[81] Strafrecht (Kriminalrecht, früher auch »peinliches Recht«, lat. Jus poenale, franz. Droit criminel. engl. Criminal Law, ital. Diritto criminale) hat, wie der Begriff des Rechtes überhaupt, eine subjektive und eine objektive Bedeutung. Im subjektiven Sinne bedeutet S. die Befugnis, Strafe zu verhängen, das jus puniendi. Es unterscheidet sich von der an sich unbeschränkten Strafgewalt dadurch, daß es nach seinen Voraussetzungen wie nach seinem Inhalt rechtlich umgrenzt ist, daß also durch das Recht an einen bestimmten Tatbestand (das Verbrechen) eine bestimmte Rechtsfolge (die Strafe) geknüpft ist. Das S. in diesem Sinne steht an sich nur dem Staate zu; Einzelnen und Verbänden (dem Vater, dem Lehrherrn, der Kirche, Vereinen) nur, soweit es ihnen vom Staat eingeräumt ist. In der Notwendigkeit der Strafe für die Aufrechthaltung der Rechtsordnung liegt die Rechtfertigung (der »Rechtsgrund«) des staatlichen Strafrechts; eine weitere Begründung ist juristisch weder möglich noch erforderlich: denn sie würde zu einer philosophischen Erörterung über die Existenzberechtigung der Rechtsordnung selbst führen. Der Streit der sogen. Strafrechtstheorien (s. d.) ist mithin ein völlig müßiger. Im objektiven Sinn ist S. der Inbegriff der Rechtsnormen über Verbrechen und deren Bestrafung. Das S. im objektiven Sinn enthält die Grundsätze, die der Staat bei der Ausübung seines Rechtes, zu strafen (S. im subjektiven Sinne), zur Anwendung zu bringen hat. Gegenwärtig haben fast alle zivilisierten Staaten umfassende strafrechtliche Kodifikationen aus- und durchgeführt, deren Ergebnis sich in einem einheitlichen Strafgesetzbuch (s. d.) darstellt. Daneben enthalten aber Spezialgesetze (Nebengesetze) noch besondere Strafvorschriften, und so entsteht der Gegensatz zwischen allgemeinem und besonderm S. in diesem Sinne. Das S. ist ein Teil des öffentlichen Rechtes, und zwar gehören, um die Strafgewalt des Staates wirksam werden zu lassen, drei Materien des öffentlichen Rechtes zusammen: das S. enthält die Strafgebote und -Verbote der Staatsgewalt, die Strafgerichtsverfassung schafft die staatlichen Organe für ihre Anwendung (vgl. Gerichtsverfassung), und der Strafprozeß (s. d.) regelt ihre Tätigkeit. Strafprozeß und Strafgerichtsverfassung werden wohl auch unter der Bezeichnung »formelles S.« zusammengefaßt, indem man alsdann das eigentliche S. als »materielles S.« bezeichnet.
In der ältesten, vorstaatlichen Geschichte der Kulturvölker stoßen wir auf zwei Urformen der Strafe: die von Stamm zu Stamm, also gegen Stammesfremde, geübte Blutrache (s. d.) einerseits und die Friedloslegung, d. h. die Ausstoßung des Stammesgenossen aus dem Friedensverband, anderseits. Mit der Entwickelung des über den Stammesverbänden auf territorialer Grundlage sich erhebenden Staates erfährt jedoch auch die Strafe eine tiefgreifende Umgestaltung. Auf verschiedenen Stufen tritt uns in geschichtlicher Zeit das S. der einzelnen Kulturvölker entgegen. Das S. der Römer zeigt fast völlig moderne Gestalt. Aber auch die jüngste Entwickelung des römischen Strafrechts zeigt nirgends jene hohe technische Vollendung, die wir an dem Privatrechte der Römer bewundern. Vgl. Mommsen, Römisches S. (Leipz. 1899).
