Rahel, Antonie Friederike Robert, verehelichte Varnhagen von Ense

[340] Rahel, Antonie Friederike Robert, verehelichte Varnhagen von Ense, geb. 1771 zu Berlin, jene interessante Frau, die in der jüngsten Vergangenheit so oft genannt wurde, und welche, obschon sie nie etwas für die Oeffentlichkeit geschrieben hat, die literarische Welt in nicht geringe Bewegung setzt. Ihr Vater hieß Levin Markus, dessen Familie später den Namen Robert annahm, ein in Welt und Geschäften erfahrner Mann, voll Witz und Laune; ihre Mutter war eine fromme, biedere Frau, die Rahel nach vielen zu frühzeitigen Niederkunften als das erste lebende Kind zur Welt brachte, welches aber so klein und zart war, und so schwach schien, daß man dasselbe in Baumwolle gehüllt eine Zeit lang in einer Schachtel aufbewahrte. Die Kinderjahre vergingen unter vielerlei Krankheitsleiden. Dennoch erhob sich unter allem Widerstreite der Umstände eine im Ganzen kräftige und gesunde Jugend, und eine[340] außerordentlich frühe Entwickelung der Gemüths- und Geisteskräfte begleitete den raschen Gang der körperlichen Ausbildung. Die reizbarsten Nerven, die feinste Empfindlichkeit alle Verhältnisse der Luft und des Wetters, die leiseste und schärfste Thätigkeit der Sinne, die erregbarste Theilnahme des Herzens, alles wirkte vereint, um diese Organisation den unberechenbarsten Einflüssen zu überliefern, mit welchen sie fortwährend zu ringen hatte. Dieselben Gaben jedoch, die empfänglich machten, wirkten auch lebhaft zurück; die geistige Lebenskraft war überall so stärkend gegenwärtig, daß bei solcher Hilfe die Natur auch die größten Bürden nur leicht zu tragen schien. Schon in frühster Jugend überraschten Rahel's ungewöhnliche Geistesgaben Eltern und Freunde, und dieses war vielleicht Ursache, daß ihr wenig Unterricht ertheilt wurde, und man sie ihrem eignen Nachdenken überließ. Um so entschiedner und freier entwickelte sich dagegen ihre innerste Sinnesart, ihr Verstand und das Bedürfniß, alles aus sich selbst zu erzeugen. So bildete sich in ihr ein energisches Zusammensein von Geist und Natur in ursprünglichster, reinster Kraft und Form, von Naivetät und Witz, Schärfe und Offenheit. Dieß alles war durchwärmt von der ansprechendsten Güte, der schönsten, stets regen Menschenliebe, der lebhaftesten Theilnahme für fremdes Wohl und Weh, und selbst in den Stunden der Erbitterung über das eigne Schicksal, über die Wunden der Zeit, war sie voll weiblicher Nachgiebigkeit und Milde, voll Versöhnlichkeit gegen Andere, und spendete gern den Trost, den sie selbst oft entbehrte. Zur fernern eigenthümlichen Entwickelung ihres ganzen Seins, zu dem krankhaften Leben ihrer Gemüthsstimmung mögen zwei Ursachen mächtig mitgewirkt haben. Vor allem ihre äußern Lebensverhältnisse, die ihrem höheren Sinn und ihren gerechtesten Forderungen nicht entsprechen konnten: das fühlte Rahel tief, und vermochte mit aller Kraft ihres Geistes nicht, dieser bittern Empfindung Herr zu werden. Dann trübte früh den Schimmer frohen Lebensgenusses eine innige[341] Jugendliebe zu dem Sohne einer angesehenen Familie, die jedoch dessen Vermählung mit Rahel nicht wünschte. Diese, zu stolz, zu edeldenkend, um sich einem Kreise aufzudrängen, in dem sie nicht mit gleicher Freundlichkeit aufgenommen wurde, brach das Verhältniß ab, wie tief auch die Wunden waren, die ihr diese Kränkung des Schicksals schlug. Im Innersten verletzt, zog sich R. immer mehr in sich selbst zurück, bis ihre von Tage zu Tage sich höher entfaltenden Geistesblüthen einen Kreis der ausgezeichnetesten Männer und Frauen um sich versammelten. Männer, wie Gentz, Friedrich