Taubstummheit

[347] Taubstummheit (Aphonia surdorum, Surdomutitas), Stummheit, durch Taubheit bedingt, ist entweder angeboren oder während der Kindheit vor der Zeit entstanden, in der die Sprache erworben und hinreichend befestigt ist, nämlich vor dem 6. oder 7. Jahr. Angeborne T. kommt häufiger in gebirgigen Gegenden und in ärmlichen Bevölkerungsschichten vor; auch aus blutsverwandten Ehen scheinen verhältnismäßig oft taubstumme Nachkommen hervorzugehen. Ferner sollen Trunksucht, Geisteskrankheiten und andre Krankheiten der Eltern ursachliche Bedeutung haben. Selten scheint T. direkt von Eltern auf die Kinder vererbt zu werden; häufiger findet sich bei den Großeltern und in den Seitenlinien dasselbe Leiden. Die angeborne T. prägt sich oft auch in den übrigen Körperformen aus. Der Kopf der Taubstummen ist häufig asymmetrisch geformt und kurz gebaut, der Körper schwächlich und klein, der Brustumfang und die Lungenkapazität gering. Kariöse Zähne, Spärlichkeit des Haarwuchses und Neigung zu Augenlidentzündung kommen häufig vor. Die Nase ist zuweilen abgeplattet, die Lippen sind häufig dick, fleischig und herabhängend, die Intelligenz ist im allgemeinen gering, der Geisteszustand häufig dem Idiotismus nahekommend. Die Sterblichkeit dieser Taubstummen ist sehr bedeutend. Für die erworbene T. sind verschiedene ansteckende Krankheiten, die das Gehör schädigen können, von größter Bedeutung. Auf Mittelohrkatarrhe bei Masern und Scharlach und auf Gehirnhautentzündungen ist der größte Teil der Fälle von T. zurückzuführen. Den Kindern fehlt die Kontrolle der Lautbildung durch das Gehör; hierdurch verlernen sie bald die bereits erworbenen, noch nicht hinreichend befestigten Kenntnisse und sind außerstande, neues hinzuzulernen. Auch bei ertaubten Erwachsenen wird aus dem gleichen Grunde die Sprache monoton und rauh. Die Sprachwerkzeuge dieser Taubstummen sind in der Regel normal gebildet. Nach dem Reichsstrafgesetzbuch (§ 58) kann T. die strafrechtliche Verantwortlichkeit ausschließen, wenn der Täter die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der von ihm begangenen Tat erforderliche Einsicht nicht besaß (vgl. Zurechnungsfähigkeit). In gebirgigen Gegenden kommt T. verhältnismäßig häufiger vor als in den mehr ebenen. In Deutschland kommen auf 10,000 Menschen 7,7 Taubstumme, in Großbritannien 5,7, in der Schweiz 24,5. In Sardinien, im Schwarzwald, in Savoyen, in den Kantonen Bern, Wallis und Aargau kommt T. nach den vorhandenen Zählungen am häufigsten vor. Das zahlenmäßige Verhältnis der angebornen zur erworbenen T. wird sehr verschieden angegeben;[347] manche Statistiken ergaben ungefähr gleich häufiges Vorkommen beider Arten. Die Taubstummen werden am besten in Taubstummenanstalten erzogen. Vgl. Hartmann, Taubstummheit und Taubstummenbildung (Stuttg. 1880); Schmaltz, Die Taubstummen im Königreich Sachsen (Leipz. 1884); Mygind, Taubstummheit (Berl. 1894); Schwendt und Wagner, Untersuchungen von Taubstummen (Basel 1899); Danziger, Die Entstehung und Ursache der T. (Frankf. 1900); Bezold, Die T. auf Grund ohrenärztlicher Beobachtungen (Wiesb. 1902); Siebenmann, Grundzüge der Anatomie und Pathogenese der T. (das. 1904); Denker, Die Anatomie der T. (im Auftrag der Deutschen Otologischen Gesellschaft, das. 1904–07, 4 Tle.); Pongratz, Statistik über die Taubstummen Bayerns (Münch. 1906). Weiteres s. Taubstummenanstalten.

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 347-348.
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