[20] Gleichnis (lat. Simile), eine poetische Ausdrucks- oder Darstellungsweise, die neben ein zu charakterisierendes Objekt, eine Eigenschaft, ein Geschehen etc. vergleichend ein andres stellt, das, einer andern Lebenssphäre angehörig, doch mit jenem ein charakteristisches Merkmal gemein hat, durch dessen Heranziehung die Bedeutung des unmittelbar gegebenen Lebensinhalts schärfer hervorgehoben wird (s. Ästhetische Apperzeptionsformen). Zugleich muß die Übereinstimmung oder der Vergleichspunkt (das tertium comparationis) natürlich und ungesucht in die Augen springen. Da nun die Übereinstimmung niemals vollständig sein wird, so kann man von allen Gleichnissen sagen, daß sie hinken (»omne simile claudicat«). Das G. kann sich auf einzelne Vorstellungen (Gegenstände, Eigenschaften, Zustände, Geschehnisse) oder auf größere Vorstellungskomplexe, ganze Vorstellungsreihen erstrecken; das letztere ist z. B. für die Homerischen Epen charakteristisch. Die Grenze von G. und Metapher (s. d.) ist fließend: ein kurzes G. ist der Metapher oft zum Verwechseln ähnlich, doch ist es bei dieser die Regel, daß die zur Vergleichung herangezogene Analogievorstellung unmittelbar als Stellvertreterin der eigentlichen Vorstellung auftritt, diese also gar nicht zum Ausdruck gelangt. Die Parabel unterscheidet sich von dem gewöhnlichen G. außer durch die größere Ausführlichkeit durch die didaktische Tendenz, die auch in der Fabel (s. d.) vorwaltet; doch während bei der Parabel die Anwendung der sittlichen Wahrheit auf einen einzelnen Fall bezweckt wird, dient die Fabel zur Verkörperung einer allgemeingültigen Wahrheit.
Die Gleichnisse Jesu sind meist echte Parabeln, z. T. Fabeln, einige wenige bloß Beispielerzählungen (Barmherziger Samariter, Pharisäer und Zöllner u.a.). Die seit alter Zeit in der Kirche übliche allegorische Deutung (Allegorien [s. d.] hat Jesus bloß nach dem Johannesevangelium gesprochen), die ganz fremdartige und dunkle Gedanken in die leichtverständlichen und schlichten Gleichnisreden Jesu eintrug, ist wissenschaftlich überwunden und wird nur noch in Predigten und in verschiedenem Sinne von Tolstoi, Kirchbach, Kalthoff u.a. zu Unrecht geübt. Seit ihrer Beseitigung ist es gelungen, die Gleichnisse Jesu in ihrer schlichten Kraft und Schönheit zu empfinden und durch klare Hervorhebung des einen Vergleichungspunktes scharf zu verstehen. Ästhetische und[20] sittliche Anstöße der alten Betrachtungsweise fallen dabei von selbst weg: Gott ist nicht wie ein schläfriger Nachbar (Lukas 11, 59), der Herr lobt den ungerechten Haushalter nicht in allem als Vorbild, sondern dort ist das anhaltende Bitten, hier die Klugheit das einzig Verglichene. Die Gleichnisse offenbaren uns die innersten Erlebnisse Jesu, seine Hoffnungen und Sorgen (Säemann, Saat), seine großen Entschlüsse (Perle, Schatz im Acker) und sein Leben mit Gott. Durch ihr frisches Lokalkolorit sind sie die besten Zeugen für die Echtheit der evangelischen Überlieferung. Vgl. Jülicher, Die Gleichnisse Jesu (Freiburg 1899, 2 Tle.; 1. Teil in 2. Aufl.); Weinel, Die Gleichnisse Jesu (Leipz. 1903); Bugge, Die Hauptparabeln Jesu (Gieß. 1903); Fiebig, Altjüdische Gleichnisse und die Gleichnisse Jesu (Tübing. 1904).