[758] Trunksucht, die durch dauernden Mißbrauch geistiger Getränke herbeigeführte Schädigung der körperlichen und geistigen Gesundheit, speziell auch die bei stärkerm Mißbrauch eintretende, auf krankhafter Willensschwächung beruhende Sucht, immer von neuem alkoholische Getränke zu genießen. Die schädliche Folge des dauernden Alkoholmißbrauchs, die chronische Alkoholvergiftung, tritt allmählich und bei verschiedenen Menschen verschieden leicht auf. Es sind daher die Grenzen zwischen mäßigem und unschädlichem und zwischen übermäßigem, Körper und Geist beeinträchtigendem Alkoholgenuß kaum in allgemeingültiger Weise zu ziehen. Wer, auf dem Standpunkt strenger Abstinenz stehend, jeden Alkoholgenuß als schädlich erachtet, wird die Anfänge der T. schon bei vorsichtigem Gebrauch geistiger Getränke annehmen; doch zeigt die ärztliche Erfahrung, daß der dauernde Genuß geringer Mengen guter geistiger Getränke nicht von gesundheitlichen Nachteilen gefolgt zu sein braucht. Eine allgemeine Regel für die einzuhaltenden Mengen kann freilich auch deshalb nicht festgesetzt werden, weil die Empfindlichkeit individuell außerordentlich verschieden ist. Wenn gesunde erwachsene Männer ohne Schaden dauernd ein bis höchstens zwei Liter Bier (mit 34 Proz. Alkohol) täglich trinken können, so sind doch für viele, namentlich kränkliche und schwächliche Menschen, diese Mengen zu groß. Besonders Personen mit erblicher Belastung zu T. und geistigen Anomalien aller Art, seien sie auch sonst anscheinend ganz gesund, ferner Nervöse, geheilte Trinker und vor allem Kinder vor vollendetem Wachstum sind vielfach für geringe Mengen Alkohol sehr empfindlich. Für solche ist die völlige Enthaltung von geistigen Getränken erforderlich.
Die allerersten, nur bei genauer Beobachtung erkennbaren, bei häufiger Wiederholung aber schon schädlichen und zu krankhaften Zuständen führenden Schädigungen durch kleine Mengen Alkohol liegen auf geistigem Gebiet. Der Ablauf der Gedanken, die Ausführung der einfachsten geistigen Arbeiten (Kopfrechnen), die Beobachtungsgabe werden erschwert. Auch die körperliche Kraft und Sicherheit wird beeinträchtigt; vermehrtes Kraftgefühl beruht ebenso wie die rein subjektive Vorstellung ungehemmtern geistigen Schaffens auf Selbsttäuschung. Erfahrungsgemäß wird für sportliche Höchstleistungen Abstinenz gefordert. Von diesen Störungen bis zu stärkerer Beeinträchtigung der Willenskraft, Verdrängung höherer ethischer Begriffe und zu ausgesprochenen Geisteskrankheiten gibt es zahlreiche Übergänge. Die körperlichen Krankheiten des Trinkers können sich in fast allen Organen geltend machen. Am Herzen wird durch die erregende Wirkung des Alkohols und durch die übermäßigen Flüssigkeitsmengen Vergrößerung des Muskels und Erweiterung der Höhlen verursacht, Entzündung des Herzfleisches ist sehr häufig; namentlich aber ist es die schwere chronische Arterienentzündung, die zu schlimmen Kreislaufstörungen, zu Schlaganfällen und allgemeiner vorzeitiger Abnutzung führt, auch zur Entstehung der alkoholischen Nierenerkrankungen und zu der nicht seltenen Gehirnerweichung beiträgt. An der Nierenentzündung der Trinker hat auch die direkte Giftwirkung des Weingeistes auf die Nierenzellen Anteil, ebenso wird die Leber zu entzündlicher Schwellung mit nachfolgender Schrumpfung, mit Bauchwassersucht und schweren Darmkrankheiten veranlaßt. Am Nervensystem zeigt sich die Alkoholschädigung, abgesehen von Geisteskrankheiten, namentlich in Gestalt von Nervenentzündungen (Neuritis) und Entzündung der harten Hirnhaut. Auch wenn derartige auffällige Leiden ausbleiben, ist der Organismus des Trinkers ein minderwertiger, vielen Gefährdungen gegenüber geschwächter. Bei fieberhaften Erkrankungen, wie Lungenentzündung, Influenza, Typhus, sind Trinker, oft auch sogen. »mäßige«, mehr gefährdet als Enthaltsame. Dementsprechend wird von englischen Lebensversicherungsanstalten den Abstinenten eine ermäßigte Prämienzahlung zugebilligt. Die schwersten Folgen des chronischen Alkoholgenusses sind die krankhaften Veränderungen des Geistes- und Seelenlebens. Durch Abstumpfung aller ethischen Gefühle, durch Erzeugung krankhafter Reizbarkeit im Wechsel mit tiefer Verstimmung wird der Trinker bald für seine Umgebung unerträglich, ja gefährlich. Besonders aber tritt eine krankhafte Schwächung des Willens ein, die es dem Trinker trotz vorübergehender besserer Einsicht unmöglich macht, dem Alkohol zu entsagen. Diese völlige Widerstandsunfähigkeit gegenüber dem Anreiz zu weiterm Alkoholgenuß stempelt die weiterentwickelte Alkoholvergiftung, die eigentliche T., zu einer Geisteskrankheit, wenn auch frühere Stadien des Mißbrauchs noch als Äußerungen eines Lasters erscheinen mögen. Eine häufige Form der alkoholischen Geistesstörung ist der Säuferwahnsinn (Delirium tremens, s. Delirium). Über periodisch auftretende T. s. Dipsomanie.
