Natur

Natur. (Schöne Künste)

Es ist schweer die verschiedenen Bedeutungen dieses Worts in einen einzigen Begriff zu fassen. Man pflegt die ganze Schöpfung, das ganze System der in der Welt vorhandenen Dinge, in so fern man sie als Würkungen der in derselben ursprünglich vorhandenen Kräfte ansiehet, die durch keine nur in besondern Fällen sich äußernde Ueberlegung, zu besondern Absichten geleitet worden, mit dem Namen der Natur zu belegen, und verstehet bald jene ursprünglichen Kräfte selbst, bald aber ihre Würkungen darunter. Was aber in der Welt geschieht durch Kräfte, die nicht ursprünglich darin vorhanden sind; was sein Daseyn, oder seine Beschaffenheit von besonderer, nicht auf das allgemeine System abziehlender Ueberlegung; oder auch von einem der allgemeinen Ordnung, und dem ordentlichen Laufe der Dinge wiedersprechenden Zufall hat; dieses alles wird der Natur entgegengesezt. Dergleichen Dinge sind Wunderwerke, auch Werke der menschlichen Kunst, und Würkungen seltsam verbundener, und der allgemeinen Ordnung entgegen handelnder Ursachen.

Als würkende Ursache betrachtet, ist die Natur die Führerin und Lehrerin des Künstlers; als Würkung ist sie das allgemeine Magazin, woraus er die Gegenstände hernimmt, die er zu seinen Absichten braucht. Je genauer der Künstler in seinem Verfahren, oder in der Wahl seiner Materie sich an die Natur hält, je vollkommener wird sein Werk. Wir wollen beydes etwas ausführlicher betrachten.

In dem ersten Sinn ist die Natur nichts anders als die höchste Weisheit selbst, die überall ihren Zwek auf das Vollkommenste erreicht; deren Verfahren ohne Ausnahm höchst richtig,, und ganz vollkommen ist. Daher kommt es, daß in ihren Werken alles zwekmäßig, alles gut, alles einfach und ungezwungen, daß weder Ueberfluß noch Mangel darin ist. Eben darum nennet man auch künstliche Werke natürlich, wenn darin alles vollkommen, ungezwungen und auf das Beste zusammenhängend ist, als wann die Natur selbst es gemacht hätte.

Das Verfahren der Natur ist deswegen die eigentliche Schule des Künstlers, wo er jede Regel der Kunst lernen kann. An jedem besondern Werke dieser großen Meisterin findet er die genaueste Beobachtung dessen, was zur Vollkommenheit und zur Schönheit gehöret, und je ausgedähnter seine Kenntnis der Natur ist, je mehr hat er Fälle vor sich, wo immer dieselben allgemeinen Grundsäze des Vollkommenen und des Schönen in verschiedenen Gattungen und Arten angetroffen werden. Deswegen kann auch die Theorie der Kunst nichts anders seyn, als das System der Regeln die durch genaue Beobachtung aus dem Verfahren der Natur abgezogen worden. Jede Regel des Künstlers, die nicht aus dieser Beobachtung der Natur hergeleitet worden, ist etwas blos phantastisches, das keinen wahren Grund hat, und woraus nie etwas gutes erfolgen kann.

Die Natur handelt nie ohne genau bestimmte Absicht, weder in Hervorbringung eines ganzen Werks, noch in Darstellung irgend eines einzelen Theiles. Wol dem Künstler der ihr darin folget, und jeden einzelen Zug seines Werks aus dem Zwek des Ganzen herleitet. In Anordnung der Theile verfährt sie allemal so, daß das Wesentliche von dem weniger Wesentlichen unterstüzt und gestärkt wird; selbst dieses weniger Wesentliche ist so sehr genau mit den Haupttheilen verbunden, daß alles, bis auf die geringste Kleinigkeit wesentlich scheinet. Dadurch wird jedes Werk vollkommen das, was es seyn sollte. In Absicht auf die äußerliche Form ist jedes so angeordnet, daß es so gleich als ein für sich bestehendes Ganzes in die Augen fällt; die Theile sind allemal in dem vollkommensten Ebenmaaße gegen einander, und ähnliche Theile sind immer symmetrisch gestellt. Daneben beobachtet die Natur überall eine so vollkommene Uebereinstimmung [809] alles Aeußerlichen, mit dem innern Charakter der Dinge, daß die Gestalt, die Farben, das Rauhe und Glatte, das Weiche und das Harte, immer mit den innern Eigenschaften der Dinge gänzlich übereinkommen. Der menschliche Körper, als das höchste der sichtbaren Schönheit, ist von dem besten Lehrern der Kunst, jedem Künstler zum Muster empfohlen worden. Man könnte jedes andere Werk der Natur eben sowol zur Regel nehmen, wenn es nicht am schiklichsten wäre das zu wählen, was am deutlichsten in die Augen fällt.

