[274] Indische Mythologie. Im grauesten Alterthum, in das nur unsichere Schlüsse und Vermuthungen uns einen Blick werfen lassen, haben wir uns auf jenen Hochflächen Asiens, wo die zwei grossen Hochländer, das westliche und das östliche, zusammenhängen, an den Quellen des Indus und seiner Zuflüsse ein Urvolk zu denken, von welchem die wichtigsten der gebildeten Völker, Inder und Perser, Griechen und Römer, Germanen und Slaven abstammen. Für diese gemeinschaftliche Abstammung zeugt am Entschiedensten die ausserordentliche Verwandtschaft ihrer Sprachen, die sich nicht nur in den gleichen Wurzeln der Wörter, sondern auch in den ähnlichen Formen ihrer Bildung und Abwandlung kundgibt. - Die älteste von diesen Sprachen ist die heilige Sprache der Indier, Sanskrit genannt. Da in dieser der Name für Gott der Wurzel nach derselbe ist, wie in den Sprachen der verwandten Völker, so schliessen wir daraus, dass das Urvolk selbst, ehe noch irgend eine Trennung und Auswanderung stattfand, bereits auf den Gedanken eines höhern Wesens gekommen war, von welchem der Mensch abhänge und das er ebendesshalb zu verehren habe. In öden einförmigen Gegenden, weiten Steppen, Wäldern, Wüsten, fühlte das noch auf dem tiefsten Punkte der Natürlichkeit stehende Volk auch die über ihm waltende Macht als ein einziges Wesen, und zwar wurde ohne Zweifel der glänzende Himmel über ihm (dju) zuerst als diese herrschende Gewalt angeschaut. Je mehr sich aber das geistige Leben des Volkes entfaltete, desto sicherer musste es in seinem Glauben einen Schritt weiter gehen, und nicht mehr den sichtbaren Himmel, sondern etwas hinter und über demselben Gedachtes, ein unsichtbares Wesen, zu seinem Gott machen. Die Juden kamen auf diesem Wege zu dem Glauben an den Einen, geistigen Gott, die indo-germanischen Völker dagegen liessen sich, sobald sie in reicher organisirte Gegenden kamen, dazu verleiten, eine Menge natürlicher Kräfte und Erscheinungen zu Göttern zu erheben, d.h. ihre Religion wurde polytheistisch. - Bevor aber diese Veränderung eintrat, war bereits die Trennung des Urvolks vor sich gegangen, d.h. die Vorfahren derjenigen Völker, welche Europa bewohnen, waren gegen Westen gewandert, und hatten einen Stamm zurückgelassen, der sich noch eine Zeit lang in Gemeinschaft fortentwickelte, dann aber auch in zwei Völker auseinander trat, das sogenannte Zend-Volk, welches sich vom Hindukuh westlich über Iran und Turan ausbreitete , und das Volk der Hindu, welches in östlicher Richtung zuerst das Ganges-Thal, später aber das ganze heutige Vorderindien in Besitz nahm, indem es die Ur-Einwohner theils vertrieb, theils unterjochte. - Da wir von jenem erstern, dem Zend-Volke, eine heilige Urkunde ihrer Religionslehren, den Zend-Avesta, und ebenso von den Hindus noch ältere Quellen an ihren heiligsten Büchern, den vier Veda's, haben, so können wir durch die Vergleichung beider sehen, welche Lehren ihnen gemeinschaftlich sind, und also schon vor ihrer Trennung ausgebildet wurden. Der höchste Gott war damals Indra, welches sowohl den Mond, als auch den Geist bedeutet, zum Beweis, dass man zuerst von dem ganzen Himmel auf den Mond, gleichsam seinen bebenden und erleuchtenden Geist, als auf den höchsten Gott überging. Ausserdem finden wir noch 33 verschiedene Götter, nämlich 8 Va-sus. d.h. die Guten, wozu Feuer, Erde, Wind, Sonne, Himmel gehören, ein neuer Beweis, wie auch die ganze indische Mythologie ursprünglich nichts Anderes als Naturreligion war; ferner 11 Rudras, die 10 verschiedenen Hauche des Menschen sammt seiner Seele; sodann die zwölf Aditjas, vielleicht die 12 Monate, und