Die T. führt naturgemäß zu schweren sozialen Schäden. Der Trinker, der sich selbst körperlich und moralisch zugrunde richtet, ist eine Gefahr für die Familie und die weitere Umgebung. Verbrechen, Selbstmorde, wirtschaftlicher Ruin, Verkümmerung der[758] Nachkommenschaft entstehen auf dem Boden der T. Die Zahl der notorischen Trunkenbolde im Deutschen Reich hat man auf 300,000 geschätzt; in den Krankenhäusern Deutschlands werden jährlich ca. 12,000 an T. Leidende aufgenommen. An Säuferwahnsinn starben in Preußen 1895: 623 Personen. Die Leistungen einzelner Armenverwaltungen werden zu 4060 Proz. für Folgen der T. aufgewendet. Die auf ihre Rechnung zu setzenden Selbstmorde und Unfälle sind schwer zu schätzen, aber sicher höchst zahlreich. Unter 32,837 Strafgefangenen im Deutschen Reich hatten 41,6 Proz. ihre Verbrechen unter dem Einfluß des Alkohols begangen; von Körperverletzungen waren 74 Proz., von Notzucht 60 Proz., von Vergehen gegen die Sittlichkeit 77 Proz. im Zustand der Trunkenheit begangen. Der gesamte volkswirtschaftliche Schaden der T. ist zahlenmäßig kaum zu ermessen. Einen Anhalt gibt die genau erforschte Geschichte einer amerikanischen Trinkerfamilie. Von 709 Nachkommen waren 106 unehelich, 181 Prostituierte, 206 Bettler, 76 Verbrecher. Gefängnis und Armenhauskosten sowie sonstiger direkter Schaden durch diese Familie hatten 5 Mill. Mk. betragen.
Zur Bekämpfung der T. sind alle die hygienischen und materiellen Lebensbedingungen des Volkes fördernden Einflüsse unentbehrlich. Von besondern Maßnahmen sind zu nennen: zweckmäßige alkoholfreie Speise- und Erholungshäuser, Darbietung billiger alkoholfreier Getränke an den Arbeitsstätten, Ausbreitung gesundheitsfördernder Vergnügungen (Körperspiele, Sport), Zugänglichkeit einfacher künstlerischer (musikalischer etc.) Darbietungen für die breiten Volksschichten, ferner Belehrung über die Schädlichkeit geistiger Getränke in den Schulen, polizeiliche und gesetzliche Maßregeln, wie Beschränkung des Verkaufs nach Raum und Zeit, der Konzession für Ausschank nach dem Bedürfnis, Ungültigkeitserklärung für Trinkschulden. An jugendliche Personen, bekannte Trinker und Betrunkene sollten geistige Getränke nicht verkauft werden dürfen. Ähnliche Vorschriften haben z. B. in Norwegen einen starken Rückgang der T. zur Folge gehabt. Bei bereits entwickelter T. ist völlige Enthaltung von geistigen Getränken die einzige Möglichkeit der Heilung. Erfahrungsgemäß ist bei schwerern Fällen von T. die Willenskraft so geschwächt, daß eine Abkehr vom Alkoholgenuß nur bei gänzlich veränderten Lebensbedingungen, wie sie nur in geschlossenen Trinkerasylen dargeboten werden, zu erzielen ist. Solche Trinkerheilstätten führen bei hinreichend langem Aufenthalt unter zweckmäßiger Anwendung von Beschäftigung, passender Geselligkeit und Anregung bei einem großen Teil der Behandelten zu guten Heilergebnissen, allerdings ist die Gefahr des Rückfalls nach der Entlassung nicht gering. Dauernde völlige Enthaltsamkeit und Anschluß an Abstinenzvereine ist nötig. Wünschenswert ist, daß die zwangsweise Aufnahme und Zurückhaltung von Trinkern in solchen Heilstätten überall gesetzlich erleichtert werde. Vgl. Baer und Laquer, Die T. und ihre Abwehr (2. umgearbeitete Aufl., Wien 1902); Bratz, Die Behandlung der Trunksüchtigen unter dem Bürgerlichen Gesetzbuch (Halle 1899); Colla, Die Trinkerversorgung unter dem Bürgerlichen Gesetzbuch (Hildesh. 1899), und die ausführlichen Literaturangaben zum Artikel »Mäßigkeits- und Abstinenzbestrebungen«; »Bibliographie der gesamten wissenschaftlichen Literatur über den Alkohol und den Alkoholismus« (hrsg. von Abderhalden, Berl. 1904).