In den Volksrechten der deutschen Stämme herrscht das Kompositionensystem (s. Compositio)[81] vor, während die nordgermanischen Rechte uns die älteste Entwickelungsstufe des Strafrechts vor Augen führen. Erst allmählich entwickelt sich auf deutschem Boden die staatliche Strafe; früh schon in der fränkischen Monarchie und dann später wieder mit dem Aufblühen der Städte und dem Erstarken der Landesgewalten. Merkwürdig genug gelangte Deutschland 1532 unter Karl V. zu einem einheitlichen Straf- und Strafprozeßgesetzbuch (Constitutio Criminalis Carolina = C. C. C.), das unter den Denkmälern der deutschen Rechtsgesetzgebung früherer Jahrhunderte unzweifelhaft den hervorragendsten Platz verdient (s. Halsgerichtsordnung). Aber auch dieses wurde mehr und mehr durch die Partikularstrafgesetzbücher aus den einzelnen Ländern verdrängt, und so entstand der Unterschied zwischen gemeinem und partikulärem deutschen S. Dem 18. Jahrh. gehören das Josephinische Gesetzbuch von 1787 und das Allgemeine preußische Landrecht von 1794 an. Von weitreichendem Einfluß ward der französische Code pénal von 1810, der in Frankreich noch gegenwärtig, wennschon mannigfach modifiziert, in Gültigkeit ist. Verhältnismäßig minder bemerkbar war dieser Einfluß in den vor 1848 entstandenen deutschen Strafgesetzbüchern, unter denen das bayrische von 1813, dessen Urheber Feuerbach war, hervorragt und das braun schweigische von 1840 und badische von 1845 besonders erwähnenswert sind (außerdem: Königreich Sachsen 1838, Hannover 1840 und Hessen-Darmstadt 1841). Dagegen war nach 1848 der Einfluß des französischen Rechtes dadurch gesteigert, daß man in der Eile sich zur Annahme des französischen Strafprozeßmusters bestimmen ließ. Kein Gesetzbuch hat sich jedoch dem Code pénal in seiner Technik so eng angeschlossen wie das preußische vom 14. April 1851, das nach 1866 und 1867 auch in den neueinverleibten Landesteilen zur Geltung gelangte. Der Periode von 184870 gehören außerdem folgende Strafgesetzbücher an. Nassau 1849, Thüringen (nebst Anhalt, aber ohne Altenburg) 1850, Oldenburg 1858, Bayern 1861, Lübeck 1863, Hamburg 1869. In einigen wenigen Ländern (Mecklenburg, Bremen, Schaumburg-Lippe, Kurhessen) hatte sich das alte gemeine Recht im Gerichtsgebrauch erhalten. Schon 1848 erkannte man allgemein das Willkürliche der strafgesetzlichen Zersplitterung in Deutschland; auch der erste deutsche Juristentag in Berlin (1860) erklärte auf v. Kräwels Antrag die Strafrechtseinheit für notwendig. In die norddeutsche Bundesverfassung ging dieser nationale Wunsch als Verfassungsartikel über. Auf der äußerlichen Grundlage des preußischen Strafgesetzbuches von 1851 ruhend, entstand alsdann das norddeutsche Strafgesetzbuch vom 31. Mai 1870, das demnächst nach Begründung des Kaisertums in veränderter Redaktion als deutsches Reichsstrafgesetzbuch vom 15. Mai 1871 noch einmal publiziert ist und seit 1. Jan. 1872 in ganz Deutsch. and (bezüglich der Kolonien und Schutzgebiete s. Kolonialrecht, S. 289) gilt.