endlich die beiden Asvinan, d.h. göttliche Reiter, welche mit den griechischen Dioscuren Aehnlichkeit haben und ohne Zweifel gleich diesen Morgen- und Abendstern vorstellen. - Wir gehen nun zur Darstellung der eigentlichen indischen Religion über, wie sie geworden ist, seitdem sich der indische Volksstamm in seinem jetzigen Wohnplatze, in Vorderindien, niedergelassen hat. Es mögen aber von dieser Einwanderung an bis jetzt wohl 4000 Jahre verflossen sein, und es ist daher sehr natürlich, dass in dieser langen Zeit, obgleich der Orientale mehr zur Beharrlichkeit im Alten geneigt ist, dennoch die Religion verschiedene Veränderungen erlitten hat. So können wir hauptsächlich vier Perioden der indischen Religionsgeschichte unterscheiden: die älteste geht bis ungefähr 900 v. Chr., und ist in den älteren Theilen der Veda's dargestellt; die zweite ist die eigentliche Brahma-Verehrung mit den zwei Haupt-Göttern Wischnu und Schiwa; die dritte beginnt mit einer Art Reformation oder Revolution, durch welche der Buddhaismus etwa 250 v. Chr. zur Staatsreligion erhoben wurde. Er blieb diess bis 800 n. Chr., worauf er durch eine gewaltsame Reaction und blutige Verfolgung aus ganz Indien vertrieben wurde. Von da an bis jetzt, in der vierten Periode, ist der Bramanismus wieder herrschend, aber das Volk ist in viele religiöse Secten getheilt. - Von der ältesten Periode ist uns wenig bekannt. Wischnu und Schiwa gehörten noch nicht zu den vorzugsweise verehrten Gottheiten, wohl aber fand sich das religiöse Bewusstsein gedrungen, die vielen allmälig angenommenen Gottheiten wieder mehr monotheistisch unter Einem Haupte zu vereinigen. Anfänglich galt die Sonne, und als ihr Abbild auf Erden das Feuer als diese Eine früheste Macht der Welt. Bald aber erhob sich das von Natur tiefsinnige und mit philosophischem Geist begabte indische Volk zu einem über die sichtbare Natur erhabenen, geistigen Urgrund aller Dinge, es stellte sich die lebendige Kraft und die gesetzliche Ordnung, welche es in der ganzen Welt erblickte, selbst als das göttliche Wesen vor, und seine Religion wurde dadurch pantheistisch. Diese zur göttlichen Person erhobene Weltordnung ist der Brama, welcher Name eigentlich Wachsthum, d.h. eine sich aus sich selbst entfaltende Kraft bedeutet. Zu diesem philosophischen Glauben konnten sich aber nur Diejenigen erheben, welche sich durch besondere Denkkraft und einen tiefem Geistesblick vor den Andern auszeichneten, und dadurch wird es sehr wahrscheinlich, dass mit dem Glauben an Brama auch die höchste und angesehenste Kaste der Indier, die der Braminen, entstanden ist. - Das Kastenwesen selber ist nämlich die uralte Einrichtung dieses Volkes gewesen, und besteht in einer solchen Eintheilung nach den verschiedenen Berufsarten und Lebensweisen, dass jeder Einzelne durch seine Geburt einer bestimmten Kaste angehört, und gezwungen ist, die Lebensart von dieser auch anzunehmen. Die zahlreichste Kaste war die der Sudras, das gemeine Volk, bestimmt zum Dienste der höheren Kasten. Ueber ihnen stehen die beiden Kasten der Kschatrija (Krieger), von denen die Könige genommen wurden, und der Waisja's, der grossen Landbesitzer und Kaufleute. Aus diesen oberen Kasten nun hat sich wahrscheinlich die höchste, die der Braminen, heraus entwickelt, durch ausgezeichnete religiöse Kenntnisse, die sie zum Theil als Geheimlehre in ihren Kreisen zurückbehielten, und durch besondere Heiligkeit im Wandel. Diese Kaste besteht allein bis auf den heutigen Tag unangefochten und zahlreich fort, während die anderen sich allmälig vermischt und in etwa vierzig neue verloren