Sekten

[158] Sekten werden alle diejenigen Gesellschaften genannt, welche die Verbindung mit einer der herrschenden Religionen oder Kirchen aufgehoben haben und innerhalb derselben ein eigenthümliches Religions-und Kirchenwesen bilden. Während der Sprachgebrauch nur die sich absondernden religiösen Gesellschaften mit dem Namen der Sekten bezeichnet, so ist für Vereine von philosophischer, wissenschaftlicher und künstlerischer Bedeutung der Ausdruck Schule, von politischer die Bezeichnung Partei gebräuchlich. Ist die Beschaffenheit einer zur öffentlichen Anerkennung gelangten Religionslehre eine solche, daß sie bei einem Theil ihrer Bekenner das ausreichende Ansehen verliert, und fühlen diese sich gedrungen, zu einem besondern Vereine mit einem abweichenden Religionsbekenntniß zusammenzutreten, so entsteht dadurch die Sekte. Doch ist es zugleich eine nicht vortheilhafte Nebenbedeutung des Wortes Sekte, daß, wie dieselben aus größern Religionsgesellschaften hervorgehen und in dieselben zurückfallen, so auch von dem Standpunkte dieser ihre Lehren als irrig, abgeschmackt und gottlos erscheinen, was aber keine Sekte von sich behauptet, indem vielmehr jede im Vergleich mit der ihr verwandten größern Religionsgesellschaft sich die vorzugsweise höhere Rechtgläubigkeit beimißt. Auch ist es gar wohl möglich, daß eine kleine religiöse Gesellschaft mehr Wahrheit auf ihrer Seite habe, als der größere Verein, von dem sie sich ausscheidet. Das Sektenwesen hat seinen Grund darin, daß der Mensch wie in Allem, so auch in der Religion mehr der freien eignen Überzeugung folgen, als die Wahrheit seines Glaubens von einer bestehenden Kirchenlehre abhängig machen will. Es würde nämlich keine Sekten geben, wenn eine bestehende Religion oder die Lehren einer Kirche aufhörten, ein Grund des Zweifels und des Widerspruchs für die einzelnen Bekenner derselben zu werden. Aber auch dadurch, daß dies unvermeidlich ist, wird das Entstehen der Sekten noch nicht gerechtfertigt, da selbst das nach einer Seite hin Zweifelhafte immer noch den höchsten Anspruch auf Wahrheit und allgemeine Geltung haben kann, und ein kirchlicher Verein von größerm Umfange gar nicht vorhanden sein könnte, wenn das Denken und Empfinden des Einzelnen den Maßstab für die Wahrheit einer Religion abgeben sollte. Der Sektengeist erscheint als eine Widersetzlichkeit und Empörung im Schoose der Kirche, deren Quellen dieselbe durch eine fortgesetzte Entwickelung und Fortbildung ihrer Lehren zu verstopfen hat. Wie hierin die protestantische Kirche aus dem Mangel einer selbständigen Verfassung die größte Nachsicht beweist und selbst den Unglauben in sich duldet, so verfährt dagegen die katholische Kirche gegen abtrünnige Glieder mit der größten Strenge und stößt dieselben als Ketzer aus der Kirchengemeinschaft, wenn sie auf eine hartnäckige Weise den Glauben zu verfälschen und den Irrthum in die Kirche einzuführen suchen. (S. Ketzer.) Nur in den Zeiten des gänzlichen Verfalls einer Kirche scheinen die Sekten ein heilsames und gegründetes Bestehen zu haben, indem sie dann mehr oder weniger der Anfangspunkt eines verbesserten Glaubens und Lebens in der Kirche werden. Der Sektenstolz ist die Folge der Überzeugung, welche eine Sekte von den Vorzügen ihrer höhern Rechtgläubigkeit hat, die sie vor andern Religionsgesellschaften sich beimißt, und derselbe wird um so größer, je mehr jene von diesen Anfeindungen und Verfolgungen zu dulden hat. Gehen die Anhänger einer Sekte geflissentlich darauf aus, ihre Meinungen weiter zu verbreiten, oder sucht Jemand sich einen Anhang seiner Meinung zu bilden, so wird er Sektirer genannt; daher Sektirerei das Bestreben ist, Trennungen in Sachen der Religion herbeizuführen.

