Taubstummenanstalten

[346] Taubstummenanstalten und Taubstummenunterricht. Die für Erziehung und Unterricht der Taubstummen (s. Taubstummheit) bestimmten Anstalten verdanken ihren Ursprung dem seit Mitte des 18. Jahrh. hervortretenden philanthropischen Sinn. Im Altertum (Aristoteles) wie im christlichen Mittelalter (Augustinus, römisches Recht) hielt man die Taubstummen für bildungsunfähig. Öfters trug man sogar religiöse Bedenken, Geschöpfen höhere Kultur aufzudrängen, denen Gott die Anlage dafür versagt hätte. Doch wurden im Altertum wie im Mittelalter einzelne Fälle bekannt, in denen geistige Ausbildung Taubstummer gelungen war. So werden im alten Rom zwei stumme Maler genannt; um 700 n. Chr. hat nach Beda dem Ehrwürdigen Bischof Johannes von Hagunstald (Hexham) einen Taubstummen zum Absehen und zum Sprechen gebracht. Der Humanist Rudolf Agricola (gest. 1485) berichtet als Augenzeuge, daß ein Taubstummer zum ungehinderten schriftlichen Verkehr mit seiner Umgebung herangebildet war. Der berühmteste der ältern Taubstummenlehrer ist der spanische Mönch Pedro de Ponce zu Sahagun in Leon (gest. 1584), der vier Taubstummen die Lautsprache beibrachte. In Deutschland unterrichtete gleichzeitig der Propst Joachim Pascha in Wusterhausen a. d. Dosse (gest. 1578) mit Erfolg seine taubstumme Tochter. Zahlreicher treten ähnliche Leistungen und anregende Berichte darüber (wie von Raphel in Lüneburg [1718], Lasius [Leipz. 1778], Arnoldi [Gieß. 1778–81]) im 18. Jahrh. hervor, nachdem J. K. Amman durch seine Schrift »Surdus loquens« (Amsterd. 1692) den Anstoß zu theoretischer Erörterung der Frage gegeben hatte. Geordnete Anstalten für Unterricht und Erziehung taubstummer Kinder entstanden zuerst durch die menschenfreundliche Tätigkeit des Abbé Charles Michel de l'Epée in Versailles (1760, seit 1791 Staatsanstalt) und Sam. Heinickes in Eppendorf bei Hamburg (1768), welch letztern der Kurfürst Friedrich August von Sachsen 1778 zur Einrichtung einer öffentlichen Taubstummenanstalt nach Leipzig berief. Seit jener Zeit ist die Pflicht des Staates und der Gesellschaft, für Erziehung und Unterricht der Taubstummen in besondern Anstalten Sorge zu tragen, mehr und mehr zum allgemeinen Bewußtsein gekommen. Dem wirklichen Bedürfnis ist aber bis heute selbst unter den gebildeten Völkern Europas noch nicht durchweg Genüge geleistet. Die Unterweisung eines taubstummen Kindes muß übrigens möglichst schon im elterlichen Hause beginnen. Auch ist es rätlich, taubstumme Kinder, ehe sie in einer Anstalt Aufnahme finden können, in der Ortsschule an den technischen Übungen teilnehmen und den bildenden Umgang mit vollsinnigen Kindern genießen zu lassen. Der wohlgemeinte, von J. B. Graser (s. d.) angeregte Versuch, jeden Volksschullehrer für den Unterricht taubstummer Kinder vorzubilden, zu dem Ende die Lehrerseminare mit Taubstummenanstalten zu verbinden und im übrigen die Kinder der Volksschule ganz zu überlassen (seit 1830), hat sich nicht bewährt und ist überall wieder aufgegeben. Ebenso ist man von der Vereinigung der Taubstummen- und Blindenanstalten, die nur noch an wenigen Orten fortbesteht, durch die Erfahrung zurückgekommen.