haben. Ganz abgeschieden von den Hindu und auf's Tiefste verachtet leben dagegen die Parias, die Nachkömmlinge jener Ur - Einwohner, welche von den Hindu bei ihrer Einwanderung unterdrückt wurden. Sie sind Sclaven, die als Sache behandelt werden; sie anzurühren oder in die Wohnung kommen zu lassen gilt für Sünde, und welcher Hindu unter sie heirathet, wird selbst Paria. - Die Verehrung des Brama hat sich von den Braminen aus unter allen Indiern ausgebreitet, obwohl das Volk ihn mehr persönlich, als Schöpfer und Regenten der Welt, und obersten Beherrscher aller Götter betrachtet. Uebrigens steht Brama, nach der Lehre der Veda's, nicht als wirklicher Schöpfer und Herr der Welt gegenüber, sondern sie ist aus ihm selbst hervorgegangen. Man nennt diess die Emanationslehre, und die Veda's stellen die Sache so dar: da Brama sich selbst anschaute, entstand die Puruscha, d.h. die Urseele; diese fiel aber von dem Gott ab, und zur Strafe dafür schuf er die körperliche Welt, in welcher die Geister nun wohnen müssen. Sie haben jedoch die Bestimmung und Kraft, sich allmälig durch Ankämpfen gegen die sinnlichen Triebe und durch eine Menge Bussübungen zu läutern, um am Ende wieder mit ihrem Urquell, dem Brama, sich zu vereinigen. Uebrigens hat[274] jeder Geist dazu verschiedene Stufen zu durchlaufen, er wird zuerst in den Leib einer niedern Thierklasse, dann in den einer höhern, endlich in einen menschlichen eingeschlossen, und schreitet so immer vorwärts; so oft sein Leib stirbt, kommt er in einen höhern, vorausgesetzt, dass er sich der Erhöhung würdig gemacht hat. Diess ist die bekannte Lehre von der Seelenwanderung, welche den Indiern verbietet, Thiere umzubringen, weil sie in den Seelen verwandte Wesen achten, die noch Menschen werden können. - Die ganze gegenwärtig bestehende Welt ist aber der Vernichtung bestimmt. Brama schafft jedesmal aus einem Urstoff eine Welt auf bestimmte Zeit, nach deren Ablauf sie zu Grunde gehen muss, um durch eine neue ersetzt zu werden. Zuletzt aber wird er die materielle Welt für immer zerstören, und ein geistiges Reich von reinen Seelen dafür einführen. So lang noch eine Welt besteht, sieht Brama ruhig zu, wie sich Alles aus den einmal in sie gelegten Kräften von selbst entfaltet, er ist so lange im Zustand des Schlafens. Dann aber ist er wieder der Wachende, um die geschaffene Welt zu zerstören und eine neue zu schaffen. - Am Ende dieser ersten Periode scheint eine politische Trennung und Verfeindung der verschiedenen indischen Völker stattgefunden zu haben, und diess muss der Grund gewesen sein, dass sich in den getrennten Theilen verschiedene, einander feindselige Glaubenslehren und Culte bildeten. Die Lehre vom Brama war überhaupt dem gemeinen Volk zu hoch und zu speculativ, und so fing der eine Theil an, den Wischnu, der andere, den Schiwa als seinen höchsten Gott anzubeten. - Nach dem J. 900 v. Chr. vereinigten sich alsdann die getrennten Theile wieder zu Einem Reich, und die Braminen fanden es in ihrem Interesse, die inzwischen gebildeten Culte dadurch mit einander zu versöhnen, dass sie lehrten, Brama, Wischnu und Schiwa seien eigentlich Eins, und bilden eine Art Dreieinigkeit. Diess ist der hauptsächlichste Glaubenspunkt in der zweiten Periode gewesen, welche bis zur Einführung des Buddhaismus 250 v. Chr. zu rechnen ist. - Die Hauptlehren über jene drei in sich geeinten Hauptgötter der Indier sind folgende:
1) Brama ist Urvater des Weltalls, Prayapatis, Herr der Schöpfung, Lokakarta, Weltenbildner u.s.w. Als seine Gemahlin gilt Sarasvati, die aus dem Wasser Geborne; ihr, wie ihm, ist der Flamingo heilig.