Das Zeitalter, wo sich das Christenthum als eine neue Religion begründete, war zugleich das an Sekten am zahlreichste. Das Judenthum und Heidenthum, beide in ihrer volksthümlichen und höhern geistigen Gestalt, wurden in der Vermischung mit dem Christenthum hierzu die Hauptquelle. Lehrsätze aus dem Juden- und Heidenthum konnten sich dem Christenthum aber um so mehr verbinden, je mehr dieses noch im Entstehen und in der Entwickelung begriffen war. So waren die Nazaräer und Ebioniten (Arme, Dürftige) Judenchristen, welche an der jüdischen Werkheiligkeit und an der Befolgung des jüdischen Ceremonialgesetzes festhielten, erstere sogar im Umfange aller spätern Traditionen zur Bedingung für das christliche [158] Bekenntniß machten. Auch hielten die Ebioniten Christus für einen bloßen Menschen und den Sohn Joseph's. Sie erschienen schon in der ersten christlichen Gemeinde zu Jerusalem und verschwinden nach der Zerstörung desselben in 2. Jahrh. in Palästina. Indem Korinthus, ein judaisirender Christ in Kleinasien, am Ende des 1. Jahrh. die sinnlichen Messiashoffnungen der Juden auf Christus übertrug, wurde er der Urheber der Lehre von einem tausendjährigen Reiche oder des Chiliasmus (s.d.). Noch zahlreicher und mannichfaltiger waren die heidnisch-christlichen Sekten. Von ihnen nehmen die Nikolaiten, mit einem sinnbildlichen oder historischen Namen, die niedrigste Stufe ein. Vormals Heiden, setzten sie nach ihrem Übertritt zum Christenthum den heidnischen Wandel fort, indem sie die Opfermahlzeiten feierten und sich zügellosen Ausschweifungen überließen, was sie durch die geistige Erhebung des Christenthums über alles Leibliche zu beschönigen suchten. Den wichtigsten Einfluß auf die Bildung der christlichen Lehre erlangten die Gnostiker. So nennt man eine zahlreiche Familie von Sekten, deren Hauptsitz von der Mitte des 2. bis zum Ausgang des 4. Jahrh. Alexandrien und Syrien war und die aus der gemeinsamen Erkenntniß aller Religionen eine Endoffenbarung aller Dinge erzielten. Nach ihren mehr auf Dichtung, als auf Erfahrung und Wissenschaft gegründeten Religionssystemen hatte sich die Gottheit in einer Stufenreihe göttlicher Wesenheiten offenbart und der menschliche Geist selbst erschien als ein Ausfluß aus Gott. Wie er aber seines höhern Ursprungs unbewußt in den Fesseln des Körpers schmachtete, so erscheint Christus als vollkommener Geist und fodert durch seinen Scheintod zur Entbindung und Erlösung des Göttlichen auf. Da nämlich das Materielle den Gnostikern zugleich das Böse war, so erklärten sie alles Körperliche an Christus für Schein und Erscheinung des Geistes, sein Leben für eine fortgesetzte Theophania, Gotteserscheinung, was man unter dem Namen des Doketismus begreift und wovon sie selbst Doketen genannt werden. Hiernach wurde ihnen die Hauptquelle der Religion die geheimnißvolle Berührung des menschlichen und göttlichen Geistes und so maßen sie auch der heiligen Schrift einen mystischen Sinn bei, den sie durch die allegorische Interpretation, der Kunst zur Ausdeutung des Geheimnißvollen, zu erforschen suchten. Einstimmend hiermit war das höchste Gesetz ihrer Moral eine Loßreißung von der Materie und allem Einfluß des Körpers durch Enthaltsamkeit. Von dieser Seite zeichneten sich namentlich die syrischen Gnostiker aus, welches auch die einzelnen Benennungen derselben andeuten, wie Strenge, Sackträger, Wassertrinker. Wie aber die Ausschweifung im Denken, welche bei den Gnostikern als Bild und Person statt des Begriffes erscheint, eine gänzliche Verwerfung auch des sittlichen Lebens herbeiführe, das zeigte von ihnen die Sekte der Karpokratianer, die den Geist aus den Fesseln des Körpers zu befreien suchten, indem sie ihn in Wollust ertödteten. Ein wo möglich noch abenteuerlicheres und dem sittlichen Menschen noch schreckhafteres Religionssystem war das, welches in