Eine ausführlichere Betrachtung dieses Verfahrens der Natur wäre hier nicht an ihrem Orte; diese wenigen Winke sind hinlänglich einen nachdenkenden Künstler zu überzeugen, daß er die Natur zu seiner einzigen Lehrerin anzunehmen habe.

Auch seine Bestimmung und den allgemeinen Zwek worauf der Künstler zu arbeiten hat, kann er von der Natur lernen. Sie hat mancherley und uns oft unbekannte Absichten, die sich zuerst auf das Ganze, und denn auch, so weit es mit jenem bestehen kann, auf jedes Einzele erstreken. Der Mensch ist unendlich viel zu schwach, um auf das Ganze zu würken. Seine wenigen Kräfte reichen nicht weiter, als daß er bey seinem Geschlechte bleibe, und auch da ist ihm nur ein Weg offen die erhabenen Absichten der Natur zu unterstüzen. Des Künstlers besonderer Beruf ist auf die Gemüther zu würken, und zu diesem hohen Berufe ladet ihn die Natur ein. Sie hat sehr viel gethan, den sittlichen Menschen vollkommner zu machen, und durch die zwey Hauptempfindungen des Vergnügens und Mißvergnügens ihn zum Guten zu reizen und vom Bösen abzuziehen. Aber da dieses nicht das einzige war, worauf sie zu arbeiten hatte, und da der Mensch eigene Kräfte besizt auf dem Weg zur Vollkommenheit, den die Natur ihm gezeiget hat, fortzugehen, so hat sie sich begnüget ihm die Anlage und verschiedene Reizungen zum Guten zu geben. Sie war, um einen besondern Fall zum Beyspiel anzuführen, zufrieden, ihm alle Anlagen zu Erfindung und Ausbildung der Rede zu geben; die Sprache selbst überließ sie ihm zu erfinden und zu vervollkommnen. Eben so hat sie ihm die Anlagen zu einem guten, geselligen, liebenswürdigen Charakter gegeben; er selbst muß ihn ausbilden. Und hierin ist der Künstler im Stande sein Genie auf die edelste Weise zu brauchen, und seine Arbeit zu einem würklich erhabenen Zwek zu richten; wehe ihm wenn er diesen Zwek verkennt, und die hohe Würde seines Berufs, die Natur in ihren Absichten zu unterstüzen nicht fühlt!

Höchst wichtig müssen auch dem Künstler die innern Winke der Natur in seinem Verstand und in seinem Herzen seyn. Die zur Kunst nöthigen Talente und die Empfindsamkeit, sind ein unmittelbares Werk der Natur. Kommt denn noch Kenntnis der körperlichen und der sittlichen Welt, nebst fleißiger Uebung dazu, so ist der Künstler gebildet. Er würde in seinem Geschmak immer sicher seyn, und sein Verfahren würd ihn immer zum Zwek führen, wenn die Winke der Natur nicht durch willkührliche Regeln, die aus Nachahmung oder durch die Mode entstehen, erstikt würden. Alle vorzügliche Werke der schönen Künste sind in ihren wesentlichen Theilen Früchte der Natur, die durch Erfahrung und nähere Ueberlegung dessen, was die Natur dem Genie an die Hand giebt, reif geworden. Aber wie der gründlichste Kopf, wenn er unter Sophisten lebt, auch von Subtilitäten angestekt wird; so kann auch der Künstler, dem die Natur alles nöthige, um groß zu werden, gegeben hat, durch Beyspiele und durch Begierde andern nachzuahmen, von der wahren Bahn abgeführt werden. Wenn man ihm empfiehlt der Stimme der Natur, die in seinem innern spricht, getreu zu seyn, so warnet man ihn vor willkührlichen Regeln, vor blinder Nachahmung solcher Werke, die nicht von seinem eigenen unverdorbenen Gefühl, sondern von der Mode und dem Lod, das unberufene Kunstrichter, oder ein schon lange von der Bahn der Natur ausgewiechenes Publicum ihnen gegeben, zu Mustern aufgestellt worden.

