Chiliasmus

[411] Chiliasmus wird, nach dem Griechischen von chilias, 1000, die irrthümliche Meinung von einem zu erwartenden tausendjährigen Reiche der höchsten Glückseligkeit genannt, auf dessen Anfang die Juden mit dem Erscheinen ihres Messias hofften und dessen Herrlichkeit sie auf die abgeschmackteste, grobsinnlichste Weise sich ausmalten. Durch die zum Christenthum übertretenden Juden verbreitete sich der Chiliasmus auch unter den frühesten Christen, die jedoch den Beginn des tausendjährigen Reiches auf die Wiedererscheinung Christi auf Erden verlegten, wo nach Auferstehung der Todten alle Frommen zu unaussprechlichen Wonnen und zum Triumphe des christlichen Glaubens vereinigt werden würden. Den Grund zu diesem Glauben fanden seine, Chiliasten genannte Anhänger in der als Vorbild der Schicksale der Welt angesehenen Schöpfungsgeschichte, womit sie den vierten Vers des 90. Psalm in Verbindung brachten, wo es heißt: 1000 Jahre wären vor Gott wie ein Tag. Hieraus schlossen sie nämlich, daß 6000 Jahr den sechs Schöpfungstagen, die siebenten 1000 Jahre aber dem Sabbath entsprechen müßten, an dem der Herr ruhte und daß daher in denselben Christus wiederkehren, das tausendjährige Reich anheben und das ihnen zum Aufenthalt bestimmte neue Jerusalem sich in fabelhafter Herrlichkeit und Größe vom Himmel herabsenken werde. Allein schon im 3. Jahrh. widerlegten christliche Lehrer des Abend- und Morgenlandes und vorzüglich aus Alexandrien (s.d.) diese Irrthümer mit siegenden Gründen und bereits im 5. Jahrh. hingen nur wenige Schwärmer noch jenen Vorstellungen nach, welche mit andern jüdischen Fabeln von der Kirche verworfen wurden. Gleichwol fanden sich im J. 1000 eine Menge Leichtgläubige, welche den von Chiliasten verkündeten jüngsten Tag erwarteten; die Täuschung dieser, sowie ähnlicher Hoffnungen in den Zeiten der Kreuzzüge machte jedoch den Chiliasmus längere Zeit verschwinden und erst zur Zeit der Reformation, wo manche Schwärmer im Papst den Antichrist (s.d.) und in der Zerstörung seiner Gewalt den Anfang des tausendjährigen Reiches zu erkennen glaubten, gewann der Chiliasmus neues Leben, und fanatische Sekten, namentlich die Wiedertäufer, meinten später, die Herrlichkeit des tausendjährigen Reiches zu verwirklichen, indem sie alle bestehende Ordnung zu vernichten suchten. In Frankreich und England wurden durch Religions- und Bürgerkriege, in Deutschland durch die Drangsale des dreißigjährigen Krieges chiliastische Träumereien auch bei den Protestanten begünstigt, und es gaben sich ihnen, vorzüglich in Bezug auf Auslegung der Offenbarung Johannis, manche der gelehrtesten Theologen hin, wie z.B. der 1752 als Prälat und Consistorialrath verstorbene Joh. Albr. Bengel, welcher viele Jünger zählte und den Anfang der ersehnten Herrlichkeit für das I. 1836 berechnete. Lavater und Jung-Stilling (s.d.) übertrugen in ihrer poetischen Weise den Chiliasmus ins 19. Jahrh. und auch die Gegenwart hat Frömmler und Schwärmer aufzuweisen, welche in dem alten jüdischen Irrthume Trost und Erbauung zu finden glauben.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 411.
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