer innigen Verknüpfung (Assoziation) der durch beide gewonnenen Raumvorstellungen, so daß z. B. mit dem Gefühlseindruck eine Kugel jederzeit unmittelbar das Gesichtsbild derselben im Geiste verschmilzt, während der operierte Blindgeborne erst durch Erfahrung lernen muß, beide zu identifizieren. Die durch J. Müller begründete nativistische Theorie nimmt nun an, daß das wahrnehmende Subjekt eine angeborne Befähigung besitzt, die auf getrennte Nervenfasern der (äußern Haut, der Netzhaut) treffenden Reize als nebeneinander befindlich, somit als flächenhaft angeordnet aufzufassen, so daß nur noch die Tiefenwahrnehmung zu erklären bleibt. Die in dem Empirismus Lockes wurzelnde, zuerst durch Berkeley und Condillac ausgebildete empiristische Theorie behauptet dagegen, daß wir auf Grund bestimmter Erfahrungen dazu gelangen, die sinnlichen Eindrücke uns räumlich geordnet vorzustellen, indem sie sich darauf stützt, daß ja dem Subjekt in den Eindrücken, bez. in gewissen sie begleitenden Organempfindungen bestimmte Anhaltepunkte gegeben sind; so verbinden sich mit der Bewegung der Tastorgane (subjektive) Bewegungsempfindungen (s. d.), die Akkommodation des Auges, bez. die Konvergenzstellung beider Augen auf ungleich entfernte Punkte bedingt einen Wechsel der Akkommodationsanstrengung und wechselnde Anspannung der Augenmuskeln etc. Der letztern steht aber die Erwägung entgegen, daß die Verwertung der in den Empfindungen liegenden Anhaltepunkte zur Lokalisation der Eindrücke das Vorhandensein der R. schon voraussetzt. Der extreme Nativismus anderseits scheitert an der Tatsache, daß unsre Auffassung räumlicher Verhältnisse sich überall durch Erfahrung und Übung vervollkommt, und daß sie durch Bewegungen (der Tastorgane, bez. des Auges) wesentlich unterstützt und in gewissen Fällen beeinflußt wird. Die meisten neuern Theorien schließen sich daher dem Empirismus nur darin an, daß sie überhaupt eine Entstehung der R. annehmen, dem Nativismus aber darin, daß sie diesen Prozeß der Erfahrung vorangehen und teils durch die gegebenen Organisationsverhältnisse der Sinnesorgane, teils durch ursprüngliche seelische Funktionen mitbedingt sein lassen (genetische Theorien). So liegen nach Wundt allen räumlichen Vorstellungen sinnliche Empfindungen zugrunde (Bewegungsempfindungen und Lokalzeichen, d. h. Begleitempfindungen der äußern Eindrücke, die verschieden sind je nach der vom Eindruck getroffenen Stelle), hierzu kommt aber noch ein Akt psychischer Synthese, durch den die intensiven und qualitativen Abstufungen der Empfindungen erst eine räumliche Bedeutung gewinnen. Vgl. Gesicht und Augenmaß.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 634-635.
Lizenz:
Faksimiles:
634 | 635
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika