[323] Orakel (v. lat. Oraculum, gr. Manteion, Chresterion), im Alterthum Anstalten bei einzelnen religiösen Cultusstätten von Heroen od. Göttern, wo auf Fragen wegen bestimmter wichtiger Fälle entweder unmittelbar od. gewöhnlich mittelbar Antworten od. Aussprüche ertheilt wurden, wornach sich[323] die Fragenden dann in ihrem Verhalten od. bei Ausführung eines Vorhabens richteten. Auch ein solcher göttlicher Ausspruch selbst heißt O. (gr. Chresmos, Manteuma, Theopropion, Logion), u. die O. gehörten zu der natürlichen od. kunstlosen Divination. Eigenthümlich allen Orakelstätten war, daß die Vermittlung zwischen den fragenden Menschen u. den antwortenden Gottheiten durch eine bestimmte an der Cultusstätte ansässige, meist erbliche Priesterschaft geschah, von welcher man glaubte, daß sie eine höhere, von der Nähe der Gottheit herrührende Weisheit u. Bildung besitze. Befragt wurden die O. außer von Einzelnen in persönlichen Beziehungen, hauptsächlich in wichtigen öffentlichen Angelegenheiten, namentlich wegen Gründung von Städten, Absendung von Colonien, Einführung von Verfassungen, Unternehmung von Kriegen, Abschließung von Frieden, Verhaltens bei großen u. außerordentlichen Calamitäten etc. Die O. theilt man nach der Art, wie die Antworten gegeben wurden, in Traum-, Spruch- u. Zeichenorakel. A) Die Traumorakel waren mit der Verehrung von Heroen verbunden, so des Amphiaraos zu Oropos, des Amphilochos u. Mopsos zu Mallos in Cilicien, des Asklepios in Epidauros u.a.; bei letzterem wurden namentlich O. wegen Krankheitsheilungen ertheilt, die Schatten der Heroen, durch Todtenopfer eingeladen, erschienen den in den Tempeln Schlafenden im Traume u. gaben ihre Aussprüche, s. Incubation 1); sie wurden meist nur von gemeinen, abergläubischen Leuten befragt. B) Die Spruchorakel wurden an den heiligen Stätten von Personen, entweder Männern od. Weibern, welche durch physische Einflüsse in einen ekstatischen Zustand versetzt waren, gesprochen u. diese dann von den Priestern zu Antworten auf die vorgelegten Fragen, bes. in metrischer Form, zusammengestellt. Der solche O. eingebende Gott war Apollo, u. die berühmteste Orakelstätte in Griechenland zu Delphi, dann zu Abä, Ädepsos, Hysiä u. Argos, in Kleinasien in Klaros bei Kolophon u. in Didymä (s.d.a.) bei Miletos. C) Bei den Zeichenorakeln wurden die O. aus gewissen natürlichen Erscheinungen ermittelt, so bei dem O. des Zeus in Olympia, wo die Priester aus den Opferanzeigen Antworten gaben, bes. bei dem des Zeus zu Dodona (s.d.), wo aus der Bewegung der Blätter der heiligen Eiche u. aus dem Klange der heiligen Becken geweissagt wurde. Die Spruch- u. Zeichenorakel bildetenschon den Übergang zu der künstlichen Weihsage, da hier die mittelbar gegebenen Aussprüche Deutungen für die Empfänger nöthig machten. Die so von den Priestern verfaßten Aussprüche waren sehr oft dunkel u. zweideutig, was theils ein Auskunftsmittel der Klugheit für die Fälle des entgegengesetzten Ausganges war, theils auch der über der menschlichen erhabenen göttlichen Natur angemessen erschien u. die Orakelempfänger zu weiterer Forschung anregen sollte. O. gab es in Griechenland schon in der ältesten Zeit; von höchster Bedeutung wurden sie seit der Einwanderung der Dorier, deren Hauptgott Apollo war, u. hielten sich lange in ihrer Wichtigkeit, u. erst als sie seit dem Verfall des Nationalgeistes Parteizwecken dienten u. der Bestechung zugängig wurden, sank ihr Ansehen u. schwand mit dem Untergange der Freiheit immer mehr, bis Kaiser Theodosius sie endlich ganz schließen ließ. Wie in Griechenland so gab es auch in Ägypten O., das älteste war in Meroe, dann in Theben u. das Ammonium (des Zeus Amun) in der Libyschen Wüste; in Italien gehörten sie der ältesten Zeit an, so das der Albuneabei Tibur, das der Cumanischen Sibylle, das des Faunus u. der Fortuna zu Präneste; später verstummten diese O., u. die Römer befragten die in Griechenland u. Ägypten od. bedienten sich der künstlichen Weihsage, s.d. Vgl. Clavier, Mémoire sur les oracles des anciens, Par. 1819; Wiskemann, De variis oraculorum generibus, Marb. 1838; Pabst, De diis Graecorum fatidicis, Bonn 1840.