[376] Geodäsie oder Vermessungskunde ist die Lehre von der wissenschaftlichen Ausbildung und praktischen Anwendung derjenigen Methoden der Messung,[376] Rechnung und Abbildung, die zur Bestimmung der räumlichen Verhältnisse sowohl der gesamten Erdoberfläche als auch beliebig begrenzter Teile derselben dienen. Die Aufgaben, die der Geodäsie in dieser Hinsicht für wissenschaftliche, staatswirtschaftliche, militärische und technische Zwecke gestellt werden, sind sehr verschiedenartiger Natur. Dementsprechend fällt der Geodäsie die Aufgabe zu, für diese verschiedenartigen Anforderungen geeignete Methoden der Messung, Rechnung und Abbildung theoretisch zu entwickeln und für die technische Verwendung auszubilden.
I. Die Methoden der Messung, Rechnung und Abbildung. Allen geodätischen Bestimmungsmethoden dient als Grundlage die jedem Erdorte eigentümliche Richtung der Schwerkraft. Eine Fläche, die alle Schwererichtungen rechtwinklig durchschneidet, liefert, wenn sie von einem dem Meeresspiegel angehörenden Punkte ausgehend gedacht wird, den konventionellen und üblichen Ausdruck für die Erdfigur, das Geoid (s. Erde, Erdmessung), dessen mathematischer Repräsentant das Erdsphäroid oder Ellipsoid die Berechnungs- und Abbildungsfläche ergibt. Auf diese gekrümmte Fläche werden alle Punkte, Linien und Flächenteile der physischen Erdoberfläche bezogen, und die grundlegende Bestimmungsmethode der Geodäsie besteht demnach in der Ermittlung der gegenseitigen Lage von Punkten in bezug auf diese mathematisch definierte Vermessungsfläche. Dazu ist erforderlich: 1. Herstellung und Messung lotrechter und wagerechter Linien, Ebenen und Winkel, und 2. Ableitung eines unzweideutigen Ausdrucks für die Lage von Punkten zueinander und zur Vermessungsfläche a) auf analytischem Wege durch Koordinaten in bestimmt definierten und passend angeordneten sogenannten Koordinatensystemen und b) auf graphischem Wege in Karten, Plänen und Rissen.
Die hauptsächlichsten der für alle diese Aufgaben ausgebildeten geodätischen Methoden und Verfahren sind:
1. Bestimmung der Intensität der Schwere durch Pendelbeobachtungen für die Ermittlung (dynamische Bestimmung) der Erdfigur (s. Erde, Erdmessung, Bd. 3).
2. Geographische (astronomische) Ortsbestimmung, das ist die Bestimmung der Lage von Punkten in bezug auf die Erdachse durch Ermittlung von Meridianrichtung, Polhöhe und Längenunterschieden.
3. Messung von Entfernungen zwischen Punkten der Erdoberfläche auf Grund einer exakt definierten Maßeinheit, und zwar: a) unmittelbare Längenmessung (s.d.) mit einfachen Längenmeßinstrumenten; b) besonders exakte unmittelbare Längenmessung mit Hilfe besonderer Apparate, sogenannte »Basismessungen« (s.d.); c) sogenannte »Distanzmessung« (s.d.).
4. »Triangulierung« (s.d.) (Dreiecksmessung) auf Grund von Basis- und Winkelmessung in trigonometrischen Systemen, und zwar sphäroidische, sphärische und ebene Triangulierung, je nachdem mit Rücksicht auf Ausdehnung und Genauigkeit der Bestimmungen das Geoid durch eine sphäroidische, sphärische oder ebene Fläche ausgedrückt wird und dementsprechend geographische, sphäroidische, sphärische oder ebene Koordinaten (s. Koordinaten, geodätische) zur Anwendung kommen.
5. Polygonisierung (s.d.) durch Bestimmung von Längen und Winkeln oder magnetischen Azimuten in gebrochenen Linienzügen (in der Regel im Anschluß an 4).
6. Stückvermessung (s.d.), das ist die Anwendung der Längen- und Winkelmessung bezw. Abdeckung zur Einzelaufnahme (mit oder ohne Anschluß an 4 und 5).