2) Wischnu ist bei seinen Verehrern der höchste Gott, ja selbst Brama ist nach ihrer Lehre erst aus Wischnu hervorgegangen. Wischnu wird als die milde und wohlwollende Gottheit angebetet, welche die Welt erhält, und aus Liebe zu den Menschen in zehn verschiedenen Zeitabschnitten Menschengestalt angenommen und das menschliche Leben mitgemacht hat. Man nennt diess die Incarnationen Wischnu's (indisch: Avataram = Herabsteigung). Die wichtigste ist die achte, in welcher er als Krischna mit göttlicher Macht erschien; er wurde als Hirte erzogen, versenkte sich in viele Liebesspiele, offenbarte sich aber endlich als göttlicher Held durch Ueberwindung des bösen und ungerechten Königs Kansa, dessen Tyrannei Menschen und Götter nicht mehr ertragen konnten, so dass Brama und Schiwa selbst ihn zur Hülfe aufriefen.
3) Schiwa, eigentlich »der Wachsende«, ist auch eine göttliche Macht, aber mehr nach ihrer verneinenden und zerstörenden Kraft. Er heisst Mahadeva, der grosse Gott, Paramesuara, der höchste Herr. Sein Hauptsinnbild ist der ⇒ Lingam, welchem hohe Verehrung gezollt wird. - Die verschiedenen Bedeutungen, die sich allmälig an diese drei Gottheiten anknüpften und sie einander entgegenstellten, zeigt folgendes Schema:
Brama ist Sonne - Schöpfer - Macht - Vergangenheit - Materie.
Wischnu ist Wasser - Erhalter - Weisheit - Gegenwart - Raum.
Schiwa ist Feuer - Zerstörer - Gerechtigkeit - Zukunft - Zeit.
Ausser diesen drei Hauptgöttern hat sich aber der indische Volksglaube noch eine zahlreiche Menge anderer, sowohl männlicher als weiblicher Gottheiten geschaffen. So wurden für die acht Haupthimmelsgegenden, für menschliche Gedanken, für Jahr, Monat, Tag, Krieg und Frieden besondere göttliche Geister angenommen, so wurden Thiere, Pflanzen, Berge, Flüsse göttlich verehrt, namentlich ist der Ganges und der Berg, wo er entspringt, Gangotei, Gegenstand der Anbetung und hoch gefeierter Wallfahrtsort; sein Wasser dient nicht nur zur Heilung von Krankheit, sondern auch dem, der darin badet, zur Vergebung der Sünden. So wurde ferner Naradas verehrt als Bote der Götter, Ganêsas als Gott der Klugheit; sodann ist Kamas, Sohn des Krischna, Gott der Liebe, und erscheint auf Bildern von tanzenden Nymphen umgeben und vom Frühling begleitet. Die Apsarasas sind weiblichen Geschlechts, wunderschöne Jungfrauen, bestimmt, mit ihren Reizen im Himmel die Götter und abgeschiedenen Menschen zu erfreuen, ihre Zahl beträgt 600 Millionen. - Dagegen schrecken aber auch den Indier eine Menge böser und furchtbarer Geister, die auf sein Verderben ausgehen. So sind die Rakschasas ein teuflisches Geschlecht, riesengross und grauengestaltig, Phantasiebilder, entstanden durch die Schrecknisse, welche in des Menschen Kampf mit der Natur ihm entgegentreten; einige von ihnen helfen dem Kuvêra, dem Gott der Geizigen, die unterirdischen Schätze gegen die Habsucht der Menschen bewachen. - Endlich werden von den Thieren hauptsächlich Pferd und Stier wegen ihres Nutzens, die Schlangen wegen ihrer Gefährlichkeit angebetet, von den Pflanzen vorzugsweise die Bananen, wegen ihres Nutzens und ihrer schnellen Verbreitung. Einen Stier zu tödten, ist ein