Nicht alles S. ist für Deutschland einheitlich geordnet. Neben dem Reichsstrafrecht besteht ein Landesstrafrecht (s. d.) für diejenigen Materien, die von Reichs wegen nicht geordnet wurden oder der Gesetzgebung der einzelnen Staaten ausdrücklich überlassen blieben. Im großen und ganzen trägt das Reichsstrafgesetzbuch den Grundzug der Milde, die hauptsächlichsten Mängel des preußischen Strafgesetzbuches sind beseitigt. Solange jedoch das Strafvollzugsgesetz fehlt, bleibt die strafrechtliche Einheit unvollständig Einzelnen fühlbaren Mißgriffen des Strafgesetzbuches hat die Strafrechtsnovelle vom 26. Febr. 1876 abgeholfen. Ein Militärstrafgesetzbuch ist 20. Juni 1872 für das Deutsche Reich erlassen. Zahlreiche Einzelgesetze (gegen den Wucher, die mißbräuchliche Verwendung von Sprengstoffen, den Verrat militärischer Geheimnisse, das Unlautere Wettbewerbsgesetz etc.) haben den Kreis der strafbaren Handlungen wesentlich erweitert. Die insbes. von der internationalen Kriminalistischen Vereinigung (s. d.) angestrebte gründliche Umgestaltung der deutschen Strafgesetzgebung hat nun endlich durch die Vorarbeiten eines unter Vermittelung des Reichsjustizamtes zusammengetretenen freien wissenschaftlichen Komitees greifbare Gestalt angenommen. Dieses Komitee, dem leider fast nur Universitätslehrer angehören, hat sämtliche Materien unter sich verteilt und behandelt den Stoff unter Berücksichtigung der ausländischen Gesetzgebung. Diese rechtsvergleichende Behandlung ist zweifelsohne von hervorragendem Nutzen, wenn dabei auch mit Vorsicht verfahren werden muß. Im Anschluß an die Veröffentlichungen dieser Kommission, die als »Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts« in neun Bänden erscheinen, wird sofort nach Ausgabe eines Bandes im Reichsjustizamt eine Prüfung des darin enthaltenen Materials und der gemachten Vorschläge vorgenommen und ein Entwurf der betreffenden Paragraphen ausgearbeitet. Auf diese Weise ist zu hoffen, daß bald nach dem Erscheinen des letzten Bandes das Reichsjustizamt mit einem vollständigen Entwurf zu einem neuen Strafrecht hervortreten wird. Die übrigen europäischen Staaten besitzen, mit Ausnahme Englands (hier gelten neben dem common law zahlreiche strafrechtliche Statuten), mehr oder weniger moderne Strafgesetzbücher. Das veraltetste ist das österreichische vom 27. Mai 1852, das noch durchaus das Gepräge des Josephinischen Zeitalters aufweist. Eine vollständige Darstellung der verschiedenen Strafrechte bielet die von v. Liszt herausgegebene »Strafgesetzgebung der Gegenwart« (Berl. 1894 ff.). Unter den neuern Gesetzbüchern sind hervorzuheben: das ungarische von 1878, das niederländische von 1881, das italienische von 1889, das russische von 1903 und das norwegische von 1905. Von den Entwürfen sind neben den österreichischen besonders beachtenswert der Schweizer Entwurf (von Stooß), von denen letzterer besonders eingehend den modernen kriminalpolitischen Forderungen Rechnung trägt. Vgl. auch Strafgesetzgebung.
Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrh. ist der Satz zur allgemeinen Anerkennung gelangt, daß nur die im Gesetz ausdrücklich für strafbar erklärten Handlungen bestraft und zwar nur mit der im Gesetz bestimmten Strafe belegt werden dürfen: Nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege. Damit ist zunächst das geschriebene Recht zur ausschließlichen Quelle der Strafdrohungen gemacht. Aber auch dieses nur als Gesetz im verfassungsmäßigen Sinne, so daß durch Verordnung Strafdrohungen nur insoweit aufgestellt werden dürfen, als das Gesetz dies ausdrücklich zuläßt. Das Geltungsgebiet der Strafgesetze ist aber beschränkt. Die wesentlichen Schranken, die der Betätigung der Strafgesetzgebung gegenwärtig auf Grundlage allgemein wissenschaftlicher Erkenntnis gezogen werden, sind folgende: 1) Zeitliche, insofern als ein neues Strafgesetz keine rückwirkende Kraft haben darf in Beziehung auf die früher vor seiner Geltung begangenen, straflos oder minder strafbar gewesenen Handlungen. 2) Örtliche Grenzen.[82] Der Wille des Strafgesetzgebers ist nur innerhalb des von ihm beherrschten Staatsgebietes verpflichtend; niemand hat das Recht, Ausländern im Ausland bindende Befehle zu erteilen: das Gesetz ist territorial. Von diesem Grundsatz gibt es indessen Ausnahmen, die sich einerseits aus dem praktischen Bedürfnis eines wirksamen Rechtsschutzes, anderseits aus dem mangelhaften Zustand des Völkerrechts ergeben. Jeder Staat bestraft seine Untertanen heutzutage auch wegen gewisser im Ausland begangener Verbrechen, und vielfach werden auch Ausländer wegen einzelner im Ausland begangener Missetaten schwerster Art (z. B. Hochverrat, Münzverbrechen) einer Ahndung unterworfen. Die Begrenzung dieser Strafgewalt gegenüber dem Ausland ist jedoch noch heute eine der schwierigsten und streitigsten Angelegenheiten der Wissenschaft (vgl. Internationales Recht).
