Rollen [2]

[501] Rollen der Kurven und Flächen aufeinander. Die Elementarbewegung eines unveränderlichen ebenen Systems Σ in der Ebene ist eine unendlich kleine Rotation um einen gewissen Systempunkt Γ, das Momentanzentrum, der eine bestimmte Lage C in der Ebene der Bewegung hat. Die Elementaramplitude d ϑ dieser Rotation, dividiert durch das Zeitelement d t, ist die Winkelgeschwindigkeit ω = d ϑ : d t um das Momentanzentrum. Das Momentanzentrum wechselt kontinuierlich und ist zur Zeit t + d t ein Systempunkt Γ' zusammenfallend mit einem Punkt C' der Ebene der Bewegung. Die kontinuierliche Folge aller Momentanzentra Γ bildet im System die Kurve (Γ) und ihre Orte C bilden in der Ebene die Kurve (C). Beide haben das Bogenelement ΓΓ' = CC' = d ϑ gemein, berühren einander im Momentanzentrum und das Bogenelement d ϑ, dividiert durch das Zeitelement d t, ist die Geschwindigkeit u = d σ : d t, mit welcher das Momentanzentrum im System und in der Ebene der Bewegung wechselt. Da die beiden Kurven sich berühren und gemeinschaftliches Bogenelement besitzen, so rollt die Kurve (Γ) auf der Kurve (C), ohne zu gleiten.

Sie dreht sich dabei bloß um das Momentanzentrum, wodurch die folgenden Tangenten beider Kurven zur Koinzidenz gebracht werden. Durch das Rollen der Kurve (Γ) auf der Kurve (C) ist die Bewegung des Systems Σ in der Ebene der Bewegung bestimmt, und es sind infolgedessen alle Systempunkte gezwungen, bestimmte Kurven zu beschreiben, die eine bestimmte Kurvenschar bilden und kontinuierlich ineinander übergehen. Auch sind alle Kurven des Systems Σ gezwungen, Kurven zu umhüllen, die eine andre Schar bilden. In diese Schar gehört auch die Kurve (C), welche von der Kurve (Γ) umhüllt wird. Jede Systemkurve von Σ bewegt sich berührend über ihre Umhüllungskurve hin; aber während die Kurve (Γ) auf (C) bloß rollt, so rollt und gleitet zugleich jede andre Systemkurve auf ihrer Umhüllungskurve, wovon man sich leicht überzeugt, indem man die Winkelgeschwindigkeit ω um Γ auf den Berührungspunkt einer jener andern Kurven überträgt, den diese mit ihrer Umhüllungskurve gemein hat, und die dazu notwendige Translationsgeschwindigkeit hinzufügt. – Die Kurve (Γ) kann auf zwei Arten auf der Kurve (C) rollen, so daß dieselben Punkte beider Kurven in den gemeinsamen Punkten zusammentreten, nämlich so, daß ihre Krümmungsmittelpunkte auf entgegengesetzten oder auf derselben Seite der gemeinsamen Tangente liegen. Im ersten Falle ist die Elementaramplitude d ϑ die Summe, im zweiten die Differenz der Kontingenzwinkel beider. Im ersten Falle ist, wie sich leicht ergibt, der Quotient ω : u gleich der Summe der Krümmungen beider Kurven, im zweiten gleich der Differenz derselben. Sind im zweiten Falle die Krümmungen gleich, so tritt ein momentaner Stillstand der Bewegung des Systems Σ ein. Aehnliche Abnormitäten der Bewegung ergeben sich, wenn die Kurven (Γ) und (C) sich in einem singulären Punkte, z.B. einem Wendepunkt, berühren. Um alle Arten der Bewegung eines Systems zu erschöpfen, für welche zwei gegebene Kurven zu (Γ) und (C) werden, verdient noch hinzugefügt zu werden, daß beide Kurven mit jedem Paare ihrer Punkte, also im Momentanzentrum zusammentretend, beginnen können. – Die Ebene der Bewegung, in welcher das System Σ sich bewegt, ist selbst ein System Σ', welches, gleichzeitig in – eine Bewegung besitzt, für welche die Kurve (C) Ort der Momentanzentra wird. Beide Bewegungen von Σ in Σ' und von Σ' in Σ stehen in einer gewissen geometrischen Verwandtschaft des Dualismus und heißen Umkehrungen voneinander; s. Dualismus der Bewegung.

