Hiātus

[309] Hiātus (lat., »Kluft«), in der Prosodie das Zusammentreffen zweier Vokale am Ende eines und am Anfang des nächsten Wortes. Ein solcher H. wurde von den Griechen und Römern als Mißklang empfunden und daher im Vers im allgemeinen gemieden und nur in ganz bestimmten Fällen zugelassen, am häufigsten im Hexameter. Beseitigt wurde der H. durch Verschmelzung der zusammenstoßenden Vokale (Elision und Krasis). Auch die griechischen Prosaschriftsteller meiden seit Isokrates tunlichst den H. in gewählter Rede. Überhaupt ist H. namentlich in der Poesie in den meisten Sprachen nur teilweise gestattet. Im Deutschen ist er nach vollem Vokal (z. B. in: wie oft, so alt etc.) unbedingt zulässig; anstößig dagegen, obwohl auch nicht immer gemieden, ist er, wenn das erste Wort mit unbetontem e auslautet (z. B. brachte ich, weine ich); aber auch hier macht es einen Unterschied aus, ob das unbetonte e zur Charakteristik der Flexionsform von Bedeutung ist oder nicht. Während z. B. das Präteritum in den Worten »lacht' er« mit dem Präsens in »lacht er« verwechselt werden kann, ist eine solche Möglichkeit bei »lach' ich«, »lach' er« etc. nicht gegeben. In solchen Fällen, wo das Prinzip der Deutlichkeit nicht für die Erhaltung des H. spricht, wird er nach unbetontem e von sorgfältigen Dichtern gemieden. Gar kein H. liegt aber vor, wenn zwischen das auslautende unbetonte e und den anlautenden Vokal des zweiten Wortes eine halblange oder lange Sprach- oder Verspause tritt, denn alsdann stoßen die beiden Vokale überhaupt nicht zusammen. – In der Prähistorie bezeichnet H. den zeitlichen und kulturlichen Zwischenraum zwischen der ältern und der jüngern Steinzeit. Er umfaßt zeitlich sicher sehr lange Zeiträume; auch technologisch sind die Unterschiede zwischen den beiden Steinzeitaltern so erheblich, daß man ohne die Einwirkung neuer Bevölkerungselemente das Erstehen der neolithischen Kultur nicht erklären zu können vermeint. Erst neuerdings glaubt man in Frankreich im Hügel von Campigny und in der Grotte von Mas d'Azil Übergangsgebilde gefunden zu haben, die einer mesolithischen (mittelsteinzeitlichen) Epoche anzugehören scheinen. Vgl. Salmon, Fouille d'un fond de cabane an Campigny (in der »Revue mensuelle de l'École d'Anthropologie«, Par. 1898); Piette, Vestiges de la période de transition (im »Bulletin de la Société d'Anthropologie de Paris«, 1895).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 9. Leipzig 1907, S. 309.
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