1) Das Verbrechen ist, wie das privatrechtliche Delikt, Unrecht, d. h. eine schuldhafte, rechtswidrige Handlung. Es muß also a) Handlung sein, d. h. eine äußere Betätigung des Willens; Gedanken und Wünsche bleiben straffrei. Die Willensbetätigung ist meist ein Tun, d. h. die Bewirkung einer Veränderung in der Außenwelt. Wann diese, der Erfolg, durch die Willensbetätigung bewirkt, verursacht ist, wann also der erforderliche Kausalzusammenhang zwischen dem Verhalten des Angeklagten und dem eingetretenen Erfolg besteht, wann nicht, kann unter Umständen sehr schwer zu entscheiden sein (Beispiel: A. verwundet den B. in Tötungsabsicht; die Wunde ist an sich leicht; B. stirbt infolge schlechter ärztlicher Behandlung: ist A. Mörder?). Dem Tun steht das Unterlassen gleich, wenn eine Rechtspflicht zum Tun gegeben ist (Tötung der Neugebornen durch Unterlassung der Ernährung). Vgl. Unterlassungsdelikt. b) Das Verbrechen ist eine rechtswidrige Handlung, d. h. soweit nicht bloße Polizeiübertretungen (s. d.) in Frage stehen, die Verletzung oder doch die Gefährdung eines rechtlich anerkannten Interesses (des Lebens, der Freiheit, des Vermögens etc.). Aus besondern Gründen (Notwehr, s. d.; Notstand, s. d.) kann die Verletzung fremder Rechte erlaubt oder geboten sein: dann fällt die Rechtswidrigkeit fort und mit ihr das Verbrechen. c) Das Verbrechen ist endlich schuldhafte Handlung. Das setzt ein Doppeltes voraus: die Zurechnungsfähigkeit (s. d.) des Täters und die Zurechenbarkeit des Erfolgs. Der Täter ist zurechnungsfähig, wenn er erwachsen und im Vollbesitz der geistigen Fähigkeiten ist. Der Erfolg ist zurechenbar, wenn ihn der Täter vorausgesehen hat, oder wenn er ihn hätte voraussehen können; ersteres ist der Fall des Vorsatzes (s. Dolus), letzteres der der Fahrlässigkeit (s. d.). Nach der herrschenden Ansicht ist dagegen die Strafbarkeit nicht bedingt durch das Bewußtsein des Täters von der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens (s. Irrtum, S. 35).
2) Das Verbrechen unterscheidet sich von dem privatrechtlichen Delikt nur dadurch, daß es unter Strafe gestellt ist. Die Abgrenzung des kriminellen Unrechts von dem bürgerlichen ist also keine begriffliche, sondern eine rein positiv rechtliche. Diejenigen Unrechtsformen, oie dem Gesetzgeber als die gefährlichsten erscheinen, hebt er durch seine Strafdrohungen besonders hervor; ihnen gegenüber verwendet er die schwere Waffe der kriminellen Strafe. Vielfach aber macht er die Verfolgung und Bestrafung dieser Handlungen noch von weitern Voraussetzungen abhänig; so insbes. von dem Antrag des Verletzten (s. Antragsdelikt).
