Gruppe

[501] Gruppe. (Zeichnende Künste)

Dieses Wort ist bis itzt nur in den zeichnenden Künsten aufgenommen, obgleich die Sache selbst, die es ausdrükt, allen Künsten gemein ist. Man versteht nemlich dadurch die Zusammenstellung, oder Vereinigung mehrerer einzeler, zusammengehöriger Gegenstände, in eine einzige Masse, so daß die Gegenstände, die man sonst einzeln als für sich bestehende Dinge würde gesehen oder bemerkt haben, durch diese Zusammensetzung als Theile eines grössern Ganzen erscheinen. Nicht jede Vereinigung der Theile in ein Ganzes ist eine Gruppe, (der menschliche Körper ist ein aus vielen vereinigten Theilen zusammengesetztes Ganzes, aber keine Gruppe) sondern die, da jeder Theil schon für sich etwas Ganzes seyn könnte. Das Ganze ist ein System, oder eine Masse von Theilen, deren keiner für sich etwas Ganzes wäre; die Gruppe ist ein großes Ganzes aus kleinen Ganzen zusammengesetzt. Ein solches Ganzes ist z. B. eine Weintraube: jede Beere für sich betrachtet, ist etwas ganzes, nämlich ein runder Körper; diese Beeren auf einem Tische zerstreuet, machen nicht einen, sondern viel Körper aus; aber in eine Traube vereiniget, werden sie zu einer Gruppe und dadurch zu einem Ganzen, das seine Form hat und nun auf einmal, als ein einziges System, kann gefaßt werden. Der Historienmahler, der zu Vorstellung seiner Geschichte mehrere Personen oder Figuren zu zeichnen hat, stellt sie nicht einzeln oder zerstreuet, eine hier, die andre da, vor, sondern vereiniget derer etliche hier, andre an einer andern Stelle, in eine Masse oder in einen Klump zusammen, und wenn er die Sachen so geordnet hat, so sagt man, er habe Gruppen gemacht, oder die Figuren gruppirt. Wiewol man nun dieses Wort, wie gesagt, blos in zeichnenden Künsten braucht, so ist offenbar, daß die Sache selbst in allen andern Künsten vorhanden ist. Eine Periode der Rede ist nichts anders, als eine Gruppe einzeler Sätze, und die Periode in der Musik, eine Gruppe kleinerer Einschnitte. Dieses sey zur Erklärung des Worts gesagt.

Die Sache selbst verdienet in der Theorie der schönen Künste eine genaue Betrachtung, weil die Gruppirung der Gegenstände in den meisten Werken der Kunst eine Hauptsache ist. Daß ein Werk des Geschmaks, welches aus sehr viel einzelen Gegenständen zusammengesetzt ist, diese Theile nicht zerstreuet und einzeln darstellen, sondern dieselben in eine oder mehrere Gruppen sammeln, und diese Gruppen wieder in einen einzigen Gegenstand verbinden müsse, ist eine wesentliche Regel, deren Grund leicht einzusehen ist. Es ist weder der Phantasie noch dem Verstande möglich, sich viel einzele Dinge auf einmal klar vorzustellen. Das einfache Wesen unsers Geistes zeiget sich auch darin, daß wir die Aufmerksamkeit auf einmal nur auf einen einzigen Gegenstand richten können; eben so wie es unmöglich ist, wenn wir viel einzeln zerstreuete Personen [501] vor uns sehen, mehr, als eine auf einmal klar ins Gesicht zu fassen. Ein aus viel einzelen Gegenständen bestehendes Werk bekömmt dadurch, daß die sich zusammen schikende einzele Theile in wenige Massen gesammelt werden, eine Einfalt, die uns verstattet das Ganze zu fassen; so wie wir von den größten Zahlen, so bald sie Kunstmäßig durch wenig Ziffern ausgedrukt werden, einen klaren Begriff bekommen. Wenn wir z. B. die Zahl hundert in diesen drey Summen oder Gruppen sehen 60 + 30 + 10; so werden wir ohne Mühe eine klare Vorstellung von dieser Summe haben, wozu wir nicht ohne sehr große Mühe gelangen würden, wenn wir sie in sehr viel einzeln Theilen, wie z. E. so: 2 + 3 + 7 + 9 + 14 u. s. f. vor uns sehen. Dieses ist also der erste Vortheil, den wir vom Gruppiren haben, daß es die Hauptvorstellung des Ganzen erleichtert, und ihm Klarheit, Einfalt, folglich Faßlichkeit giebt. Durch das Gruppiren wird das Viele als wenig vorgestellt, um auf einmal zu würken; daher ofte der Charakter der Größe selbst, aus einer geschikten Gruppirung entsteht.

In den Gegenständen, die man auf einmal übersieht, dienen die Gruppen auch, der Menge der auf einmal vorschwebenden Gegenstände Ordnung zu geben, und die Aufmerksamkeit des Beobachters bey der näheren Betrachtung derselben zu lenken. Es ist gar nicht gleichgültig, auf welchen Theil eines Gemähldes man das Aug zuerst richte.1 Man muß die Hauptsache, das wovon das übrige abhängt, eher, als das andre sehen, und von diesem allmählig auf die mit ihm verbundenen Theile, in der Ordnung, welche die Natur der Sachen erfodert, fortschreiten. Diese Ordnung aber kann durch die Gruppen angezeiget werden. Das Aug fällt allemal eher auf das Große, als auf das Kleine, eher auf das wo starkes Licht ist, als auf das schwächer Erleuchtete. Dadurch kann der Mahler das Aug gleichsam zwingen, die Theile des Gemähldes in der Ordnung, die er ihm selbst vorschreiben will, zu betrachten.