der Mitte des 3. Jahrh. der Perser Manas oder Manichäus (s. Manichäer) aus Verschmelzung der Lehren Zoroaster's und Christi aufstellte. Nach ihm war der Mensch wie die ganze übrige belebte und leblose Natur der fast gleichen Gewalt eines guten und bösen Wesens verfallen und im Zustande einer fast gänzlichen Unfreiheit blieb ihm nichts übrig, als durch unausgesetzte strenge Enthaltsamkeit den höhern Lebensfunken in sich zu wecken und so den Widerstand gegen die finstern Schrecken eines satanischen Reiches zu gewinnen. Diese den Menschen entmuthigende Lebensansicht der Manichäer und ihre Geringschätzung alles historischen Christenthums war es auch, was der Verbreitung der Sekte ein Hinderniß entgegensetzte; und von den ihnen verwandten Priscillianisten in Spanien wurden zuerst Priscillian, Bischof in Avila, mit zweien seiner Anhänger im I. 85 zu Trier als Ketzer hingerichtet. Während das Christenthum siegreich im Kampfe gegen griech. und oriental. Philosophie sich behauptete und eine gemeinsame christliche Überlieferung der Prüfstein alles Unechten und Nichtchristlichen in der Kirche wurde, erhoben sich gleichzeitig in derselben die Montanisten, die mehr eine Verrückung des christlichen Lebens als der Lehre herbeizuführen drohten. Ein neubekehrter Phrygier, wahrscheinlich vorher Priester der Cybele, verkündigte Montanus um das I. 170 mit der sinnlich enthusiastischen Andacht seines Vaterlandes sich als Denjenigen, in welchem sich der von Christus Verheißene Paraklet (Tröster) vollkommen offenbart habe, um der Kirche ihre männliche Vollendung zu geben, unmittelbar vor dem Anbruche des tausendjährigen Reichs, dessen himmlisches Jerusalem nach Pepuza, dem Wohnorte des Montanus, niederkommen sollte. Verzückung aus sich selbst heraus ist ihm der höchste christliche Zustand und das Leben des Christen eine stete Entsagung, nur an Gott und auf den Märtyrertod soll er sich freuen; alle irdische Freude, auch an der Wissenschaft, ist sündlich und Verbrechen schließen hoffnungslos von der Kirche aus. Die Montanisten nannten sich auch die geistlich Gesinnten, im Gegensatz zu der fleischlich gesinnten Kirche. Diese stieß sie aus der Kirchengemeinschaft, doch bestanden sie in Asien mit eigner Kirchenverfassung bis ins 6. Jahrh., und im Abendlande erhielten sie an Tertullian einen warmen Vertheidiger ihrer sittlichen Grundsätze. Von einer andern Seite machten die Novatianer diese sittliche Strenge geltend. Aus einem Streite mit dem neuerwählten röm. Bischof Cornelius über die Wiederaufnahme der Gefallenen hervorgegangen, in welchem der Presbyter Novatianus von seiner Partei zum Gegenbischof erwählt worden war, 251, stießen die Novatianer alle Todsünder unwiderruflich aus der Kirche, als einer Gemeinde der Heiligen und Reinen, ohne ihnen doch die Mahnung zur Buße und die Hoffnung auf die göttliche Barmherzigkeit entziehen zu wollen. Sie hoben die Gemeinschaft mit der allgemeinen Kirche auf und tauften die von derselben Übertretenden von Neuem. Mit den Montanisten in Phrygien vermischt, dauerte die Sekte bis ins 6. Jahrh. fort. Zu gleich strengen Grundsätzen über Kirchenzucht und Heiligkeit und Reinigkeit der Kirche bekannten sich im Anfange des 4. Jahrh. die Donatisten in Nordafrika. Nachdem sie sich unter der Anführung des Donatus, den seine Partei zum Gegenbischof in Karthago gewählt hatte, aus der Kirchengemeinschaft ausgeschieden hatten, verweigerten sie der kais. Edicte ungeachtet den Wiedereintritt in dieselbe. Die Härte derselben führte die offene Empörung der Donatisten und einen Krieg gegen sie herbei, in welchem die Circumcellionen, Bauern und Nomaden von Numidien und Mauritanien im wilden Fanatismus sich selbst den Tod gaben [159] und von den Felsen der Berge herabstürzten. Ihren völligen Untergang fand diese so blühende Sekte durch die Herrschaft der Araber im 7. Jahrh.