Verbrechen, das keine Busse sühnen kann, und noch heiliger ist die Kuh, welche dem Indier so wichtig und nützlich erscheint, dass er sie sogar zum Sinnbild aller Fruchtbarkeit und aller Gaben der Erde gemacht, und die Erde selbst als die grosse, alle Wünsche erfüllende Wunderkuh dargestellt hat. Aus der Verbindung der Schlangen mit Halbgöttern entstand das ebenfalls heilige Geschlecht der Affen, und es ist bekannt, welche wichtige Rolle in den Legenden des Volks der freundliche und weise Affenkönig Hanuman spielt. - Neben dieser Götterlehre der zweiten Periode kommt aber auch weiter in Betracht, welche Theorien sich über das religiöse Leben der Menschen ausbildeten. Ganz bestimmt wird in den Vedas unterschieden zwischen der religiösen Handlung und der religiösen Erkenntniss; jedes der vier Vedas zerfällt in die Karmakanda, Abtheilung der Handlungen, und die Gnanakanda, Abtheilung der Erkenntnis. Hiernach ist auch die Denkweise der philosophischen Denker ganz und gar verschieden von der des Volks: dem letztern sind die Werke die Hauptsache, die periodischen Genüsse das Ziel; der Weise dagegen achtet die Werke gering, glaubt an jene Genüsse nicht, und hält für das höchste Gut das reine, selbstsuchtlose Denken; durch die Wissenschaft geht er in Gott selbst auf, und diess ist seine Erlösung, seine Seligkeit. - Die Werke, welche dem Volke zu seiner Seligkeit vorgeschrieben werden, sind theils empfohlene, wie Tempel bauen, Brunnen graben, Almosen geben, theils befohlene, deren Unterlassung also Sünde ist. Jede Kaste hat ihre eigenen guten Werke, und wenn Einer die der fremden Kaste besorgen will, begeht er Sünde. Die allgemeinen frommen Werke sind aber:
1) Gebete, welche an einem Rosenkranz vor- oder rückwärts in dumpfem Tone hergesagt werden;
2) körperliche Reinigungen, besonders mit dem Wasser des Ganges. Auch von diesem zu trinken ist ein frommes Werk, und die Braminen verschicken es in Flaschen an die Fürsten von ganz Indien;
3) Opfer, sowohl aus geschlachteten Thieren, als aus unblutigen Gaben, Früchten, Honig u. dgl. bestehend. Auch Menschenopfer sind nicht ganz selten namentlich wurden solche der schrecklichen Kali, Gemahlin Schiwa's, dargebracht. - Der Hindu glaubt fest, dass jedes Werk seine bestimmte Folge habe, die unausbleiblich sei; für böse Handlungen ist ein bestimmtes Mass von Unglück zu erwarten, daher die bekannte Gewohnheit der Indier, sich selbst Qualen aufzuerlegen, um desto eher von der Strafe frei zu werden. Umgekehrt glauben sie aber auch, dass diese Selbstpeinigungen länger als die Strafe fortgesetzt werden können, und dann aus ihnen zuletzt ein Activ-Capital erwachse, ein Guthaben an den Gott, wodurch man ihn zwingen könne, so und so viel Glück verabfolgen zu lassen. - Zu den frommen Werken der indischen Religion gehört endlich auch noch die Feier gewisser zahlreicher Feste, welche das Jahr hindurch begangen werden. An achtzehn derselben muss jeder Indier Theil nehmen. Die Feier besteht in Opfern, Illuminationen, festlichen Aufzügen mit Herumtragen der Götterbilder, Spielen, Tänzen, Musik u.s.f. Bei ihnen wirken gottgeweihte Jungfrauen mit: Deva dasis (Gott