Irritabilität

[69] Irritabilität (v. lat., Reizbarkeit), die Fähigkeit des Körpers, für die nothwendig zum Leben erforderliche Wechselwirkung mit der Außenwelt u. deren Einflüssen empfänglich zu sein u. durch sie zur besonderen Thätigkeit bestimmt zu werden. Im engeren Sinne nennt man diese Fähigkeit Erregbarkeit (Incitabilitas), u. sie besteht nicht blos darin, Eindrücke von der Außenwelt aufzunehmen (Empfänglichkeit), sondern auch darin, in Folge dieser Eindrücke eine besondere Art von Thätigkeit zu äußern, wodurch der Zustand verändert u. die einwirkende Potenz bedingt wird (Reactionsvermögen od. Selbstbestimmung, Spontaneität). Die J. ist also nicht das Leben selbst, wie die Brownsche Schule annimmt, sondern nur eine Eigenschaft desselben. Die auf den Organismus einwirkenden u. in ihm eine Veränderung hervorrufenden Eindrücke nennt man Reize (Incitamenta, Irritamenta), u. den Act der Einwirkung u. der Thätigkeit des Organismus gegen diese Einwirkung Reizung (Irritatio, Incitatio). Die vollbrachte Wirkung eines Reizes auf die Erregbarkeit heißt Erregung (Incitatio), u. die dadurch bedingte Thätigkeit des Organismus Gegenwirkung (Reaction). Die Wirkung, welche die Reize in dem Organismus hervorrufen können, ist hinsichtlich ihrer Kraft, Dauer u. Folgen eine sehr verschiedenartige, je nach dem Grade der Reizbarkeit überhaupt u. nach der Stärke u. Dauer der Reizung, sodann nach der Beschaffenheit des Reizes. Nicht alle organischen Erscheinungen können durch alle Einwirkungen beeinflußt u. abgeändert werden, sondern bestimmte Einflüsse wirken mehr auf die, andere mehr auf jene Thätigkeit. Jeder Reiz erzeugt außerdem nur in einem gewissen Grade Wirkungen im organischen Körper, übersteigt die Einwirkung einen gewissen Grad, so hat sie gefährliche, selbst vernichtende, sinkt sie unter diesen Grad, dann hat sie gar keine Folgen. Für jeden Organismus wirken die Einflüsse hinsichtlich ihrer Stärke u. Beschaffenheit anders, so daß die Stärke eines Reizes, welche hier zerstörend wirkt, dort gar keine Wirkung hervorbringt u. eine Substanz, welche dem einen Organismus schädlich ist, dem anderen Nutzen bringt. Kurz Alles, womit ein organischer Körper in Berührung kommt, kann in ihm reizend u. vernichtend wirken, es kommt dabei nur auf die Stärke der Einwirkung an. So können durch Reize die Thätigkeiten des Körpers gesteigert, gehemmt od. ganz umgeändert werden. Glücklicherweise kommt aber allen Organismen das Vermögen zu, sich mittelst ihres Selbsterhaltungsprocesses in der Wechselwirkung mit ihrer Umgebung in ihrer Integrität zu erhalten, die Veränderungen, welche Reize hervorriefen, ganz od. zum Theil wieder auszugleichen (Regenerations-, Restaurationsvermögen). Dazu kommt außerdem noch die Fähigkeit der Organismen, ihren Lebenszustand nach den äußeren Bedingungen einzurichten u. diesen in gewissen Grade anzupassen (Accommodationsvermögen, Gewöhnung), ohne aber die Selbständigkeit aufzugeben. Die Gewöhnung an Reize besteht demnach nicht darin, daß der Reiz gar keine Wirkung mehr hervorbringt, sondern darin, daß sich der Organismus der Einwirkung accommodirt hat. Es sind in der Organisation, sei es hinsichtlich ihrer Zusammensetzung od. in Absicht auf ihre Thätigkeit, Veränderungen eingetreten u. durch die häufigere Einwirkung geblieben, bei welchen die letztere ohne Störung u. Hemmung anderer Vorgänge erfolgen kann. Jedoch gibt es auch Einflüsse, an welche man sich nie gewöhnen kann, die immer dieselben Wirkungen erzeugen; ja es kommt der Fall vor, daß Menschen sich nicht an Reize gewöhnen können, an die man sich in der Regel leicht gewöhnt, welchen Zustand man Idiosynkrasie nennt. J. der Muskeln, (Muskelreizbarkeit), diejenige Fähigkeit der Muskelfasern sich auf gewisse Reize in der Richtung ihrer Fasern verkürzen zu können. J. der Nerven (Sensibilität), die Fähigkeit der Nerven, durch Reize zu der ihnen eigenthümlichen Thätigkeit bestimmt zu werden.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 9. Altenburg 1860, S. 69.
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