Wenn nun die Kirche vom 3.–7. Jahrh. ein Kampfplatz streitender Parteien wurde, und es lange unentschieden blieb, welche Partei die katholische Kirche sei, so waren die dadurch entstehenden Spaltungen in der Kirche nur vorübergehend und nur in den Nestorianern, Jakobiten und Maroniten (s.d.) haben sich Reste von den in jener Zeit aus der Kirche ausgeschiedenen Parteien erhalten. Diese verfiel von jetzt an immer mehr in die Erstarrung eines todten Buchstabenglaubens und gestaltete sich zur drückenden Herrschaft der Hierarchie, was namentlich der Grund zum Entstehen der Sekten im Mittelalter wurde. Von ihnen verdienen die Paulicianer in der griech. Kirche erwähnt zu werden, deren erste Gemeinde durch Konstantinus, aus der Nähe von Samosata gebürtig und in die Lehren der Gnostiker und Manichäer eingeweiht, zu Kibossa in Armenien 660 gestiftet wurde. Er selbst nannte sich Sylvanus und die Gemeinden, welche er reformirte, nach dem Namen Paulinischer Gemeinden. Davon erhielten sie von ihren Gegnern den Namen Paulicianer, sie selbst nannten sich Christen, die Katholiken Römer. Sie hielten an den gnostischen Voraussetzungen: daß die Weltgeschichte der Kampf eines guten und bösen Princips, das Judenthum das Werk eines geringen Geistes, das N. T. keine h. Schrift und der Gegensatz von Fleisch und Geist durch eine zwiespaltige Schöpfung gegeben sei: aber ihr wahres Bestreben war darauf gerichtet, die Kirche zu erneuern und eine Wiederherstellung des apostolischen und geistigen Christenthums herbeizuführen. Sie beriefen sich in allen Stücken aufs N. T. als heiliges Volksbuch, doch mit Ausscheidung der Briefe Petri und der beiden ersten Evangelien. Sie verwarfen die ganze Äußerlichkeit des Kirchenwesens, die Verehrung des Kreuzes, der Reliquien und der Heiligen, Fasten, Mönchthum und die unverletzte Jungfräulichkeit Maria's; Taufe und Abendmahl hielten sie nur für geistige Handlungen. Nach dem Tode des Konstantinus, der 684 durch Meuchelmord fiel, standen der Gemeinschaft andere Häupter vor, die sich nach dem Namen der Gefährten des Paulus nannten. Unter blutigen Verfolgungen und eignen Spaltungen verbreitete sich die Sekte durch die asiat. Provinzen des griech. Reichs und errichtete zuletzt ihren Hauptsitz zu Phanoräa in Helenopontus, wo sie sich mit den Bilderstürmern (s.d.) befreundete und die Angriffe der Araber gegen das griech. Reich unterstützte. Um das Reich von den Gefahren einer solchen Verbindung zu befreien, versetzte sie der Kaiser Johannes Tzimiskes nach Thrazien 970, wo sie nach einem wechselvollen Schicksale endlich vom Kaiser Alexius Komnenus 1115 bekehrt wurden. Ein Zweig der Paulicianer waren die Bogomilen, von dem unaufhörlich wiederholten Ausruf Bog milui (bulgarisch: Gott erbarme dich!) so genannt, deren Haupt, ein Mönch Basilius, 1118 zu Konstantinopel verbrannt wurde. Doch haben sich kleine Gemeinden der Bogomilen unter den Bulgaren durchs ganze Mittelalter, Paulicianer in und um Philippopolis und in den Thälern des Hämus bis auf unsere Tage unter mancherlei Umwandlungen erhalten. Im Zusammenhange mit den Paulicianern standen die seit dem 10. Jahrh. unter verschiedenen Benennungen im Abendlande hervortretenden Katharer (s.d.), die wo möglich ein noch entschiedener Haß gegen die herrschende Kirche beseelte. Ihren Hauptsitz hatten sie in Oberitalien, wo die Freiheit der Städte und die Herrschaft der Hohenstaufen ihnen einen ruhigern Zustand sicherte, und in Südfrankreich, wo durch die Troubadours ein freier Ton über die Hierarchie angegeben war. Ihren Untergang fanden sie im Albigenserkriege (s. Albigenser) und durch die Verfolgungen der neuerrichteten Inquisition. Das gleiche Schicksal theilten die aus einer Reform des kirchlichen Lebens durch Petrus Waldus in Lyon im 12 Jahrh. hervorgegangenen Waldenser (s.d.), da man die Ansichten Beider zwar für verschieden hielt, aber dennoch meinte, daß die Enden aller dieser Häretiker ineinander verschlungen seien. Gleichzeitig und selbst bis zum offenen Kampfe gegen die Hierarchie fortschreitend traten die Stedinger an den Niederungen der Weser auf. Zwar sagte man ihnen in Rom die Anbetung eines Frosches und einer Katze als Ketzerei nach, doch bestand dieselbe mehr in der Verweigerung