Merlin [1]

[153] Merlin, der Zauberer, eine der hervorragendsten Gestalten in dem altbritischen Sagenkreise, die wahrscheinlich aus einer Verschmelzung der Berichte über zwei verschiedene Persönlichkeiten entstanden ist. Die eine ist der Barde Merddhin, der unter König Arthur gegen die Sachsen stritt u. nach der verlorenen Schlacht am Walde Celidon wahnsinnig in diesen floh. Ihm wird von den Kymren eine Dichtung Afallenau (gedruckt in The Myvyrian archaeology of Wales, Bd. 1. Lond. 1801) zugeschrieben. Die andere sagenhafte Person ist der wunderbare Knabe M., auch M. Ambrosius genannt, der als vaterloses Kind zum Opfertode bestimmt (um einen gegen die Sachsen zu vertheidigenden Thurm zu befestigen), vor Vortiger gebracht wurde u. diesem aus einem Kampfe zweier Drachen, von denen der eine England, der andere die Sachsen bedeute, Trauriges über Englands Zukunft weissagte. Später versetzte er Felsen von Irlands Küsten nach England, verwandelte sie in Riesen u. ließ sie eine Tropäe zu Ehren des Königs Ambrosius bilden. Als König Uther-Pendragon die schöne Iguerne vergebens liebte, ließ M. denselben die Gestalt von deren Gemahl annehmen u. so ihre Umarmung genießen. Zum Lohn erbat sich M. den aus dieser Liebe entsprossenen Sohn Arthur, erzog ihn fern vom Hofe u. brachte ihn einst mitten in die, auf seinen Rath von Uther-Pendragon gestiftete Tafelrunde, wo er ihm den 50. Platz offen gelassen hatte. Nach Andern war er der Freund u. Rathgeber Arthurs, der auf seinen Rath die Tafelrunde erst stiftete. Es gab einen einzigen Zauber, von dem seine Kraft übertroffen wurde, u. M. bewahrte denselben als das tiefste Geheimniß, weil er von demselben Besiegung fürchtete. In einem schwachen Augenblicke aber vertraute er ihn seiner Geliebten Viviana, einer Zauberin (Dame du lac). Weil sie die Macht M-s für unüberwindlich hielt, glaubte sie es nicht u. versuchte es an ihm, aber der Zauber wirkte so stark, daß ihn nichts wieder lösen konnte. M. verschwand u. nur seine Stimme blieb übrig, die aus einer finstern Grotte in dem Walde Brozeliand weissagend ertönte; auch kommt er zuweilen unsichtbar aus seinem leuchtenden Grabe hervor u. weissagt. In den Romanen, welche von ihm erzählen, ist er ein Greis mit weißem Barte, der fern vom Hofe in Wäldern lebte u. nur an entscheidenden Tagen zum König kam. Vor den Sachsen entflieht er auf einem gläsernen Schiffe. In den späteren Ritterpoesien sind die Sagen vom Graal, von Joseph von Arimathia u. der Tafelrunde hineingezogen. Die nationale Erinnerung an M. erhielt sich in geheimnißvollen Dichtungen, die schon Gottfried von Monmuth (1130–50) als Prophetiae Merlini seiner Chronik beifügte u. in denen man noch lange nachher Voraussagungen über die englische Geschichte finden wollte. Der französische Roman wurde zuerst 1498 zu Paris in drei Foliobänden gedruckt. Danach arbeitete F. von Schlegel seine Geschichte des Zauberers M. (Lpz. 1804). Vgl.: San Marthe, Die Arthursage, Quedlinb. u. Lpz. 1842; Villemarqué, Contes populaires des anciens Bretons, Par. 1842, 2 Bde.; Grässe, Die Sagenkreise des Mittelalters, Lpz. 1842.

Quelle:
Pierer's Universal-Lexikon, Band 11. Altenburg 1860, S. 153.
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