3) Das Verbrechen tritt uns in verschiedener äußerer Gestalt entgegen. a) Es kann vollendet oder versucht sein. Ersteres dann, wenn der vom Gesetz geforderte Erfolg eingetreten ist; letzteres dann, wenn die auf den Erfolg gerichtete Handlung erfolglos verlaufen ist (s. Versuch eines Verbrechens). b) Das Verbrechen kann entweder von einem Täter begangen sein, oder es können an ihm neben dem Täter mehrere Personen als Teilnehmer (Mittäter, Anstifter, Gehilfen) beteiligt sein (s. Teilnahme). c) Es kann ein einziges Verbrechen oder aber es können deren mehrere, von demselben Täter begangen, zur Aburteilung stehen. Im letztern Falle spricht man von einer Konkurrenz der Verbrechen (s. d.).
1) An den Tatbestand des Verbrechens knüpft das Gesetz den Eintritt der Strafe, d. h. des gegen den Verbrecher wegen des Verbrechens zu verhängenden Übels. Die Strafe ist nicht die einzige Rechtsfolge des Verbrechens. Aus diesem erwächst ja auch, nach den Grundsätzen des Privatrechts, dem Verletzten der Anspruch auf Ersatz des zugefügten Schadens, und es ist nicht ausgeschlossen, daß Voraussetzungen und Inhalt dieses Anspruchs in dem Strafgesetzbuch geregelt werden, wie das im geltenden Recht hinsichtlich der Buße (s. d.) geschehen ist. Ebenso können sich polizeiliche Maßregeln verschiedener Art, insbes. auch die Einziehung (s. d.) bestimmter Gegenstände (instrumenta sceleris, scelere producta), an das Verbrechen knüpfen. Fiskalische Interessen führen wohl auch, so im Steuerrecht, dazu, dritte, unschuldige Personen für die von dem Täter verwirkte Geldstrafe haftbar zu machen (»subsidiäre Haftung Dritter«). Das Wesen der Strafe, als besonderer öffentlich-rechtlicher Rechtsfolge des Unrechts, liegt in ihrer Aufgabe: durch Einwirkung auf den Verbrecher, also durch dessen Abschreckung, Besserung oder Unschädlichmachung (s. Strafrechtstheorien), die Rechtsordnung zu schützen.
2) Das moderne S. kennt keine absolut unbestimmten Strafen (die sogen. Unbestimmten Strafurteile [s. d.] beruhen auf einem ganz andern Grundgedanken). Die strafende Reaktion des Staates ist nach Inhalt und Umfang bestimmt. Das Gesetz stellt die zulässigen Strafarten (oder Strafmittel) auf, deren Gesamtheit das Strafensystem bildet. Das heutige Strafensystem umfaßt Todesstrafe, Freiheits- und Vermögensstrafen. Die früher üblichen qualifizierten Todesstrafen sind ebenso wie die verstümmelnden und die in körperlicher Züchtigung bestehenden Leibesstrafen, wenigstens in allen zivlisierten Ländern, abgeschafft (s. Prügelstrafe). Ehrenstrafen (s. d.) kommen nach Abschaffung gewisser beschimpfender Strafarten. wie z. B. der Prangerstrafe, nur noch als Nebenstrafen, d. h. als die Folgen anderweiter, in erster Linie erkannter Strafen, vor. Das Strafensystem des deutschen Reichsstrafgesetzbuches (§ 13 ff.) insbes. ist folgendes: A. Hauptstrafen: 1) Die mittels Enthauptung zu vollstreckende Todesstrafe (s. d.). 