[207] Sünde, das Widersittliche unter religiösem Gesichtspunkt. Obwohl Paulus, der die Lehre von der S. begründet hat, als Anfang der allgemeinen Sündhaftigkeit nach jüdischer Weise den Sündenfall Adams voraussetzt, so leitet er doch zugleich die S. spekulativ aus dem Fleisch (s. d., S. 679) ab. Damit war das Problem gegeben, an dessen Auflösung die Kirchenlehre sich zerarbeitete, indem sie den historischen Anfang mit dem moralischen Ursprung in Einklang zu bringen suchte. Die neuere Dogmatik verwendet die Sündenfallerzählung nur in bildlich-typischem Sinn und findet die natürliche Voraussetzung der S. in dem ursprünglichen Übergewicht des menschlichen Trieblebens, eigentliche S. aber erst in der unter Abweichung vom erkannten göttlichen Willen mit Freiheit erfolgenden Nachgiebigkeit gegenüber jenem. Die kirchliche Lehre leitet den Anfang aller Sündhaftigkeit her vom Sündenfall (s. d.), dessen Folge die Erbsünde (s. d.) ist. Aus dieser gehen die Tatsünden (peccata actualia) hervor. Die Moraltheologie unterscheidet vornehmlich Begehungssünden (p. commissionis) und Unterlassungssünden (p. omissionis); innere oder äußere Sünden (p. interna vel externa), sofern es sich um Gedanken und Begierden oder Worte und Taten handelt; Sünden der Bosheit, Übereilung und Schwachheit (p. voluntaria, in voluntaria, ex infirmitate), wenn direkt böser Entschluß und Absicht, oder mangelnde Erkenntnis und Überlegung, oder Aufregung und Leidenschaft zugrunde liegt; läßliche (Erlaß-) oder leichte Sünden (p. venialia) und schwere oder Todsünden (p. mortalia). mit Bezug auf geringere oder größere Einwilligung. Erkenntnis und Wichtigkeit der Sache, so daß die einen leichter Nachlaß finden, die andern jedoch den Verlust des Gnadenstandes und den ewigen Tod, d. h. die Verdammnis, nach sich ziehen. Materiell heißt die S., wenn die Übertretung gänzlich unbewußt und unfreiwillig, daher formell nicht schuldbar ist. Als besondere Gattungen der Sünden werden angeführt die sieben Hauptsünden (Hoffart, Geiz, Unkeuschheit, Neid, Unmäßigkeit, Zorn, Trägheit), weil aus ihnen die andern Sünden entspringen, die sechs Sünden wider den Heiligen Geist nach Matth 12,31 f., die vier himmelschreienden Sünden (vorsätzlicher Totschlag, Sodomie, Unterdrückung der Armen, Witwen und Waisen, Vorenthaltung des gerechten Lohnes, 1. Mos. 4,10) und die neun fremden Sünden, dh. die Mitwirkung bei Sünden andrer Vgl. die Dogmatiken und Jul. Müller, Die christliche Lehre von der S. (6. Aufl., neue Ausg., Brem. 1889, 2 Bde.); C. Clemen, Die christliche Lehre von der S. (Göttingen 1897, Bd. 1); Tennant, The origin and propagation of sin (Cambridge 1902).