Der Taubstummenunterricht soll den Taubstummen dahin bringen, daß er andre durchs Gesicht verstehe und sich ihnen durch Lautsprache und Schrift verständlich machen könne, woran sich dann Weckung und Übung der geistigen Kräfte des Zöglings sowie Mitteilung der nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten knüpfen. Es empfiehlt sich, das taubstumme Kind, soweit der organische Fehler es irgend zuläßt, nach der für gesunde Kinder geltenden natürlichen Methode zu unterrichten. Ganz besonders ist hier auch der sogen. Handfertigkeitsunterricht, d. h. Anleitung zu äußern, zur sinnigen Beschäftigung wie zum anständigen Fortkommen im bürgerlichen Leben dienenden Fertigkeiten, am Platze. Die für den Taubstummenunterricht in Betracht kommenden besondern Mittel der Verständigung sind: Zeichen-, Laut- und Schriftsprache. Zu der ersten gehören: die natürliche Zeichen- und Gebärdensprache als unentbehrliches Verständigungsmittel für den anfänglichen Verkehr der zu unterrichtenden Taubstummen mit dem Lehrer und untereinander; die künstliche, methodische Zeichen- oder Gebärdensprache und die Finger- oder Handsprache, bei der die Buchstaben des Alphabets durch Finger- und Handbewegungen dargestellt werden (s. Gebärdensprache [Fingersprache]). Jede künstliche Gebärdensprache ist jedoch, als dem eigentlichen Zweck der Taubstummenbildung (Befähigung des Viersinnigen zum Verkehr in der Welt) hinderlich, heutzutage aus allen guten Anstalten verbannt. Aber auch die (leicht überwuchernde) natürliche Gebärde wird in Deutschland möglichst eingeschränkt. Bei der Laut- oder Lippensprache (Artikulation) muß der taubstumme Schüler befähigt werden, durch aufmerksames Beobachten der Bewegungen der Lippen, der Zunge und zum Teil auch der Gesichtszüge den Sprechenden zu verstehen und sich selbst andern durch lautes Sprechen verständlich zu machen. Mit der Lautsprache geht die Schriftsprache Hand in Hand. Zur Lautsprache den Taubstummen zu befähigen, ist oberste Aufgabe des Taubstummenunterrichts; denn durch sie vor allem ist der Taubstumme imstande, mit der menschlichen Gesellschaft in bewußte Wechselwirkung zu treten, wodurch sowohl seine weitere Bildung als sein äußeres Fortkommen ungemein erleichtert wird. Da auch der ausgebildete Taubstumme[346] weder die eignen Worte noch diejenigen andrer hört, bringt er es natürlich nicht zu einer klangvollen und wohlbetonten Aussprache, wiewohl auch hierin einzelne begabtere Zöglinge erstaunliche Fortschritte machen. Dagegen gelingt es in guten Anstalten stets, durchschnittlich begabte Kinder, die rechtzeitig eintreten (8.–12. Jahr), zu einem im wesentlichen lautrichtigen und daher verständlichen Sprechen anzuleiten. Hierin ist das Ziel angedeutet, das nach Heinickes Vorgang seit Jahrzehnten alle deutschen und heutzutage überhaupt alle gut eingerichteten Anstalten sich stecken. Den Sieg der Artikulationsmethode entschieden namentlich die Beschlüsse der internationalen Kongresse für Taubstummenwesen in Paris (1879) und Mailand (1880). Heinicke hatte darin schon den Spanier Ponce, den Schweizer Amman (in Holland um 1700), den in Paris ansässigen Portugiesen Pereira u. a. zu Vorgängern. Der Abbé de l'Epée dagegen und nach ihm Sicard und Guyot entschieden sich für die Zeichen- und Gebärdensprache als Hauptmittel des geistigen Verkehrs für Taubstumme, ohne die Artikulation ganz