7. Meßtischaufnahme (s.d.), das ist die unmittelbare Uebertragung der Punktlage auf eine Zeichnungsebene, den Meßtisch (in der Regel im Anschluß an 4).
8. Höhenmessung (Hypsometrie), und zwar: a) geometrisches Nivellement (s. Nivellieren) bei Verwendung horizontaler Ziellinien; b) trigonometrische Höhenmessung (s.d.) bei Verwendung geneigter Ziellinien mit Messung der Winkel zwischen Ziel- und Lotlinie; c) barometrische Höhenmessung (s.d.).
9. Durch Verbindung von Distanzmessung (3 c), ebener Triangulierung (4) und Polygonisierung (5) mit Höhenmessung (in der Regel trigonometrischer Höhenmessung 8 b) ergeben sich die verschiedenen Methoden der Tachymetrie (s.d.) und bei Anwendung derselben zur übersichtlichen Geländedarstellung (besonders nach Methode 7) die Topographie (s.d.), wozu auch die Photogrammetrie (s. Phototachymetrie) neuerdings verwendet wird.
10. Abbildung der Erdoberfläche, das ist Zeichnen von Karten, Plänen, Rissen und Schnitten, und zwar: a) mit Berücksichtigung der Krümmung der Erdoberfläche: Kartenprojektion (s.d.) (Chorographie); b) mit besonderer Berücksichtigung der Geländedarstellung die topographische Abbildung (auf Grund von 9); c) mit besonderer Berücksichtigung der exakten Darstellung aller Einzelheiten, vornehmlich der Eigentums-, Kulturgrenzen u.s.w., Planzeichnen, geometrische Kartierung (s.d.) sowie das Zeichnen von Profilen und Rissen (s. Nivellieren).
11. Messung und Berechnung von Flächeninhalten (Planimetrie) (s. Flächenberechnung) und Kubikinhalten von Erdkörpern (s. Erdmassenberechnung).
II. Einteilung der Geodäsie und Uebersicht über ihre Aufgaben. Die Verschiedenartigkeit der Aufgaben, die der Geodäsie in wissenschaftlichem, staatswirtschaftlichem, militärischem, technischem und öffentlichem Interesse gestellt werden, führt zu einer Einteilung in verschiedene Zweige, wobei besonders die historische Entwicklung als Grad-(Erd-) messung, militärtopographische Messungen und Katastervermessungen maßgebend gewesen ist.
A. Der Erdmessung (s. Bd. 3, S. 480) fällt zu die Definition und Bestimmung der Erdfigur und ihrer Dimensionen. Ihre hauptsächlichsten Methoden sind die unter I, 1, 2, 3 b, 4 und 8 genannten. Sie liefert die notwendige Bestimmung der Form und Dimensionen der Berechnungsfläche für:[377]
B. die Landesvermessung (s.d.), deren Aufgabe es ist, im öffentlichen und staatswirtschaftlichen Interesse ein einheitliches Vermessungswerk für das gesamte Gebiet eines Landes herzustellen und dauernd zu erhalten. Die geodätischen Arbeiten zerfallen in die Ausführung der Landestriangulation und der darauf gegründeten Spezialvermessung. Man unterscheidet eine topographische und eine spezielle Landesvermessung. Die erstere, die zur Herausgabe einer topographischen Karte des Landes führt und zunächst für militärische Zwecke erforderlich war, liegt dementsprechend in fast allen Ländern in der Hand der Militärverwaltungen, während die letztere, zunächst für die Grundsteuererhebung unternommen, in entsprechender Weise den Finanzverwaltungen der Staaten (Katasterbehörden, s.a. Kataster) zugefallen ist. Zur Anwendung kommen je nach den Umständen die sämtlichen unter I, 311 genannten Methoden.