2) Freiheitsstrafen (vgl. Gefängniswesen): a) Zuchthausstrafe, entweder lebenslänglich oder zeitig, im Mindestbetrag von einem und im Höchstbetrag von 15 Jahren. Die dazu Verurteilten sind zu den in der Strafanstalt eingeführten, nach Befinden auch zu öffentlichen Arbeiten außerhalb der Strafanstalt anzuhalten. Die Zuchthausstrafe zieht die dauernde Unfähigkeit zu öffentlichen Ämtern, zum Dienst im Heer und in der Marine nach sich. b) Gefängnisstrafe (Höchstbetrag 5 Jahre, im Fall einer Konkurrenz mehrerer strafbarer Handlungen 10[83] Jahre; Mindestbetrag ein Tag). Die dazu Verurteilten können in der Gefangenanstalt auf eine ihren Fähigkeiten und Verhältnissen angemessene Weise, außerhalb der Anstalt jedoch nur mit ihrer Zustimmung beschäftigt werden. Auf ihr Verlangen sind die Gefängnissträflinge in angemessener Weise zu beschäftigen. c) Festungshaft, lebenslänglich oder zeitig und zwar im Mindestbetrag von einem Tag, im Höchstbetrag von 15 Jahren. Dieselbe besteht lediglich in Freiheitsentziehung mit Beaufsichtigung der Beschäftigung und Lebensweise der Gefangenen; sie wird in Festungen oder in andern dazu bestimmten Räumen vollzogen (sogen. Custodia honesta, Ehrenhaft). Dabei wird achtmonatige Zuchthausstrafe einer einjährigen Gefängnisstrafe, achtmonatige Gefängnisstrafe einer einjährigen Festungshaft gleich geachtet. d) Hast, einfache Freiheitsentziehung im Mindestbetrag von einem Tag, im Höchstbetrag von 6 Wochen, jedoch im Fall einer Konkurrenz von 3 Monaten. 3) Geldstrafe (s. d.), deren Mindestbetrag bei Verbrechen und Vergehen auf 3 Mk., bei Übertretungen auf 1 Mk. fixiert ist. 4) Verweis (s. d.), der ausnahmsweise bei jugendlichen Personen unter 18 Jahren und nur bei besonders leichten Vergehen und Übertretungen zulässig ist. Die Deportation (s. d.) ist dem Strafsystem des deutschen Strafgesetzbuches unbekannt, jedoch wird mit Unrecht geltend gemacht, daß zum mindesten bei längerer Zuchthausstrafe dem Verbrecher die Wahl zwischen Strafverschickung u. Zuchthaus gelassen werden sollte. Im J. 1907 hat sich ein Verein »Deportationsverband« gegründet, der für Einführung dieser fakultativen Strafverschickung eintritt. B. Nebenstrafen: 1) Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte (s. d.); 2) Polizeiaufsicht (s. d.); 3) Ausweisung (s. d.) von Ausländern; 4) Überweisung an die Landespolizeibehörde (s. Arbeitshäuser); 5) Einziehung oder Konfiskation von Verbrechensgegenständen. Das österreichische Strafgesetz kennt für Verbrechen: Todesstrafe (mit dem Strange vollzogen), Kerkerstrafe, dem Grade nach »schwerer Kerker« oder (einfacher) »Kerker«, der Dauer nach auf Lebenszeit oder auf eine bestimmte Zeit (Maximum 20 Jahre, Minimum 6 Monate); für Vergehen und Übertretungen: Arrest des ersten und zweiten Grades sowie Hausarrest (längste Dauer 6 Monate, kürzeste 24 Stunden), Geldstrafen, Verfall von Waren, Feilschaften oder Geräten, Verlust von Rechten und Befugnissen und Abschaffung (als selbständige Strafen); Kerker- und Arreststrafe können verschärft werden durch Fasten, Anweisung harten Lagers, Einzelhaft, einsame Absperrung in dunkler Zelle, nur erstere durch Landesverweisung. Außerdem treten mit jeder Verurteilung wegen eines Verbrechens sowie insbes. wegen Verurteilung zur Todes- oder schweren Kerkerstrafe bestimmte gesetzliche Wirkungen (Verlust von Ehrenrechten, akademischen Graden, Anstellungen, des Adels, der Handlungsfähigkeit u. dgl.) ein (§ 1226, 240262). Gegen Militärpersonen kommen nach dem deutschen Militärstrafgesetzbuch (§ 14 ff.) folgende Strafen (Militärstrafen) zur Anwendung: Die Todesstrafe, die im Felde stets, außerdem nur dann, wenn sie wegen eines militärischen Verbrechens erkannt worden, durch Erschießen zu vollstrecken ist; als Freiheitsstrafen Arrest (s. d.), Gefängnis und Festungshaft. Ist Zuchthausstrafe verwirkt, oder wird auf Entfernung