Endlich dienet das Gruppiren auch überhaupt dazu, daß jedes Einzele des Werks in seinem Rang, in seiner Abhänglichkeit und in seinem wahren Verhältnis zu den übrigen erscheine. In jedem Werke kommen kleinere und grössere, wichtigere und unbeträchtlichere Dinge vor; die Vorstellung des Ganzen hat nur alsdenn ihre Richtigkeit, Wahrheit und die Würkung, die sie haben soll, wenn jeder Theil in dem ihm zukommenden Rang erscheinet. Dieses aber wird durch eine geschikte Gruppirung erhalten. Die wichtigsten Theile kommen in die Hauptgruppen; in jeder Gruppe aber kommen wieder die Haupttheile an den sichtbaresten Ort, die Nebensachen aber dahin, wo sie die ihm zukommende Würkung am besten thun. Es giebt in jedem Werke der Kunst Theile, die nicht als Theile des Ganzen, sondern als Theile grösserer Haupttheile erscheinen; diese kleinen Theile müssen so angeordnet seyn, daß es dem Auge nicht möglich wird, sie gegen das Ganze zu halten; es muß sie nur gegen das kleinere Ganze der Gruppe, zu der sie gehören, stellen. Diesen Kunstgriff hat die Natur an dem Bau des menschlichen Körpers auf das Vollkommenste beobachtet. Es fällt Niemanden ein, die Nase oder den Mund in seinem Verhältniß gegen den ganzen Leib zu betrachten, sondern blos in dem Verhältniß gegen das Gesicht; dieses aber wird, als ein Haupttheil, in seinem Verhältnis gegen den Rumpf abgemessen. So wissen geschikte Baumeister die Theile der Aussenseite eines Gebäudes geschikt zu gruppiren, daß es uns nicht einfallen kann, kleinere Theile, als Fenster, oder gar einzele Glieder, gegen das Ganze zu halten, sondern allemal gegen die Haupttheile, von denen sie Theile sind.

Also hat nicht nur der Mahler, sondern jeder andrer Künstler die vollkommene Gruppirung der Vorstellungen genau zu studiren; denn je glüklicher er darin ist, je vollkommener wird auch sein Werk seyn.

Nicht nur die Gegenstände, die man auf einmal übersieht, sondern auch die, die sich nach und nach darstellen, müssen gruppirt seyn, und haben dieses um so mehr nöthig, je größer die Menge und die Mannigfaltigkeit der Dinge, die dazu gehören, ist. Daher müssen epische Dichter, Geschichtschreiber und Redner die Kunst zu gruppiren von dem Mahler lernen. Wer eine an einzeln Vorfällen reiche Handlung oder Begebenheit schreiben will, muß seine Materie nothwendig gut gruppiren, wenn der Zuhörer für der Verwirrung der Vorstellungen gesichert seyn soll. Er muß kurz die Hauptparthien, die zusammen genommen das Ganze ausmachen, vorstellen, als wenn man auf einmal die Begebenheit im Ganzen übersähe, und hernach muß er jede Hauptgruppe nach und nach besonders entwikeln. [502] Dieses ist eine der wichtigsten Regeln einer guten Erzählung, wie schon an seinem Ort angemerkt worden ist2. Zum Beyspiel einer solchen Gruppirung können wir Bodmers Beschreibung, von dem Eingang der Thiere in die Arche, anführen. Das Gemähld besteht aus einer unermeßlichen Menge einzeler Theile. Hätte der Dichter, ohne es zu gruppiren, uns der Ordnung nach, die ankommenden Thiere ein Paar nach dem andern gleichsam aufgezählt, so würde er uns ermüdet und verwirrt haben. Darum führt er das Aug zuerst schnell über die Hauptgruppen weg.


sie sahn ein seltsames Wunder;

Vögel, Vieh und Würmer kamen.


Mit diesem einzigen Blik übersehen wir schon das ganze Gemähld in drey Hauptgruppen. Aber jede dieser Hauptgruppen hat noch zu viel Mannigfaltigkeit; darum theilt jede sich wieder in Nebengruppen.


Zuerst stieg

Ueber die Brüke die Schaar, die auf vier Füßen einhergeht.

Sechs Geschlechte.

–– ––

Alsobald folgte das gefiederte Heer; zuerst das Geflügel

Von der gefräßigen Art u. s. w.

–– –– ––

Nach der geflügelten Schaar kam ein kleiner gehasseter Hauffe

Der in die Fluth und das trokene Land sein Leben vertheilet

–– ––

Noch war ein Volk zurük, die Pygmäen in Reiche der Thiere.


Auf diese Weise wird eine Erzählung eben wie ein Gemählde gruppirt. Man übersieht erst das Ganze; dann jeden großen Haupttheil besonders wieder in seinem Ganzen, und darauf die Theile dieser Theile.

Auch der dogmatische Vortrag erfodert eine ähnliche Gruppirung, damit man zuerst das Ganze übersehen, die Haupttheile in ihrer Ordnung und Abhänglichkeit von einander bemerke, und von da auf die Betrachtung des Einzelen komme. Diesen Theil der redenden Kunst scheinen die neuern französischen Schriftsteller mehr, als irgend eine gelehrte Nation studirt zu haben. Im dogmatischen Vortrag können, was die gute Gruppirung der Materie betrift, alle andre Völker von ihnen lernen.

1S. Größe. S. 492.
2S. Erzählung.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 1. Leipzig 1771, S. 501-503.
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501 | 502 | 503
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