Schlegel und beide Humboldt, waren diesem Kreise beeifert zugethan, bald um Blüthen und Früchte von daher zu sammeln, bald um deren zu bringen. Graf Tilly, Gustav von Brinckmann, Hans Genelli von Burgsdorf, Fürst von Ligne, Major von Gualtieri, Ludwig und Friedrich Tieck, Graf Casa-Valencia, Fürst Reuß, Navarro und so viele andre Diplomaten, Gelehrte und Künstler hatten sich eingefunden. Von ausgezeichneten Frauen wären gleichfalls viele, aus den verschiedensten Lebenssphären, zu nennen, doch alle darin gleich, daß kein scheinbarer und müßiger, sondern irgend ein ächter und wahrer Bezug dem Verhältnisse zum Grunde lag. Jedes gab sich als das, was es sein konnte, und die Unbefangenheit und gute Laune Rahel's, ihr Geist der Wahrheit und des Geltenlassens walteten ungestört. Prinz Louis Ferdinand, der geniale heldenmüthige Mensch, hatte hier seine reinsten Empfindungen, sein innigstes Streben und Denken, seine edelsten Erhebungen im Genusse einer geistesregen, gemüthvollen Freundschaft genährt. Aber wie frei und leicht sich die Schwingen ihres Geistes in diesem ausgewählten Zirkel entfalten durften, so allein stand sie in ihrem gewöhnlichen Lebens- und Umgangskreise. Ein unermeßlicher Ab stand lag zwischen ihr und ihrer nächsten Umgebung, von der sie selten verstanden, gehegt und geliebt wurde, wie sie es bedurfte und verdiente. Von der Flamme edler Begeisterung, von dem Triebe menschlich reinen Mitgefühls, von dem heiligen Dienste[342] der Wahrheit, welche Rahel's Inneres erfüllten, ihre Eigenschaften beseelten und bewegten, von diesem inneren Wesen wußten die Meisten nichts. Daher die ewige Klage über ihre Isolirung, bei allem Bedürfniß nach Liebe, bei aller Anforderung an gleiche Hingebung; ihr heller Verstand hielt sie unendlich scharf gesondert von Allen und Jedem. – Theils um ihre, oft von Krankheitsleiden angegriffene, Gesundheit zu befestigen, theils aus einem geistigen Drange, um ihre Welt- und Menschenkenntniß zu bereichern, machte R. verschiedene Reisen. Im Jahre 1800 ging sie in Begleitung einer Gräfin von Schlaberndorf nach Paris, wo sie sich ein Jahr aufhielt, und mit mehreren der ersten literarischen Notabilitäten in engere Berührung kam. Kürzere Reisen, wie die nach Leipzig, Schlesien, Karlsbad, Teplitz und Pyrmont, übergehen wir, und verweisen unsere Leserinnen auf ihre Briefe und Tageblätter, die mit lebhaften Zügen das Gesehene und Erlebte schildern. R., die an allem so innigen Antheil nahm, was Menschenglück und Menschenwohl betraf, wurde tief ergriffen von den Wirren der politischen Welt und insbesondere von den Unglücksfällen, die 1806 über ihr Vaterland hereinbrachen; sie vergaß darüber ihre eigenen Interessen, und die Sorge ihrer durch besonderes Unglück zerrütteten Vermögensumstände vermochte nicht ihre rege Theilnahme am Leben, an Wissen und Kunst, an den Weltereignissen und dem Wohl und Weh des kleinen Kreises von Verwandten und Freunden zu schwächen, in dem der Krieg gleichfalls manche Lücke gelassen hatte. Prinz Louis war bei Saalfeld geblieben, und obgleich dieser unersetzliche Verlust sie in ihrem Innersten verwundete, trat sie Jedem, der sich ihr vertrauend nahte, mit derselben reichen Fülle von Wohlwollen und Liebe entgegen. In diese Zeit (1898) fällt auch Rahel's Bekanntwerden mit ihrem nachherigen Gatten, Varnhagen von Ense, der, obgleich um Vieles jünger sich unwiderstehlich von Rahel's eigenster Persönlichkeit angezogen fühlte; er schildert den Eindruck, den sie auf ihn machte, mit folgenden höchst bezeichnenden[343] Worten: »Ich hatte in ihrer Gegenwart das volle Gefühl, einen ächten Menschen, dieß herrliche Gottesgeschöpf in seinem reinsten und vollständigsten Typus vor Augen zu haben, überall Natur und Geist im frischen Wechselhauche, überall organisches Gebild, zuckende Faser, mitlebender Zusammenhang für die ganze Natur, überall originale und naive Geistes- und Sinnesäußerung, großartig durch Unschuld und durch Klugheit und dabei in Worten wie in Handlungen die rascheste, gewandteste, zutreffendste Gegenwart.