Woher kommt es, daß allemal die erste Periode der unter einem Volk aufgeblühten Kunst, die fürtreflichsten Werke hervorbringet? Lieget nicht der Grund darin, daß die Künstler dieser Periode von der Natur berufen, sich an die Natur halten, da die, welche in späthern Zeiten entstehen, entweder blos aus Nachahmung Künstler werden, oder, ohne eigene aus ihrem natürlichen Gefühl hergenommene Regeln, unüberlegt nach übel verstandenen Mustern arbeiten? Darum nimm, o! Jüngling, wenn du einen Beruf zur Poesie, Mahlerey, oder zur Musik in dir fühlest, den Rath, den Apotto dem Cicero gegeben hat, auch für dich: erwähle dein eigenes [810] Gefühl, und nicht die Meinung des Volks zur Führerin.1

Wir müssen nun auch die Natur als das allgemeine Magazin betrachten, in welchem der Künstler den Stoff zu seinem Werk, oder doch etwas findet, nach dessen Aehnlichkeit er sich selbst seine Materie bildet. Der allgemeine Zwek aller schönen Künste ist, wie wir oft angemerkt haben, vermittelst lebhafter Vorstellung gewisser mit ästhetischer Kraft versehener Gegenstände, auf eine vortheilhafte Weise auf die Gemüther der Menschen zu würken. Da dieses offenbar auch eine von den wolthätigen Absichten der Natur, bey Hervorbringung und Ausschmükung ihrer Werke gewesen; und da sie in ihren Verrichtungen von der höchsten Weisheit geleitet worden; so finden sich auch unter diesen Werken alle Arten der Gegenstände, die zu jenem Zwek dienlich sind. Der Künstler hat also nur für jeden besondern Fall zu wählen, was ihm dienet; oder, wenn er das, was ihm nöthig ist, nicht gerade so in der Natur findet, welches gar wol geschehen kann, da sie nach allgemeinen Absichten handelte; so kann er nach dem Muster der vorhandenen Gegenstände, andere blos zu seinem Zwek eingerichtete, durch sein eigenes Genie bilden. Für beyde Fälle ist ihm eine genaue und ausgebreitete Kenntnis der in der körperlichen und sittlichen Natur vorhandenen Dinge, und der in ihnen liegenden Kräfte höchst nothwendig. Da die glükliche Wahl der Materie den meisten Antheil an dem Werth eines vollkommenen Werks der Kunst hat; so ist dem Künstler nichts mehr zu empfehlen, als eine unabläßige Beobachtung der in der Schöpfung vorhandenen Dinge, und ihrer Kräfte. Unaufhörlich muß er seine äussern und innern Sinnen gespannt halten; jene damit ihm von allen Werken der Natur, die ihm vorkommen, keines unbemerkt entgehe; diese, damit er allemal genaue Kenntnis von der Würkung bekomme, die jeder beobachtete Gegenstand unter den alsdenn vorhandenen Umständen auf ihn machet. Dieses ist der einzige Weg das Genie zu bereicheren, und ihm für jeden Fall, da es für die Kunst arbeitet, den nöthigen Stoff an die Hand zu geben. Man höret oft von reichen Genien und erfinderischen Köpfen sprechen, die in den schönen Künsten groß geworden. Diese sind keine andere, als die fleißigsten und scharfsinnigsten Beobachter der Natur. Ein solcher war vorzüglich Homer; dessen scharfen Auge (was man auch von seiner Blindheit sagt) nichts entgieng. Daher der überschwengliche Reichthum seiner Vorstellungen.

