Chiliásmus

[31] Chiliásmus (griech.), der Glaube an ein künftiges tausendjähriges, mit Christi sichtbarer Wiederkunft anhebendes Gottesreich auf Erden. Der C. ist älter als die christliche Kirche, denn seine Wurzeln liegen im Judentum und in seinen sinnlichen Vorstellungen von einer irdischen Blütezeit des Reiches Gottes. Schon die Propheten hatten ein irdisches Reich des Messias verheißen, in dem das Glück der Nation sich auch durch äußern Wohlstand und Frieden der verklärten Natur kundgeben werde. Aus dieser prophetischen Perspektive griff das spätere Judentum mit Vorliebe die politische Seite heraus. Neben blutiger Rache an den Unterdrückern forderte man auch für die inzwischen verstorbenen Israeliten Anteil an dem Heil des Messiasreichs. So entstand der jüdische Volkstraum von einem theokratischen Weltreich, in dem unter der sichtbaren Herrschaft des Messias das aus der Zerstreuung gesammelte und vom Tod erweckte Israel nach Zerstörung der Weltreiche, im alleinigen Dienst Jahves, über die Heiden herrschen werde. Dieser chiliastische Volksglaube ist auch in die judenchristliche Zukunftshoffnung übergegangen. Die Offenbarung des Johannes lehrt (20,4), daß nach der Wiederkunft Christi seine standhaften Bekenner mit ihm auferstehen und 1000 Jahre herrschen werden. Der Bestimmung der Dauer liegt eine bereits den Juden geläufige Projektion der Schöpfungswoche in sechs oder sieben Jahrtausenden zu Grunde, so daß die 1000 Jahre der Herrschaft der Heiligen dem Sabbat entsprechen. Gleichfalls aus der Johanneischen Offenbarung (20,7ff.) stammt die Vorstellung, daß am Ende der 1000 Jahre der Satan wieder los werden und seine letzten Kräfte gegen das Gottesreich aufbieten werde; erst nach seiner Vernichtung beginnt dann die ewige Seligkeit, das reine Jenseits, »ein neuer Himmel und eine neue Erde«. In der Ausmalung der dieser letzten Katastrophe vorangehenden paradiesischen Glückseligkeit gab die urchristliche Phantastik der jüdischen nichts nach. Bei Papias von Hierapolis um die Mitte des 2. Jahrh. finden wir angebliche Aussprüche Jesu über die monströse Fruchtbarkeit der Natur im Tausendjährigen Reich. Justin der Märtyrer sieht im C. den Schlußstein der orthodoxen Lehre; der 190 schreibende Bischof Irenäus erweist Recht und Wahrheit des C. aus Schrift und Tradition, Tertullian aus der neuen Prophetie des Montanismus. Gerade diese Richtung aber führte durch ihre schwärmerische Übertreibung eine Ernüchterung innerhalb der Kirche herbei, und um 200 tritt in dem römischen Presbyter Cajus der erste Bekämpfer des C. auf. Mit noch größerm Erfolg trat Origenes von seinen spiritualistischen Voraussetzungen aus gegen die sinnliche Zukunftserwartung auf. Durch die seit Konstantin politisch veränderte Stellung der Kirche wurde die Niederlage des C. besiegelt. Sobald die siegreiche Kirche es sich auf dem Boden dieser Erde wohnlich gemacht hatte, machte sie sich mit dem Gedanken vertraut, das Tausendjährige Reich sei schon mit dem Christentum selbst gekommen, und Augustin erhob diese Auffassung zur herrschenden. Seitdem galt schlechtweg die Kirche als Reich Gottes und Erfüllung aller Weissagungen einer bessern Zukunft. Um so mehr gaben sich unter den mit der päpstlichen Hierarchie unzufriedenen Sekten, die durch Verfolgungen zu fanatischen Hoffnungen aufgeregt wurden, jeweilig auch chiliastische Anschauungen kund (s. Ewiges Evangelium). Zur Zeit der Reformation aber standen neue Propheten des Tausendjährigen Reiches auf, die durch radikale Wiedergeburt der verderbten Welt dem Kommen Christi die Bahn brechen wollten. Die Reformatoren selbst teilten zwar den Glauben an die Nähe des Weltendes, verwarfen jedoch in der Augsburgischen Konfession (Art. 17) die eigentlich chiliastischen Hoffnungen als jüdische Träumerei. Hauptherd des C. wurden dagegen die Sekten der reformierten Kirche in England, Holland und später besonders in Amerika. Auch die Theosophie Valentin Weigels (gest. 1588), Jakob Böhmes und der Rosenkreuzer nährte sich von chiliastischen Hoffnungen; gleichzeitig brachten die Böhmischen und Mährischen Brüder chiliastische Propheten hervor, deren Weissagungen Comenius, selbst Chiliast,[31] sammelte. Da Spener nicht unbedingt in das Verdammungsurteil der Orthodoxie über den 1692 als Chiliast abgesetzten Petersen einstimmte, kam er selbst in den Verdacht des C. Sicher ist, daß der Pietismus sich aufs neue mit großer Liebhaberei der Hoffnung auf Besserung der Zustände in der Christenheit, bald auch der Erklärung der Johanneischen Offenbarung als eines prophetischen Kompendiums der Kirchengeschichte annahm und auf diese Weise auch den C. wieder zu Ehren brachte, dem endlich J. A. Bengel (s.d.) das Bürgerrecht in der protestantischen Theologie eroberte. Dieser neuere C. betont übrigens im Gegensatze zum alten mehr den Begriff der Verklärung; namentlich brachte ihn der geistvolle Theosoph Ötinger in Verbindung mit seinem Thema von der Geistleiblichkeit. Die Irvingianer gründeten 1832 ihre apostolische Kirche auf das Feldgeschrei, daß das Reich der Herrlichkeit nahe sei; andre Schwärmer, besonders aus Württemberg, wanderten in ähnlichem Glauben nach dem Morgenland, und die Mormonen haben den Grund zum neuen Zion am Salzsee gelegt. Vgl. außer den Dogmengeschichten: Corrodi, Kritische Geschichte des C. (2. Aufl., Zürich 1794, 4 Bde.); Chiapelli, Le idee millenare dei Cristiani (Neap. 1888).

Quelle:
Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1906, S. 31-32.
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