aus dem Heer oder der Marine oder auf Dienstentlassung erkannt, oder wird das militärische Dienstverhältnis aus einem andern Grund aufgelöst, so geht die Strafvollstreckung auf die bürgerlichen Behörden über. Wo die allgemeinen Strafgesetze Geld- und Freiheitsstrafe wahlweise androhen, darf, wenn durch die strafbare Handlung zugleich eine militärische Dienstpflicht verletzt worden ist, auf Geldstrafe nicht erkannt werden. Endlich kommen als besondere Ehrenstrafen gegen Militärpersonen vor: Entfernung aus dem Heer oder der Marine, gegen Offiziere Dienstentlassung, gegen Unteroffiziere Degradation und gegen Unteroffiziere und Gemeine Versetzung in die zweite Klasse des Soldatenstandes.
3) Die moderne Strafgesetzgebung verwendet das Strafensystem, von Ausnahmen abgesehen, zur Ausstellung relativ bestimmter Strafdrohungen. Sie bedroht z. B. den Diebstahl nicht mit 1 oder mit 2 Jahren Gefängnis, sondern mit Gefängnis von 1 Tag bis zu 5 Jahren. Innerhalb dieses durch ein Mindest- und ein Höchstmaß abgegrenzten Strafrahmens hat der Richter die Strafzumessung für den Einzelfall vorzunehmen. Die Einheiten, mit denen er dabei rechnen kann, nennt man Strafgrößen. Die Einheit beträgt bei Gefängnis einen Tag (bei Zuchthaus einen Monat). Der Richter kann also gegen Diebstahl erkennen auf 1 Tag. 2, 3, 4, 5, 6,... 365 Tage; auf 1 Jahr 1, 2, 3, 4... Tage etc. Zumeist geht der Gesetzgeber aber noch weiter und gestattet dem Richter die Wahl zwischen mehreren (wieder durch Höchst- und Mindestmaß begrenzten) Strafarten; z. B. zwischen Freiheitsstrafe und Geldstrafe, zwischen Gefängnis oder Zuchthaus.
Bei der Strafzumessung hat der Richter die Schwere der begangenen Tat in Betracht zu ziehen und so die Gleichung zwischen Verbrechen und Strafe (das Strafmaß) zu finden. Die objektiven und subjektiven Gründe, die ihn dabei zu leiten haben, nennt man Strafmehrungs- (Straferhöhungs-) und Strafminderungsgründe. Ein Überschreiten des Mindest- wie des Höchstmaßes ist dem Richter nur auf Grund gesetzlicher Bestimmung gestattet; man spricht dann von Strafänderung, die entweder als Strafschärfung oder als Strafmilderung erscheint. Allgemeine, d. h. bei allen Verbrechen anwendbare Schärfungsgründe kennt das Reichsstrafgesetzbuch nicht; bei einzelnen Verbrechen wirkt schärfend der Rückfall (s. d.), die Gewerbs- oder Gewohnheitsmäßigkeit der Verübung, die Öffentlichkeit der Begehung etc. Allgemeine Milderungsgründe sind jugendliches Alter des Täters, Versuch gegenüber der Vollendung, Beihilfe gegenüber der Täterschaft. Als eine Erweiterung des Strafrahmens erscheint die Zulassung der vom Gesetzgeber nicht näher bezeichneten »mit dernden Umstände« (s. d.). Die tatsächliche oder rechtliche Unanwendbarkeit der vom Gesetz angedrohten Strafe führt zur Strafumwandlung; so ist die uneinbringliche Geldstrafe in Freiheitsstrafe nach einem bestimmten Maßstab umzuwandeln. Auch kann es dazu kommen, daß die erlittene Untersuchungshaft oder ein andres Übel auf die zu erkennende Strafe angerechnet wird. Besondere Grundsätze gelten für den Fall einer Konkurrenz der Verbrechen (s. d.). Von Strafzumessung kann dort keine Rede sein, wo das Gesetz absolut bestimmte Strafen androht. Das geschieht heute nur ganz ausnahmsweise; besonders bei Androhung der Todesstrafe. Ist der Angeklagte des Mordes schuldig gesprochen, so muß der Richter die Todesstrafe aussprechen.