C. Die für die vielseitigen wirtschaftlichen und technischen Zwecke erforderlichen Vermessungen sind sehr verschiedenartiger Natur. Es kommen in Betracht die Vermessungen im Interesse der Landeskultur (Melioration, Zusammenlegungen u.s.w.), der Forstwirtschaft (Waldvermessung, Forsteinrichtung), des Bergbaues (Grubenmessung, Markscheiden), der städtischen Verwaltungen (Stadtvermessungen), der äußerst vielseitigen Messungen im Interesse des Eisenbahn-, Straßen- und Wasserbaues (geometrische Vorarbeiten, Abdeckungen, Tracieren, Flußvermessungen), endlich die durch den Grundstücksverkehr (Verkauf, Teilung, Pachtung), durch gewerbliche Betriebsanlagen (Fabriken, Mühlen u.s.w.) erforderlichen Vermessungen. Alle diese geometrischen Arbeiten rechnet man zur Land- oder Feldmessung. Dabei kommen alle die unter 1,411 genannten Methoden zur Anwendung, und zwar in verschiedenartiger, den einzelnen Zwecken besonders entsprechender Ausbildung, wie z.B. besonders bei den Grubenmessungen, dem sogenannten Markscheiden. Hierbei ist auch hinzuweisen auf die besondere Ausbildung der Methoden für nautische Zwecke und Reisewegaufnahmen (s. Routenaufnahme).
Abgesehen von dieser sachlichen Einteilung unterscheidet man eine höhere und niedere Geodäsie, je nachdem infolge der Begrenzung des Gebietes bei den Punktbestimmungen von der Krümmung der Erdoberfläche (Konvergenz der Lotrichtungen) abgesehen werden kann und dementsprechend die Sätze der niederen Mathematik ausreichen oder nicht. Die Bezeichnungen schwanken (vgl. die Titel der untengenannten Lehrbücher) und haben im Laufe der Entwicklung eine veränderte Bedeutung angenommen.
Unter Geodäsie (von γῇ Erde, Acker, und δαίζω teile), wörtlich also Erd-, Ackerteilung, verstand man früher die »Feldmessung« (= niedere Geodäsie); erst im Laufe des letzten Jahrhunderts hat der Begriff allmählich die heutige Erweiterung bis zur gesamten Vermessungskunde, einschließlich der Erdmessung, erfahren. Aristoteles unterscheidet Geodäsie = Feldmessung von Geometrie = wissenschaftliche Raumlehre. Geodäsie war die rechnende Geometrie, während in der theoretischen Raumlehre die praktische Rechnung ausgeschlossen war. Im Anschluß hieran ergibt sich für die angewandte Geometrie die Bezeichnung »praktische Geometrie« (geometria practica), die heute im wesentlichen als gleichbedeutend mit Vermessungskunde gilt. Unter dem Vermessungswesen eines Staates versteht man die Gesamtheit der im staatlichen und öffentlichen Interesse organisierten Vermessungsarbeiten.
Die im Abschnitt I genannten verschiedenartigen Bestimmungsmethoden haben ihre heutige Ausbildung bei den im Abschnitt II genannten geodätischen Arbeiten im Laufe einer allmählichen Entwicklung erhalten, die zurückgeht über die Zeit der arabischen Gradmessungen, der römischen Agrimensoren und der alexandrinischen Geometer bis zu den altägyptischen Harpedonapten (Seilspanner), die in dem vom Nil überfluteten Tale die Ackerstücke einteilten. Diese allmähliche Entwicklung ist auf das innigste verknüpft einerseits mit derjenigen der exakten Wissenschaften (Mathematik, Astronomie, Physik) und anderseits mit derjenigen von Handel und Verkehr und den steigenden Anforderungen, die das öffentliche Leben an die Ausbildung der geodätischen Methoden Hellt. Die moderne Entwicklung, die im wesentlichen auf der Ausbildung der Methoden seit Beginn der exakten Gradmessungen im 17. und 18. Jahrhundert fußt, hat ihre hauptsächlichste Förderung im verflossenen Jahrhundert erfahren; dabei haben vornehmlich mitgewirkt die umfassende Organisation der internationalen Erdmessung (mit ihrem Zentralbureau im Kgl. preuß. Geod. Institut), die ausgedehnten Landesvermessungen aller Kulturstaaten und die darauf gegründeten militärtopographischen und Katastervermessungen, sodann die Entwicklung des Ingenieurwesens, der Eisenbahnbau und die technischen Hochschulen. Die exakte Durchbildung, welche die heutigen Methoden auszeichnet und immer mehr gefördert werden wird, ist gegründet auf die von Gauß geschaffene Methode der kleinsten Quadrate, die überhaupt erst eine wissenschaftlich begründete Kritik der Methoden und Hilfsmittel ermöglichte.
