Kriticismus

[576] Kriticismus: der Standpunkt der Kritik (s. d.), des kritisch-philosophischen, transcendentalen (s. d.), erkenntniskritischen (s. d.) Verfahrens, die Methode, vor aller positiven Philosophie (Metaphysik) die Möglichkeit, Gesetzmäßigkeit und die Grenzen der menschlichen Erkenntnis, die Erkenntniskraft des Bewußtseins einer systematischen Prüfung zu unterziehen, nichts dogmatisch (s. d.) hinzunehmen, sondern überall die Begriffe zu analysieren, auf ihr Fundament (s. d.) zurückzuführen und in ihrer logischen Berechtigung und Gültigkeit zu werten (»kritische Methode«).

Ansätze zum Kriticismus finden sich bei PLATO, DESCARTES, LOCKE, LEIBNIZ, HUME. Durch letzteren wurde KANT, der Begründer des Kriticismus als System, aus seinem »dogmatischen Schlummer« geweckt (Prolegomena, Einleit.). Schon in der Schrift »De mundi sens et intell. forma et principiis« ist der kriticistische Standpunkt in manchem annähernd erreicht (vgl. Raum, Zeit). In der »Kritik der reinen Vernunft« (1781; ursprünglicher Titel: »Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft«, vgl. WW. VIII, 686) stellt Kant allem Dogmatismus (s. d.) und Skepticismus (s. d.) die »Kritik« gegenüber, die Prüfung des Intellectes auf seine Fähigkeit hin, apriorische (s. d.) Sätze, synthetische Urteile (s. d.) a priori aufstellen zu können, zu dürfen, sowie die Art und den Umfang der Gültigkeit der allgemeinen Urteile und Begriffe, der Anschauungs- und Denkformen (s. d.). Die Gewißheit, Gültigkeit des Erkennens, nicht der psychologische Ursprung desselben, steht im Vordergrunde der Untersuchung, die formal, analysierend, deducierend, normierend-wertend ist; sie stützt sich auf die Reflexion (s. d.) über die Tatsachen des Erkennens und sucht die formalen Principien (s. d.) der Erkenntnis auf, um aus diesen die Möglichkeit des Erkennens, besonders des apriorischen, zu begreifen. Als System lehrt der Kriticismus Kants die Apriorität (s. d.) der reinen mathematisch-physikalischen Grundsätze (s. Axiome) der Anschauungs- und Denkformen (s. Kategorien), der Unendlichkeitsbegriffe (s. d.), ferner die transcendentale Idealität (s. d.) unserer Erkenntnisse, die Phänomenalität (s. d.) der Erkenntnisinhalte, die Existenz eines unerkennbaren »Ding an sich« (s. d.) u.s.w. – Die »Kritik der reinen Vernunft« ist eine Kritik »des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Principien« (Krit. d. r. Vern. S. 5 f.). Auf das Stadium des Dogmatismus und Skepticismus folgt die Kritik, die »nur der gereisten und männlichen Urteilskraft zukommt, welche feste und ihrer Allgemeinheit nach bewährte Maximen zum Grunde hat, nämlich nicht die Facta der Vernunft, sondern die Vernunft selbst, nach ihrem ganzen Vermögen und Tauglichkeit zu reinen Erkenntnissen a priori, der Schätzung zu unterwerfen« (l.c. S. 581). »Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die gegenstände müssen sich nach unserer [576] Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe ließ« (l.c. S. 18). Der Grundsatz ist eben zu beachten, »daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen« (l.c. S. 18). Im Versuche, »das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern, und dadurch, daß wir nach dem Beispiel der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vornehmen, besteht nun das Geschäft dieser Kritik der reinen speculativen Vernunft. Sie ist ein Tractat von der Methode, nicht ein System der Wissenschaft selbst« (l.c. S. 21). Die Kritik wendet sich einerseits gegen die dogmatische Speculation (B. d.) der rationalistischen Metaphysik, anderseits gegen den Skepticismus, der die Gewißheit der wissenschaftlichen Grundsätze und religiösen Glaubensmeinungen bezweifelt: »Die Kritik beschneidet dem Dogmatismus gänzlich die Flügel in Ansehung der Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände« und sie geht darauf aus, »etwas Gewisses und Bestimmtes in Ansehung des Umfanges unserer Erkenntnis a priori festzusetzen«. Ferner will sie »die unvermeidliche Dialektik (s. d.) womit die allerwärts dogmatisch geführte reine Vernunft sich selbst verfängt und verwickelt«, auflösen (W. h. sich im Denk. orient. S. 135). »Ich mußte... das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen« (Krit. d. r. Vern. S. 26). – Schon in den »Träumen eines Geistersehers« äußert Kant den Gedanken, »daß die verschiedenen Erscheinungen des Lebens in der Natur und deren Gesetze alles seien, was uns zu erkennen vergönnt ist, das Principium dieses Lebens aber... niemals positiv könne gedacht werden, weil keine Data hierzu in unseren gesamten Empfindungen anzutreffen sind« (1. T., 4. Hptst.; vgl. 2. u. 3. Hptst.).