gegebene), nâtakeas, Tänzerinnen, jetzt Bajaderen genannt von dem portugiesischen Balladeiras (Ballet). Sie gehören[275] zu bestimmten Tempeln, besonders des Schiwa, und müssen zum Behuf der Festfreude ihre Reize preisgeben. Ueberhaupt sind die Braminen, da die Feste ihren Tempeln Einkünfte bringen, sehr bemüht, sie sowohl durch geräuschvolle Vergnügungen, als durch Erdichtungen über die Wunderkraft ihres Götzenbildes recht besucht zu machen. - Die andere Seite des religiösen Lebens, die Erkenntniss der Gottheit, ist Sache der auserwählten Weisen, welche namentlich unter den Braminen sich finden. Ihnen sind die Werke etwas Gemeines; durch stete Betrachtung des eigenen Wesens und Versenkung in die Tiefen des Geistes glauben sie die wahre Erlösung, die Vereinigung mit Gott (jôga, jungere) zu erreichen, und wer auf diesem Wege danach strebt, ist ein Jôgi. Auch er nimmt Bussübungen an sich selbst vor, aber nicht als ein gutes Werk, sondern um damit die Sinnlichkeit zu ertödten. - Hat der Jogi alle Sinnlichkeit abgetödtet, so fängt er nicht etwa an, zu studieren oder in verständiger Weise nachzudenken, um zur göttlichen Erkenntniss zu gelangen, sondern er kommt zur unmittelbaren Anschauung der eigenen Seele, und zugleich zur Erkenntniss, dass Alles in Gott und Gott in Allem ist, und dass es eine beklagenswerthe Täuschung wäre, zu meinen, es könne irgend etwas ausser Gott existiren. Durch die Erkenntniss Gottes geht er selbst in das göttliche Wesen über, und hat davon ein dreifaches Heil:
1) schon im Leben Antheil an dem Wissen und der Macht Gottes,
2) nach dem Leben zuerst den Eintritt in den Himmel Brama's,
3) später aber das vollständige Aufgehen in Gott, das nir-vânam, die Verwehung. - Gegen diese ganze bramanische Religionsform nun erhob sich seit ungefähr 500 v. Chr. eine sehr bedeutende Opposition, die sich an die Person des Gautama knüpft. Dieser, gestorben 543, trat als Reformator auf und bekämpfte sowohl die bramanische Lehre, als die Macht ihrer Hauptrepräsentanten, der Braminen. Seine Verehrer nannten ihn Buddha, d.h. der Weise, und von jedem seiner Anhänger wurde verlangt, dass er ebenfalls ein Buddha werde, ja, die Gottheit selbst wurde jetzt der Adhi-Buddha (Ober-Buddha), und desswegen heisst diese Religion der Buddhaismus. Er gewann immer mehr Anhang, am meisten auf der Insel Ceylon, und so konnte ihn der indische Kaiser Asokas 250 v. Chr. zur Staatsreligion des indischen Volkes erheben. Damit beginnt also die dritte Periode der indischen Religionsgeschichte. - Die Veränderung der Glaubenslehre bestand hauptsächlich darin, dass der persönliche Gott ganz geläugnet und die Weltordnung wirklich für die einzige Gottheit erklärt wurde, daher die Buddhisten auch als Atheisten verdammt wurden. Allem Anschein nach haben sie aber damit nur öffentlich ausgesprochen, was längst die Geheimlehre der Braminen selbst war. Alte Dinge sind nach ihrer Lehre vollendet und beherrscht durch Swabhâva (eigenes Sein, inneres Gesetz), welcher regiert in dem Akasas, d.h. im leeren Raum; dadurch ist dieser unendlich und intellectuell, und aus ihm gehen alle Dinge hervor, welche wiederum den Swabhâva als ihre eigene Kraft und