Literatur: Die Literatur ist entsprechend den genannten geodätischen Methoden, der allmählichen Ausbildung und Anwendung derselben für die verschiedenen Zwecke von den umfallenden Aufgaben der Erd- und Landesvermessung bis zu den engbegrenzten der Kleintechnik, eine ebenso umfangreiche wie verschiedenartige. Bei den einzelnen Artikeln dieses Lexikons ist auf die zugehörige Literatur verwiesen. Eine Zusammenstellung der gesamten internationalen Literatur mit besonderer Berücksichtigung der wissenschaftlichen Seite gibt die [1] Publikation der internationalen Erdmessung: Geodätische Literatur, zuletzt von 1889 (zusammengestellt von Börsch), Berlin, und ein neueres Werk: Gore, J.H., A bibliography of geodesy, 2. Aufl., Report of the Superintendent of the U.S. coast and geodetic survey 1901/02, Washington 1903, sowie unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Technik die jährlichen Literaturnachweise der [2] Zeitschrift für Vermessungswesen, Stuttgart. Hier sollen nur einige der verbreitetsten und gebräuchlichsten der neueren deutschen Lehr- und Handbücher angeführt werden, die, dem in jedem Fall gefleckten Ziel entsprechend, eine Uebersicht und mehr oder weniger eingehende Darlegung der Methoden und deren Anwendung bieten. Für die Theorie der Erd- und Landesvermessungen kommt in erster Linie in Betracht [3] Helmert, Die mathematischen und physikalischen Theorien der höheren Geodäsie, Bd. 1: Die mathematischen Theorien, Leipzig 1880; Bd. 2: Die physikalischen[378] Theorien, Leipzig 1884. Das umfassendste, mit reichen Literaturangaben ausgestattete Handbuch ist [4] Jordan, Handbuch der Vermessungskunde, Stuttgart, Bd. 1: Ausgleichungsrechnung nach der Methode der kleinsten Quadrate, 5. Aufl., 1904; Bd. 2: Feld- und Landmessung, 6. Aufl., 1904; Bd. 3: Landesvermessung und Grundaufgaben der Erdmessung, 5. Aufl., 1906. Ferner sind zu nennen [5] Bauernfeind, Elemente der Vermessungskunde, 2 Bde., 7. Aufl., Stuttgart 1890. [6] Vogler, Lehrbuch der praktischen Geometrie, Bd. 1: Vorstudien und Feldmessen; Bd. 2: Höhenmessungen, Braunschweig 1885 und 1894. [7] Bohn, Die Landmessung, Berlin 1886. [8] Hartner-Dolezal, Handbuch der niederen Geodäsie, 9. Aufl., Wien 190405. Mit besonderer Berücksichtigung der Bedürfnisse der Forst- und Landwirte sind bearbeitet [9] Bauer, Lehrbuch der niederen Geodäsie. 5. Aufl., Berlin 1895. [10] Baule, Lehrbuch der Vermessungskunde, 2. Aufl., Leipzig 1901. Von der großen Anzahl der kleinen Bücher und Leitfaden, die auf engbegrenztem Raum nur die einfachsten Messungen behandeln, seien nur genannt [11] Wüst, Leichtfaßliche Anleitung zum Feldmessen und Nivellieren, 5. Aufl., Berlin 1901; sodann Weitbrecht, Praktische Geometrie, Leitfaden für den Unterricht an technischen Lehranstalten, 2. Aufl., Stuttgart 1906, und als empfehlenswertes Taschenbuch [12] Schlebach, Kalender für Geometer und Kulturtechniker, Stuttgart.
Reinhertz.
Buchempfehlung
Autobiografisches aus dem besonderen Verhältnis der Autorin zu Franz Grillparzer, der sie vor ihrem großen Erfolg immerwieder zum weiteren Schreiben ermutigt hatte.
40 Seiten, 3.80 Euro
Buchempfehlung
Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.
434 Seiten, 19.80 Euro