KRUG bemerkt: »Wer... richtig philosophieren will, darf weder alles bezweifeln, noch alles für wahr und gewiß halten, was den Schein der Wahrheit und Gewißheit an sich trägt. Er muß eben darum, mit steter Hinsicht auf die unmittelbaren Tatsachen seines Bewußtseins, die ursprünglichen Gesetze seiner gesamten Tätigkeit zu erforschen suchen, um so zu allgemeingültigen Principien zu gelangen, mittelst welcher allein wahre und gewisse Lehrsätze nicht nur gefunden, sondern auch der Idee eines wissenschaftlichen Ganzen gemäß verbunden werden können. Dieses Verfahren kann man daher mit Recht synthetisch oder kritisch nennen.« Der »Kanticismus« ist nur eine Art des Kriticismus (Handb. d. Philos. I, 99). Nach TENNEMANN geht das kritische Philosophieren »von einer vollständigen und gründlichen Erforschung des Erkenntnisvermögens zur Erkenntnis der Objecte« (Gr. d. Gesch. d. Philos.3, S. 32). FRIES erklärt: »Das Eigentümliche der Kritik der Vernunft ist das philosophische Aufschieben des Urteils bis nach Beendigung der Untersuchung« (Gr. d Log. S. 132). J. G. FICHTE betont: »Darin besteht nun das Wesen der kritischen [idealistischen] Philosophie, daß ein absolutes Ich als schlechthin unbedingt und durch nichts Höheres bestimmbar aufgestellt werde.« »Im kritischen Systeme ist das Ding das im Ich Gesetzte...; der Kriticismus ist darum immanent, weil er alles in das Ich setzt« (Gr. d. g. Wiss. S. 41). Der Kriticismus muß allen allgemeinen Erkenntnisinhalt aus der Tätigkeit des Ich (s. d.) ableiten, er darf nichts als[577] »gegeben« voraussetzen (s. Wissenschaftslehre). Die kritische Methode hat einen teleologischen Charakter. Das betont auch WINDELBAND (Prälud. S. 275). »Die Voraussetzung der kritischen Methode ist... der Glaube an die allgemeingültigen Zwecke und an ihre Fähigkeit, im empirischen Bewußtsein erkannt zu werden« (l.c. S. 271). »Von ihrer einzigen Voraussetzung her, daß es Vorstellungen, Willensentscheidungen und Gefühle geben soll, welche allgemein gebilligt werden dürfen, hat die kritische Methode alle diejenigen Bewegungsformen des psychischen Lebens sich zum Bewußtsein zu bringen, welche als unerläßliche Bedingungen für die Realisierung jener Aufgabe nachgewiesen werden können... Das allein kann gemeint sein, wenn man verlangt, daß der Nachweis der a priori geltenden Axiome und Normen selbst nicht empirischen Charakters sein dürfe« (l.c. S. 273; vgl. Psychologismus). Den Kriticismus vertritt in bezug auf das a priori des Erkennens FR. SCHULTZE (Philo(s. d.) Naturwissensch. II, 21 ff.). RIEHL setzt die kritische Methode in die principielle Trennung des ideellen Erkenntnisfactors vom empirischen und die factische Vereinigung beider (Philos. Kritic. I, 221). Nach C. GÖRING ist es die Aufgabe der philosophischen Kritik, »den festen Punkt aufzuzeigen, von welchem alles Erkennen und Wissen ausgeht« (Syst. d. krit. Philos., Vorw. S. VII). Nach H. COHEN ist der Kriticismus, »Kritik der Erfahrung«, Wissenschaft von der Methode (Kants Theor. d. Erfahr.2; Logik). Ähnlich NATORP. Nach ihm betont der Kriticismus, daß der »Gegenstand der Erkenntnis« »nur ein x, daß der Gegenstand stets Problem, nie Datum ist; ein Problem, dessen ganzer Sinn allein bestimmt sei in Beziehung auf die bekannten Größen der Gleichung, nämlich unsere fundamentalen Begriffe, die nur die Grundfunctionen der Erkenntnis selbst, die Gesetze des Verfahrens, in dem Erkenntnis besteht, zum Inhalt haben«. »Der Gegenstand... ist nicht gegeben, sondern vielmehr aufgegeben; aller Begriff von Gegenstand, der unserer Erkenntnis gelten soll, muß erst sich aufbauen aus den Grundfactoren der Erkenntnis selbst, bis zurück zu den schlechthin fundamentalen. Also deckt sich die kritische Ansicht mit der genetischen« (Plat. Ideenl. S. 367). – WUNDT betrachtet als Kriticismus das Verfahren des Nachweises der logischen Motive der wissenschaftlichen Erkenntnis in ihrer reinlichen Scheidung von den anderen Motiven (Philos. Stud. VII, 15). Kritisch ist die Philosophie, welche von vornherein Rechenschaft über ihre Voraussetzungen und Verfahrungsweisen gibt (Log. II2 2, 631; vgl. Philos. Stud. IV, 19; X, 82 f.; XIII, 321; Ess. 14; vgl. Erkenntnistheorie). – Kriticisten sind u. a. auch RENOUVIER und LACHELIER (Du fondement de l'induct.2, 1896).

Vom Kantischen und rationalistischen läßt sich ein empiristischer oder besser der Kriticismus schlechthin unterscheiden. Der »Empiriokriticismus« (s. d.) will die »reine Erfahrung« (s. d.) von den subjectiven »Zutaten« reinigen. Vgl. Erkenntnistheorie, Erfahrung, A priori, Transcendental, Wissenschaftslehre, Philosophie, Psychologismus, Empirismus, Rationalismus, Idealismus, Kantianismus, Criticism.

Quelle:
Eisler, Rudolf: Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Band 1. Berlin 1904, S. 576-578.
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