Sprache (Schöne Künste)

[1102] Sprache.

Wird auch ofte in einer Bedeutung genommen, die fast ganz mit der übereinkommt, die man durch Schreibart ausdrükt. So sagt man, die Sprache des Herzens; die Sprache der Natur; der Leidenschaft. Nämlich sowol die Leidenschaften, als die Sitten haben einen eigenen Charakter, im Ton, und Ausdruk; ein eigenes Gepräge, das sich den Reden eindrükt. Wenn man irgendwo folgende Verse fände:


Sibi sua habeant regna reges, sibi divitias diuites

Sibi honores, sibi virtutes, sibi pugnas, sibi prælia.

Dum mihi abstineant invidere, sibi quisque

Habeant quod suum est.1


so würde man ohne nähern Bericht sehen, daß hier ein vor Freude halb wahnwiziger Mensch spricht, und es wär allenfalls zu errathen, daß ein junger Verliebter, in der ersten Hize einer erhörten Liebe [1102] schwazt. Denn dies ist die Sprache der Natur in solchen Umständen.

Alles was leidenschaftlich und sittlich ist, theilt der Sprache seine Natur mit. Daher Redner und Dichter den Ton und die Art jedes leidenschaftlichen und sittlichen Charakters genau zu studiren haben. Denn so wie es ein sehr anstößiger Fehler ist, wenn der Ton der Rede mit ihrem Inhalt nicht übereinkommt, so trägt die Uebereinstimmung dieser beyden Sachen ungemein viel zur Schönheit und überhaupt zur Würkung der Rede bey.

Dieses scheint das größte Talent des Dichters und Redners zu seyn; dadurch zeiget er, daß er die Natur und die Menschen kennt, und seine Materie wol überlegt hat.

Es lassen sich hierüber wenig allgemeine Regeln geben. Man muß jede Leidenschaft, und jeden Charakter der Menschen wol studirt haben, um hierin allemal glüklich zu seyn. Es wär aber doch gut, wenn man die allgemeineste Beobachtungen hierüber sammelte. Dergleichen sind z.B. folgende

Starke Leidenschaften, von welcher Art sie seyen, lieben einen starken, etwas übertriebenen Ausdruk, und alles Abgemessene, alles genau Zusammenhangende in der Rede ist ihnen entgegen. Man fühlt darin zu viel, als daß man auf die Art sein Gefühl zu äußern Acht haben sollte. Man nihmt die Worte wie sie kommen. O deorum quidquid in cœlo regit Terras et humanum genus! sagt Horaz im großen Schreken2 ganz gegen die Grammatik. Sind die starken Leidenschaften von vergnügter Art, so wird der Ton etwas trozig, oder ausgelassen, wie die oben angeführte Stelle aus dem Plautus; schwazhaft, wie die Clytemnestra bey ihrer Ankunft in Aulis.3

Sind sie verdrießlicher Art, so wird der Ausdruk bey seiner Stärke kurz, sehr nachdrüklich, und bekommt auch die Steifigkeit des Verdrusses. Philoktet sagt beym Sophokles, Er (Ulysses) würde mich eben so gewiß bereden vom Tod wieder ins Leben zu kommen, als mit ihm nach Troja zu gehen. Bald darauf drükt sich sein bitterer Haß noch stärker aus. Lieber wollte ich der Natter, die mich so elend gemacht hat, Gehör geben, als ihm.

Redner und Dichter haben die genaue Beobachtung des παθος und des ἠθος nicht nur zum Gefallen nöthig; sondern fürnemlich, so ofte sie rühren, oder überzeugen wollen.

Was insonderheit dieses lezte betrift, so giebt es eine Sprache der Ueberzeugung, die mehr als alle Beweisthümer würkt. Der Redner mag seine Beweise noch so schließend machen, wenn ihm die Sprache der Ueberzeugung fehlt, so ist alles, was er sagt, vergeblich. Diese ist kurz und sehr einfach.4 Nichts verräth hingegen eine zweifelhafte Sache mehr, und hindert folglich die Ueberzeugung stärker, als das gekünstelte, das gesuchte, das umschweiffende in der Sprache.

1Plaut. Curcul. Act. I. Sc. 3.
2Epod. 5.
3S. Euripid. Iphig. in Aul. vs. 607. seq.
4ἉΑπλους μυθος τῆς ἀληθειας ἐφυ. Eurip. Phœn. 472.
Quelle:
Sulzer: Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Band 2. Leipzig 1774.
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