auszuschließen. Taubstummenanstalten und -Schulen zählte man um 1900 auf der ganzen Erde 474 mit etwa 33,000 Zöglingen unter 4000 Lehrern; davon kamen auf Europa 357, auf Amerika 103, auf Asien 5, auf Afrika 5, auf Australien 4. Von den europäischen Anstalten fielen auf Frankreich 70 Anstalten (4800 Zöglinge), Großbritannien 45 (3600), Italien 51 (2200), Österreich-Ungarn 31 (1900), Rußland 12 (800), Schweiz 17 (600), Schweden 9 (550), Dänemark, Belgien, Norwegen je 5, Niederlande und Portugal je 3, Spanien 2, Luxemburg, Rumänien je eine. In Deutschland gab es 1904 insgesamt 90 Anstalten mit 6703 Zöglingen unter 755 Lehrern und Lehrerinnen. Von diesen Anstalten wurden 25 von den Staaten, 46 von Provinzen, Kreisen, Städten und 19 von besondern Vereinen, vielfach mit öffentlicher Beihilfe, unterhalten. Schulzwang für taubstumme Kinder besteht gesetzlich in Baden, Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Koburg-Gotha, Sachsen-Meiningen, Oldenburg, Lübeck und Bremen. Doch bietet jetzt im ganzen Reiche § 1666 des Bürgerlichen Gesetzbuches, in Preußen u. a. überdies das Gesetz, betreffend Fürsorgeerziehung, vom 2. Juli 1900 die Möglichkeit, vernachlässigte taubstumme Kinder einer Anstalt zuzuweisen. Von den 90 Anstalten kommen auf Preußen 45, Bayern 13, Sachsen 3, Württemberg 8, Baden 4, Hessen 2, Elsaß-Lothringen 4 und je eine auf Mecklenburg-Schwerin, Oldenburg, Sachsen-Weimar-Eisenach, Sachsen-Koburg-Gotha, Sachsen-Meiningen, Braunschweig, Anhalt, Lippe, Reuß j. L., Lübeck, Bremen, Hamburg. Man schätzt die Anzahl der Taubstummen in Europa auf etwa 300,000, wovon 60,000 im schulpflichtigen Alter, aber nur 20,000 in regelrechter Pflege stehen. In Deutschland genießen von etwa 8000 schulpflichtigen Taubstummen 6700 Anstaltserziehung, also 83,75 Proz. Dagegen wachsen hier 16,25, noch unlängst wuchsen in Großbritannien 43, in Frankreich gegen 40, in Österreich-Ungarn gegen 70, in Rußland und andern Ländern bis zu 90 Proz. der Taubstummen ohne gehörige Bildung auf. Vgl. Schöttle, Lehrbuch der Taubstummenbildung (Tübing. 1874); Walther, Geschichte des Taubstummenbildungswesens (Bielef. 1882), Handbuch der Taubstummenbildung (Berl. 1895) und Taubstummenunterricht, im 3. Bd. von Lexis: Das Unterrichtswesen im Deutschen Reich (das. 1904); Heidsiek, Der Taubstumme und seine Sprache (Bresl. 1889); Vatter, Die Ausbildung der Taubstummen in der Lautsprache (Frankf. 1891 bis 1899, 3 Bde.); Hedinger, Die Taubstummen und Taubstummenanstalten (Stuttg. 1882); Karth, Das Taubstummenbildungswesen im 19. Jahrhundert in den wichtigsten Staaten Europas (Bresl. 1902); Schneider und v. Bremen, Volksschulwesen des preußischen Staats (das. 1886–87, 3 Bde.); »Statistisches Jahrbuch der höhern Schulen und heilpädagogischen Anstalten Deutschlands, Luxemburgs und der Schweiz« (Leipz., 28. Jahrg., 1907); Radomski, Statistische Nachrichten über die T. Deutschlands (11. Jahrg., Posen 1907). Zeitschriften: »Blätter für Taubstumme« (hrsg. von Hirzel, Schwäb. – Gmünd, seit 1855), »Organ der Taubstummenanstalten« (hrsg. von Vatter, Friedberg, seit 1855) und »Blätter für Taubstummenbildung« (hrsg. von Walther, Berl., seit 1887); »Schweizerische Taubstummenzeitung« (hrsg. von Sutermeister, Bern, seit 1907).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 19. Leipzig 1909, S. 346-347.
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