Die Elementarbewegung eines unveränderlichen räumlichen Systems ist eine unendlich kleine Windungsbewegung, nämlich eine Rotation um eine gewisse Achse γ des Systems, die Momentanachse, welche eine bestimmte Lage c im Räume hat, in welchem die Bewegung erfolgt, in Verbindung mit einer unendlich kleinen Translation parallel dieser Achse. Die Elementaramplitude d ϑ der Rotation, dividiert durch das Zeitelement d t, gibt die Winkelgeschwindigkeit ω = d ϑ : d t und die Elementartranslation dτ, durch dt dividiert, die Translationsgeschwindigkeit v0 = d τ : d t der Windungsbewegung zur Zeit t. Durch die Elementartranslation verschiebt sich das System parallel γ und durch die Rotation dreht es sich um γ um, so daß zur Zeit t + d t die folgende Momentanachse γ' in die Lage c' eintritt. Die sämtlichen Momentanachsen γ bilden im System eine geradlinige, im allgemeinen windschiefe Fläche (γ) und ihre Lagen c im Räume der Bewegung eine zweite geradlinige Fläche (c). Beide Flächen gleiten längs der Momentanachse aneinander, um die Strecke d t, und rollen aufeinander vermöge der Rotationsamplitude d ϑ. Durch die Elementarwindungsbewegung treten zwei folgende Achsen γ' und c' zusammen und es haben beide Flächen nach dem Zeitelemente d τ zwei aufeinander folgende Erzeugungslinien gemein, welche im Begriffe stehen, in der Momentanachse zusammenzufallen. Beide Flächen berühren sich daher längs der Momentanachse γ und haben in allen Punkten dieser gemeinsame Tangentenebenen. Die beiden Achsen γ und γ' haben einen kürzesten Abstand d p voneinander und bilden einen Winkel d ϑ miteinander. Der Fußpunkt des kürzesten Abstandes auf γ heißt der Zentralpunkt und die Tangentenebene in ihm die Zentralebene von γ. Die Verteilung der Tangentenebenen längs γ hängt von der Größe χ = d p : d ϑ ab, welche der Parameter von γ heißt. Dieser Parameter hat für zwei sich berührende windschiefe Flächen für die Berührungserzeugende denselben Wert und ohne dies ist die Berührung nicht möglich. Durch die Elementarbewegung wechselt die Momentanachse, d.h. es treten zwei folgende Achsen; γ' c' zur neuen Momentanachse zusammen. Durch die Translation d t schieben sich ihre Zentralpunkte und durch die Rotation d ϑ fallen[501] sie selbst zusammen. Der Wechsel der Momentanachse ist selbst eine Windungsbewegung um die Linie kürzesten Abstandes d p beider, in dem sich die Achse γ um d p parallel dieser verschiebt und sich zugleich um d ϑ um sie umdreht. Die beiden Größen u = d p : d t und ψ = d ϑ : d t sind die Komponenten dieser Wechselgeschwindigkeit, u heißt die Orthogonalgeschwindigkeit und ψ die Winkelgeschwindigkeit dieses Wechsels. Es gibt zwei Arten geradliniger Flächen, windschiefe und abwickelbare. Die letzteren sind als ein spezieller Fall der ersteren anzusehen, indem sie aus jenen entspringen, wenn je zwei aufeinander folgende Erzeugungslinien in eine Ebene fallen. Dies tritt ein, wenn d p = 0 oder d ϑ = 0 wird. Längs einer Erzeugungslinie einer abwickelbaren Fläche fallen alle Tangentenebenen in der Zentralebene zusammen und es ist der Schnittpunkt der Erzeugungslinien der Zentralpunkt. Zu ihnen gehören die Kegelflächen, für welche die Kurve der Zentralpunkte sich auf einen Punkt, den Mittelpunkt der Fläche, reduziert, und die Zylinderflächen, welche Kegelflächen mit unendlich fernem Zentralpunkt sind. Auf jeder windschiefen Fläche bilden die Zentralpunkte oder die Fußpunkte der kürzesten Abstände d p eine Kurve, die Striktionslinie. Sind die Tangenten der Striktionslinien der beiden Flächen (γ) und (c) in den Punkten, welche der zusammenfallenden Erzeugungslinie angehören, unter gleichem Winkel gegen diese Erzeugungslinie geneigt, so rollen die Flächen bloß aufeinander und es ist das Gleiten ausgeschlossen, da die Zentralpunkte von selbst zusammentreten. Die Flächen (γ) und (c) müssen entweder beide windschief oder beide abwickelbar sein; eine windschiefe und eine abwickelbare Fläche können nicht aufeinander gleiten und rollen. Auch können nicht alle abwickelbaren Flächen aufeinander rollen und gleiten; so kann dies mit einer Kegelfläche und einer Zylinderfläche nicht der Fall sein. Dagegen können Zylinderflächen auf mannigfache Weise aufeinander rollen und gleiten. Bewegt sich das System einer Ebene parallel, so sind die Flächen (γ) und (c) Zylinderflächen, dreht es sich um einen Punkt, so sind sie Kegelflächen, wenn dieser im Endlichen liegt, und Zylinderflächen, wenn er ins Unendliche rückt. Im ersten Falle findet bloß Rollen statt, im zweiten kann Rollen und Gleiten miteinander verbunden sein.


Literatur: Resal, Traité de cinématique pure, Paris 1862, S 80, 119 ff.; Bour, Cours de mécanique et machines, Paris 1865, Cinématique, S. 133 – 140; Schell, Theorie der Bewegung und der Kräfte, 2. Aufl., Leipzig 1879, Bd. 1, S. 220 u. 289; Appell, Traité de mécanique rationnelle, Paris 1893, Teil 1, S. 66; Königs, Leçons de cinématique, Paris 1897, Kap. VI u. IX.

(† Schell) Finsterwalder.

Quelle:
Lueger, Otto: Lexikon der gesamten Technik und ihrer Hilfswissenschaften, Bd. 7 Stuttgart, Leipzig 1909., S. 501-502.
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