Natur in sich haben. Alles wechselt zwischen Entstehen und Vergeben, nur dem Menschen ist möglich, aus dieser Welt ewiger Veränderungen in die selige Ruhe des Nichtseins sich zu versenken. Die Mittel dazu sind: tapas, d.h. Büssung, und dhjanam, d.h. Nachdenken; Aber die Büssung besteht hier durchaus in keinen positiven Leiden, die der Buddha übernehmen müsste, sondern nur in der Enthaltung von allem Ueberflüssigen. Sobald indessen diese neue Religion wirklich populär wurde, konnte es nicht ausbleiben, dass auch mit ihr sich sinnliche Vorstellungen vermischten, und wieder viele zum Theil sichtbare und körperliche, theilweise auch aus der frühern Lehre herübergenommene Götter verehrt wurden. So kennt die Buddhalehre in Nepal 44 verschiedene Welten, die oberste ist die Feuerwelt, worin Adhi-Buddha thront, dann kommen 13 Welten der vollendeten Buddha's, dann 18 des Brahma, 6 des Wischnu u.s.f. Die Buddhisten in Siam dagegen lehren 22 Welten, in den 6 niedrigsten findet Fortpflanzung der himmlischen Geister statt: in zwei nach Art der Menschen, in einer durch Umarmung, in der nächsten durch blosse Berührung mit der Hand, in der nächsten durch das Gespräch, endlich gar durch den Blick. Auch eine Art Dreieinigkeit hat dieser Buddha-Glaube dem brahmanischen nachgebildet, obwohl sie mehr philosophischer als religiöser Natur ist. Es soll nämlich Buddha die Weltordnung, erfasst im denkenden Geiste des Menschen, Dharma die Weltordnung an sich, und Sangha (Haufen) die durch die Weltordnung in Eins zusammengefasste Vielheit unauflöslich miteinander verbunden und die dreieinige Gottheit sein. - Weit wichtiger aber, als diese Veränderungen in der Glaubenslehre, waren diejenigen, welche der Buddhaismus im practischen Leben eintreten liess. Vor Allem erwies er sich dadurch als durchgreifende Reformation, dass er allen Unterschied der Kasten aufgehoben wissen wollte. Diess war auch der Hauptgrund, dass die grosse Menge des Volks der neuen Lehre zufiel, während umgekehrt die Braminen mit aller Zähigkeit und Hartnäckigkeit diesem Umsturz ihrer Macht und ihres Ansehens widerstanden. Für's Zweite aber stellte Buddha eine neue, allem Volk verständliche und zugängliche Sittenlehre auf. Derselbe Dharma, welcher die ganze Natur regelt und in Schranken hält, sollte als Richtschnur des Handelns für das sittliche Leben des Menschen gelten. Weiter ausgeführt finden wir diese Grundsätze in den zehn Geboten der Buddhisten. - I. Auf das Handeln beziehen sich drei Gebote:
1) nicht die geringste Creatur zu tödten;
2) sich keines fremden Eigenthums zu bemächtigen;
3) die Pflichten der Keuschheit nicht zu verletzen. - II. Dem Reden gelten vier Gebote:
4) nicht lügen;
5) nicht verläumden;
6) nicht beleidigen;
7) durch Klatschereien nicht zu Zank und Streit Gelegenheit geben. - III. Für das Denken sind wieder drei Gebote vorgeschrieben:
8) nicht hassen;