Es giebt Künstler, welche die Natur nur durch die zweyte Hand kennen; weil sie sie nicht in dem Leben selbst, sondern in den Werken andrer Künstler beobachtet haben. Diese werden, was für Geschiklichkeit zur. Kunst sie sonst haben mögen, allemal nur schwache Nachahmer bleiben, die höchstens ihre eigene Manier in Bearbeitung der Dinge haben. Aber man merkt es, daß sie die Natur nicht selbst gesehen; ihre Gegenstände sind entlehnet, und die Darstellung derselben hat das Leben nicht, das die wahren Meister, die nach der Natur gezeichnet haben, ihnen zu geben vermochten. Es ist sehr natürlich, daß ein in der Natur vorhandener Gegenstand lebhafter rühret, als sein Schattenbild, das man aus Erzählung, oder Nachzeichnung bekommt: ist aber der Künstler selbst weniger gerührt, so muß nothwendig seine Zeichnung weniger Kraft und Leben haben. Man kann alle Geschichtschreiber, die Schlachten und Aufruhr und Tumulte beschrieben haben, auswendig wissen, ohne dadurch so viel gewonnen zu haben, eines dieser fürchterlichen Dinge mit wahrer Lebhaftigkeit zu schildern; dazu gehört nothwendig eigene Erfahrung. So ist es mit jeder Vorstellung und mit jeder Empfindung. Darum ist das Studium der Natur immer die Hauptsache jedes Künstlers.

Es trift sich gar ofte, daß der Künstler den ihm nöthigen Gegenstand in der Natur nicht gerade so antrift, wie er ihn braucht. Denn er hat nicht eben gerade den so bestimmten Zwek, den die Natur bey Hervorbringung des Gegenstandes gehabt hat. Da stehen ihm zwey Wege offen sich zu helfen. Entweder bildet er sich aus dem mit seiner Absicht am nächsten übereinstimmenden Gegenstand ein Ideal; so machten es die griechischen Bildhauer, wenn sie Götter, oder Helden abzubilden hatten2; oder er braucht seine, durch lange Beobachtung genug bereicherte Phantasie, um sich selbst den nöthigen Gegenstand zu erschaffen. Aber da muß er sich genau an die Horazische Regel, Ficta sint proxima veris, halten; sonst schaffet er ein Hirngespinst, ohne Kraft und ohne Leben. In solchen Erdichtungen kann keiner glüklich seyn, der nicht durch eine lange, dabey scharfe Beobachtung der Natur ein sicheres Gefühl von dem eigentlichen Gepräge, das[811] natürliche Gegenstände derselben Art haben, bekommen hat.

Es giebt Kunstrichter, die dem Künstler rathen, die aus der Natur gewählten Gegenstände zu verschönern. Aber wo ist der Mensch der dieses zu thun im Stande wäre, da auch der beste Künstler die Schönheit der Natur nie völlig zu erreichen vermag? Meinen diese Kunstrichter, daß man ofte von dem, was der in der Natur gewählte Gegenstand hat, etwas verändern, oder weglassen, oder etwas, das er nicht hat, zusezen soll; so drüken sie sich nicht schiklich aus. Wer würde sagen, daß der den Cicero verschönert hätte, der einen Gedanken, ein Bild von diesem Redner geborget, aber ihm, da seine Absicht bey dem Gebrauch desselben etwas von der Absicht die der Römer hatte, verschieden ist, eine andere Wendung gegeben, oder etwas darin weggelassen hätte? Wo soll der Künstler Schönheit hernehmen, als aus der einzigen Quelle des Schönen?

Man nehme aber seinen Gegenstand aus der Natur, aus dem Ideal, oder man bilde ihn durch die Phantasie; so muß er, wenn er volle Würkung thun soll, durch die Geschiklichkeit des Künstlers, wie ein natürlicher Gegenstand erscheinen. Es muß darin, wie in der Natur selbst, alles passend, ungezwungen, genau zusammenhängend und wahr seyn. Hierüber aber wird im nächsten Artikel mehr vorkommen.

1S. Plutarch. im Leben des Cicero.
2S. Ideal.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774, S. 809-812.
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809 | 810 | 811 | 812
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