« Auch Varnhagen gewann bald Rahel's Vertrauen und innige Zuneigung, und es verstrich eine Zeit des glücklichsten Beisammenseins, in dem beide die herrlichsten Blüthen ihres Geistes zum Austausch brachten. Allein Varnhagen's Stellung in der Welt war noch nicht befestigt, somit eilte er, durch Trennung und Vorbereitung zu einem künftigen, thätigen Wirkungskreise, den Augenblick einer unauflöslichen Verbindung zu beschleunigen. Dieser wurde aber durch die kriegerischen Unruhen, die auf ganz Deutschland lasteten, und in Folge deren auch Varnhagen in Kriegsdienste – erst in österreichische, dann in russische – trat, auf Jahre hinausgeschoben. In dieser sturmbewegten Zeit fand R. als theilnehmende Freundin aller Unglücklichen, einen würdigen Wirkungskreis. Sie stand an der Spitze der Frauen, die durch Fürsprache, Rath, Krankenpflege und Hilfsleistung jeder Art, die unheilbringenden Folgen des Krieges milderten. Während des Waffenstillstandes 1813 begab sie sich nach Prag, immer diesem edlen Bestreben treu bleibend. Sie war selbst der äußersten Ruhe und Pflege bedürftig, aber so wie nur eine menschliche Gegenwart sie in Anspruch nahm, eine Geistesregung, ein Gemüthsantheil sie ergriff, machte sie sich gesund und stark; unablässig sorgte sie für Kranke und Verwundete, und half mit Rath und That, wo sie irgend vermochte. Endlich nach errungenem Sieg und Frieden des deutschen Vaterlandes vermählte sich R. am 27. September 1814 mit Varnhagen und begleitete denselben nach Wien. Hier, wie in[344] Frankfurt und Karlsruhe, wo ihr Gatte zum preußischen Geschäftsträger und später zum Ministerresidenten ernannt worden war, wußte sie einen lebhaften, geistreichen Zirkel um sich zu versammeln, deren anmuthigste Zierde jedoch immer sie selbst blieb. Inmitten schwerer körperlicher Leiden schien ihr geistiges Leben unzerstörbar jung und kräftig. Als Varnhagen 1819 von seinem Gesandtschaftsposten abgerufen wurde, kehrte sie mit ihm nach Berlin zurück, wo ihre zunehmende Kränklichkeit sie immer mehr und dauernder an ihr Haus fesselte, doch ohne den Kreis ihres Umganges zu beschränken. Der Besuch der Heilbäder von Teplitz und Baden gab ihr nur für kurze Zeit Erleichterung. Unter unendlichen Leiden, die noch durch die Aufregung der Zeit, an der sie so warmen Antheil nahm, vermehrt wurden, fristete sie ihr Dasein bis zum Frühjahr 1833. Wohl fühlte es Rahel, daß ihr Zustand immer bedenklicher wurde, doch gab sie diese Ueberzeugung nie durch Klagen, sondern durch eine erhöhte Stimmung kund. Zu allen Zeiten waren die höchsten Aufgaben des Menschen, die Thatsachen der geistigen Welt und die Empfindungen und Ahnungen eines hohen Zusammenhanges für R. die liebsten Gegenstände der Betrachtung, der immer wiederkehrende Inhalt des Gespräches. Gegen das Ende ihres Lebens waltete die Richtung zu dem Unsichtbaren immer entschiedener vor, und empfing auch in ihren Aeußerungen eine durchaus erhöhte, persönlichere Bedeutung. So erschien wenigstens ihr der Todesengel nicht unerwartet, der am 7. März 1833 ihrem wirksamen Dasein ein Ziel steckte. Nach einem heftigen Brustkrampfe machte ein Nervenschlag ihrem Leben ein Ende. – R. hat weder durch Stand und Namen, noch durch Schönheit und glänzende Verhältnisse die Blicke der Welt auf sich gezogen, noch durch schriftstellerische und künstlerische Verdienste berühmt werden können, sondern sie hat einzig durch das unbefangene, gleichmäßige Walten einer in sich stets wahren und dabei gütigen, erweckenden Persönlichkeit, durch ihr einfaches tägliches Leben auf die sie umgebende Welt, etc wirkt.