Bedingte Verurteilung

[545] Bedingte Verurteilung (richtiger Aussetzung des Strafvollzugs, Verurteilung mit bedingtem Strafvollzug, Condamnation conditionnelle, Sursis à l'exécution, Sospensione della pena), eine in neuester Zeit empfohlene, alter deutscher Rechtsanschauung entsprechende Einrichtung, die dahin geht, daß die Strafgerichte bei der Verurteilung noch unbestrafter Personen zu geringern Freiheitsstrafen im Urteil bestimmen können, daß die Strafe vorläufig unvollstreckt bleibe und ganz erlassen werde, sofern nicht der Verurteilte innerhalb bestimmter Zeit (Bewährungsfrist) wegen einer neuen strafbaren Handlung Verurteilung erleidet, in welchem Fall ihn die alte zugleich mit der neuen Strafe trifft. Die Rechtfertigung dieses Vorschlags liegt in der Erkenntnis der Mangelhaftigkeit unsrer kurzzeitigen Freiheitsstrafen, die den bereits Verwahrlosten nicht bessern, den noch Unverdorbenen leicht verschlechtern; es soll für diese Ersatz einerseits durch schärfere Strafen (Zwangsarbeit, Freiheitsstrafe mit schärfenden Zusätzen etc.), anderseits durch eine Maßregel geschaffen werden, durch welche die mit der Einsperrung verbundenen schädlichen Folgen (Ansteckung durch sittlich schlechte Elemente, Verlust von Ehre und Berufsstellung) womöglich erspart bleiben. Der Grundgedanke der Einrichtung ist der einer Verbindung von strafrechtlicher Repression und Prävention, indem für einen Teil der Delinquenten schon die bloße Verurteilung eine oft empfindliche Strafe bildet, anderseits durch die bedingte Androhung nachträglicher Strafvollstreckung noch ein besonderes Motiv zur Vermeidung strafbarer Handlungen gesetzt werden soll. Das Vorbild für die Einrichtung der bedingten Verurteilung ist das englisch-amerikanische System des Stellens auf Probe (probation system). Es besteht darin, daß das Gericht bei geringern Vergehen und bei Übertretungen den für besserungsfähig erachteten Delinquenten zunächst auf freien Fuß setzen, aber auf bestimmte Frist der Aussicht eines besondern Überwachungsbeamten (probation officer) unterstellen kann, der sich des Prüflings anzunehmen, für sein Fortkommen zu sorgen, ihn aber auch im Falle schlechter Führung in Hast zu nehmen und dem Gericht zur Entgegennahme des ausgesetzten Strafurteils vorzuführen hat. Das englische Gesetz hat an Stelle des probation of ficer die Auferlegung der Verpflichtung gesetzt, während der vom Gerichtshof anzuordnenden Zeit auf Vorladung vor diesem zur Entgegennahme des Urteils zu erscheinen, unterdes aber ein gutes Betragen zu beobachten.

Die (vom probation system nicht unwesentlich verschiedene) bloße Aussetzung des Strafvollzugs im oben angegebenen Sinn ist zuerst in Belgien geltendes Recht geworden, wo bei einer Verurteilung, falls die zu verbüßende Gefängnisstrafe 6 Monate nicht übersteigt und der Verurteilte nicht schon früher verurteilt wurde, angeordnet werden kann, daß die Ausführung des Urteils auf eine 5 Jahre nicht übersteigende Frist verschoben werde. Erleidet der Verurteilte innerhalb dieser Frist eine weitere Verurteilung, so kommt die erstere Strafe neben der neuen zur Vollstreckung; andernfalls gilt die Verurteilung als nicht vorgekommen (non avenue). Viel weiter noch geht das französische Gesetz vom 27. März 1891, das möglichst strenge Rückfallsschärfung, daneben aber möglichst milde Behandlung der erstmaligen Gesetzesübertreter anordnet. Diesen gegenüber läßt es den sursis à l'exécution nicht nur bei Verurteilung zu Gefängnisstrafe in jeder Höhe, sondern auch bei Geldstrafe zu. Die Bewährungsfrist beträgt in allen Fällen 5 Jahre. Die Verurteilung wird in dem casier judiciaire (s. Strafregister) als ausgesetzt eingetragen, nach Ablauf der Bewährungsfrist aber in die an Parteien ausgefertigten Abschriften nicht aufgenommen. Auch in den Kantonen Neuenburg, Genf, in Portugal und Norwegen ist die b. V. eingeführt. Die Einführung der bedingten Verurteilung in Österreich und in Ungarn kann als sicher betrachtet werden. In den deutschen Einzelstaaten ist sie als bedingte Begnadigung 1895 und 1896 im Verordnungswege zugelassen worden. Die von den Gegnern vorgebrachten Gründe (ungleichmäßige Handhabung durch die Gerichte, Eingriff in das Begnadigungsrecht der Krone, Anreizung zu strafbaren Handlungen einmal ist keinmal«j, Verbesserungsfähigkeit der kurzzeitigen Freiheitsstrafe, Nichtberücksichtigung des Verletzten) halten näherer Prüfung nicht stand. Ausschlaggebend ist der hohe kriminalpolitische Wert der Maßregel, in besonderer Berücksichtigung würdigen Fällen dem Gelegenheitsverbrecher die Möglichkeit zu geben, durch einwandfreies Verhalten den Strafvollzug abzuwenden.

Vgl. besonders die reiche Literatur in den »Blättern für Gefängniskunde«, Bd. 26, 1891, S. 185 ff.; Simonson, Für die b. V. (Berl. 1890); unter den Gegenschriften: Wach, Die Reform der Freiheitsstrafe (Leipz. 1890); Appelius, Dieb. V. (Kassel 1890); über das amerikanisch-englische probation system: Aschrott, Aus dem Strafen- und Gefängniswesen Nordamerikas (Hamb. 1889); Tallack, Penological and preventive principles (Lond. 1889); Mumm, Die Gefängnisstrafe und die b. V. im modernen Strafrecht (2. Ausg., Hamb. 1896); Bachem, B. V. oder bedingte Begnadigung? (Köln 1896); Brusa, Grazia o condanna condizionale (Rom 1901); Allfeld, Der bedingte Straferlaß (Leipz. 1901).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 2. Leipzig 1905, S. 545.
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