4) Die Strafbarkeit einer Handlung kann wegfallen, der staatliche Strafanspruch getilgt werden durch nach begangener Tat eintretende Umstände. Man nennt sie Strafaufhebungsgründe (s. d.).[84]
[Literatur.] Unter den ältern Lehrbüchern des deutschen Strafrechts sind die Werke von Feuerbach, Grolman, Mittermaier, Wächter, Heffter und Abegg hervorzuheben. Neuere Lehrbücher von Berner (18. Aufl., Leipz. 1898), Hugo Meyer (6. Aufl. von Allfeld, das. 1907), v. Liszt (16. u. 17. Aufl., das. 1907), Finger (Berl. 1904, Bd. 1); Binding, Handbuch des Strafrechts (Leipz. 1885, Bd. 1). Kommentare des Reichsstrafgesetzbuchs von Oppenhoff (14. Aufl. von Delius, Berl. 1901), Olshausen (7. Aufl., das. 190406, 2 Bde.), R. Frank (5.7. Aufl., Tübing. 1907 ff.) u. a.; Grundrisse zu Vorlesungen von Binding (7. Aufl., das. 1907), Birkmeyer (6. Aufl., Münch. 1905), Beling (3. Aufl., Tübing. 1905); Lucas, Anleitung zur strafrechtlichen Praxis (2 Aufl., Berl. 190405, 2 Bde.) u. a. Für Österreich: Janka, Das österreichische S. (4. Aufl. von Kallina, Wien 1902); Herbst, Handbuch des allgemeinen österreichischen Strafrechts (7. Aufl., das. 188294, 2 Bde.); Finger, Kompendium (2. Aufl., Berl. 1902 ff.); Lammasch, Grundriß (3. Aufl., Leipz. 1906). Vgl. ferner: »Die Entscheidungen des deutschen Reichsgerichts in Strafsachen« (hrsg. von den Mitgliedern des Reichsgerichts, vom 19. Band ab auch von den Mitgliedern der Reichsanwaltschaft, Leipz.); Stenglein, Lexikon des deutschen Strafrechts (Berl 1900; Supplement von Galli, 1904); »Warneyers Jahrbuch der Entscheidungen. Strafrecht und Strafprozeß« (Leipz. 1907 ff.) und Sörgel, Jahrbuch des Strafrechts und Strafprozesses (Hannov. 1907 ff.). In Form von Rechtssätzen gibt seit 1907 eine fortlaufende Übersicht über die gesamte oberstrichterliche Rechtsprechung auf dem Gebiete des Strafrechts und Strafprozesses die Zeitschrift »Das Recht« (Hannover). Zeitschriften: »Der Gerichtssaal« (seit 1849, Stuttgart); »Archiv für S.« (1853 von Goltdammer als »Archiv für preußisches S.« begründet, Berl.); »Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft« (hrsg. von v. Liszt u. a., seit 1881, das.; die Redaktion gibt auch eine Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Übersetzung heraus); »Archiv für Kriminalanthropologie« (hrsg. von Groß, Leipz. 1898 ff.); »Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform« (hrsg. von Aschaffenburg, Heidelb. 1903 ff.); »Rivista penale di dottrina, legislazione e giurisprudenza« (seit 1874).
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