[345] Sie war aber auch in jedem Augenblicke alles, was sie sein konnte, ohne Rückhalt, ohne Hehl. So bildete ihr Leben ein Ganzes, das in ihren Briefen und Tageblättern auch auf die Nachwelt übergegangen ist. Rahel's Briefe, die rein als solche in stylistischer Hinsicht betrachtet, nur geringen Werth haben, überraschen dagegen wie ihre Tageblätter durch den Reichthum und durch die Neuheit der Gedanken und Wendungen, durch die rege Theilnahme an allen großen Ereignissen, an Literatur und Kunst, und die stets frische Geistesthätigkeit, mit der sie sich und Andern klar zu werden suchte. Ihre Wahrheitsliebe trieb sie in gleichem Maße, wie sich die Menge zu verstellen sucht, ihr wahres Innere zu enthüllen. Sie glaubte, indem sie wahr sei, niemals sich etwas zu vergeben, noch durch Verschweigen etwas zu gewinnen, und ein solches höchstes, ausgleichendes, versöhnendes Interesse für die Mittheilung der Wahrheit, welches sie empfand, setzte sie für deren Würdigung auch bei Andern stets, wiewohl leider meist fälschlich, immer auf's Neue voraus. In R. war die Fülle und Kraft persönlicher Lebensentwickelung mit der Schönheit und Erhebung dichterischen und philosophischen Geistlebens in engem Bündnisse, sie bewegten sich beiderseits in bezugvoller Uebereinstimmung. Ueberall finden wir richtige Auffassung und genaue Würdigung des Talentes. Ihre feiernde Anerkennung des Göthe'schen Genius hat sie in ihren Briefen vielfach ausgesprochen. Weit früher, als irgend eine literarische Meinung der Art sich gebildet hatte, war sie von Göthe's Außerordentlichkeit getroffen, von der Macht seines Dichtergeistes eingenommen und bezaubert worden, hatte ihn über jede Vergleichung hinausgestellt, und ihn für den höchsten, den einzigen Dichter erklärt. Doch dürfen wir im Eifer das Treffliche zu loben, was in ihr war, die Berührung einer Seite nicht vergessen, die von ihren Gegnern nur allzu böswillig angegriffen worden ist. Es ist dieß das innere Weh, das ewig ungestillte Sehnen ihrer Brust nach einem bessern Zustande, das Ringen und Kämpfen mit sich[346] und den Forderungen der Welt. Allein diese verzehrende Ungenügsamkeit, die sich in ihr so scharf ausprägte, scheint uns recht eigentlich zur Geschichte und Charakterisirung unsrer Zeit zu gehören, von der R. richtig bezeichnend sagt: »sie enthalte nur Gährungsstoff, Fragen ohne Antworten, Frieden ohne großen Gewinn.« Welches tiefere Gemüth wird sich nicht von diesem Schwankenden und Ungewissen, von der Halbheit aller Verhältnisse ergriffen und im Innersten verwundet fühlen, wie um so gewisser nicht Rahel mit ihrer seinen Erregbarkeit und ihrem in Mitgefühl fieberhaft bebenden Herzen. Viele verschweigen ihre Empfindungen, um besser zu scheinen, als sie sind, Rahel hat sie gesagt und niedergeschrieben, und gerade diese offene Darlegung ihres innern Selbst erregt die höchste Theilnahme des Lesers. So macht dieses Buch zwar weniger den Eindruck eines Kunstproduktes, als den einer persönlichen Bekanntschaft. Dennoch mußte eine so scharfe und wahre Individualität bei der angebornen Verschiedenheit der Menschen sehr verschieden wirken.

E. v. E.

Quelle:
Damen Conversations Lexikon, Band 8. [o.O.] 1837, S. 340-347.
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