9) nicht an den heiligen Schriften zweifeln; 10) an die Unsterblichkeit glauben. - Dass jeder Handlung ihre bestimmte Vergeltung nachfolge, ist buddhistische wie bramanische Lehre, ebenso, dass nach dem Tode das Gericht komme, welches mit Gerechtigkeit Lohn und Strafe verhänge. Auch in glänzenden Festen mit Musik und Processionen stand die neue Religion hinter der alten nicht zurück. Endlich wurde Fasten und überhaupt ascetische Lebensweise auch hier für heilig gehalten, und als neue Einrichtung kam das Zusammenleben frommer Buddhisten in Manns- und Frauen-Klöstern hinzu. - Der Buddhaismus herrschte ungefähr 1000 Jahre in Indien; aber neben ihm erhielten sich die Braminen in ihrem Ansehen, und hörten nicht auf, ihm unter dem Volk entgegenzuwirken und die Verehrung des Brama in den Gemüthern zu erhalten. Erst im 9. Jahrhundert n. Chr. gelang es ihnen, ihren Feinden den Sieg zu entreissen und zuletzt durch blutige Verfolgungen alle Buddhisten aus Indien zu vertreiben. Damit beginnt denn die vierte und letzte Periode, welche noch fortdauert und den Brahmanismus wieder zur herrschenden Religion hat. Der Unterschied der Kasten war in das Volk von Uralters her zu tief eingedrungen, als dass seine Aufhebung hätte durchgeführt werden können. Die Läugnung des persönlichen Gottes widerstrebte ohnehin dem Verstand des gemeinen Volkes, und so konnten die Braminen dasselbe am Ende wohl überzeugen, dass das Ganze nur Täuschung und Sünde gewesen, und das einzige Heil die Rückkehr zum alten Glauben sei. Dieser wurde aufs Neue ausgeschmückt, z.B. für die göttliche Dreieinigkeit des Brama, Wischnu und Schiwa der neue Name Trimurti geschaffen, neue Feste und Gebräuche eingeführt, und wenn auch nicht die alten vier Kasten wiederhergestellt, doch die der Braminen durch heiligen Wandel als Gegenstand hoher Verehrung hingestellt. In Hamiltons »Beschreibung von Indien« sind von der einzigen Landschaft Burdwan mit 26 Ortschaften 46 Kasten aufgezählt, und von diesen zählt die der Braminen 7000, die der Kschatrias 27, die der Schreiber 2000, die der Aerzte 124 Individuen u.s.f. Der Buddhaismus aber, aus Hindostan verbannt, hat sich über einen grossen Theil von Asien ausgebreitet, und ist jetzt in Hinter-Indien, China, Tübet, bei den Mongolen die herrschende Religion, obwohl er überall sich den Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Völker accommodirt und daher auch allerlei Formen angenommen hat. Der einzige Theil von Vorder-Indien, in welchem er herrschend geblieben ist, ist das Fürstenthum Nepal am Fusse des Himalaya. Dagegen ist noch eine Secte, die der Daschaina's, geduldet, welche die buddhistische Religion mit der bramanischen zu verschmelzen wusste. - Eine ganz eigenthümliche Religion haben endlich die Sikhs im Pendjab, welche aus bramanischem und muhamedanischem Glauben gemischt ist. Sie sind reine Deisten, erkennen nur Einen unsichtbaren Gott als Weltregenten an, verdammen alle Bilder-Verehrung und fordern allgemeine[276] Menschenliebe, haben also auch allen Kasten-Unterschied aufgehoben. Der Stifter dieser Religion war Nannek im J. 1540, und später hat Guru Gowind einen kriegerischen Staat bei ihnen gegründet, so dass das Volk allmälig sehr streitlustig wurde, und früher mit den Muhamedanern, später mit den Engländern viele blutige Kriege führte, bis es in der letzten Zeit diesen unterlag und ihre Herrschaft anerkennen musste.
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