des Zehnten, den der Bischof von Bremen foderte. Nachdem sie 40 Jahre lang den Grafen und Bischöfen, geschützt durch den Muth der Freiheit und die Sümpfe ihres Landes, widerstanden hatten, ließ endlich Gregor IX. gegen sie, als die furchtbarsten und abgeschmacktesten Ketzer, den vernichtenden Kreuzzug 1234 predigen. Reich an Erscheinungen und Bewegungen, die zu abgesonderten kirchlichen Vereinen und Verbrüderungen führten, war vornehmlich das 13. Jahrh. Zunächst aus den Bedürfnissen nach einem erbaulichen Leben gingen die Begharden, Beguinen und Lollharden (s.d.), freie Verbrüderungen von Laien, hervor. Sie wurden der Schwärmerei und der Ketzerei um so leichter verdächtig, je weniger sie durch ein anerkanntes Klostergelübde der Kirche eine Bürgschaft gaben. Die Brüder und Schwestern des freien Geistes standen in dem schlimmen Rufe, daß sie die übermäßige mystische Liebesfülle zum bösen Gelüst misbrauchten. Der von Gherardo Segarelli von Parma, einem schwärmerischen Jüngling, den die Franziskaner zurückgewiesen hatten, gestiftete, aber von der Kirche wegen seiner Verbindung mit Katharern nicht bestätigte Orden der Apostelbrüder fühlte sich berufen, die Kirche des Mangels aller Liebe beim übermäßigen Reichthum zu zeihen und sie zur wahren Armuth des apostolischen Lebens wieder zurückzuführen. Gherardo starb 1300 in Parma den Feuertod und als nach ihm der Mailänder Dolcino mit seiner Freundin Margaretha an die Spitze der Verbrüderung trat, erweckte er noch mehr durch schneidende Lehren und Unglück verheißende Weissagungen die Verfolgungen der Inquisition. Im Kampfe gegen sie mit etwa 1000 M. verschanzte er sich zuletzt auf dem Berge Zebello, wo er von einem Kreuzheer eingeschlossen, durch Hunger und Schwert 1307 erlag. Eine besondere Sekte von Schwärmern waren die Geißler oder Flagellanten (s.d.) im 14. Jahrh., das noch durch die Vorläufer der Reformation, die Wiklefiten und Hussiten, von denen zugleich die böhmischen oder mährischen Brüder (s.d.) abstammen, merkwürdig geworden ist.

Die fruchtbarsten Veränderungen im Gebiete der Kirche wurden durch die Reformation herbeigeführt. Wie durch dieselbe die beiden protestantischen Kirchen, die aber der katholischen Kirche nur als Sekten erscheinen, ihr Dasein [160] erhielten und neben diesen die Sekten der Wiedertäufer und Socinianer (s.d.) sich begründeten, so gingen auch aus ihrem Schoose eine Anzahl anderer größerer und kleinerer Gemeinschaften hervor. Eine der frühesten protestantischen Sekten war die von Kasp. Schwenkfeld (1490–1561), einem schles. Edelmanne, gestiftete, welche in der Lehre vom Abendmahl und von der Menschheit Christi abwich und auf eine vollkommene Reinigung des Wandels unter fortwährender göttlicher Eingebung drang. Die Schwenkfeldianer bestehen noch in Nordamerika. Andere protestantische Sekten sind die Remonstranten, die Methodisten, die Quäker und die dem Pietismus entsprossene evangelische Brüdergemeine (s.d.). Dazu kommen noch die Anhänger schwärmerischer Philosophen, wie Jak. Böhme's, Swedenborg's (s.d.) u.a. Die Freiheit des Glaubens, welche sie verstattet, war der Grund dieser Erscheinungen, die aber, wo sie an dieses Gesetz nicht fest gebunden ist, die Kirche leicht selbst in ein Gemisch von Sekten auflösen kann, wie namentlich die freien Staaten Amerikas, wo die kirchliche Freiheit am größten ist, zugleich auch der Sammelplatz der verschiedensten Sekten geworden ist. An Abweichungen vom Glauben hat es in dieser Zeit in der katholischen Kirche zwar auch nicht gefehlt; doch führten die Jesuiten bald jede freiere Bewegung des Lebens zur Einheit des Glaubens zurück und nur der Jansenismus (s.d.) erhielt sein außerkirchliches Dasein. In der allerneuesten Zeit hat sich innerhalb der protestantischen Kirche der Sektengeist wieder geregt. Einer das Gemüth leer lassenden und den Kern des Christenthums zerstörenden Verstandesauffassung der Kirchenlehre gegenüber trat ein frömmelnder Mysticismus auf, welcher seine Anhänger zu dem geistlichen Hochmuthe verführte, daß sie allein an dem wahren Christenthum und an dem wahren Protestantismus festhielten. Zu Versuchen wirklicher Trennung kam es zunächst in Folge der in Preußen angeordneten Union der evangelischen Kirchen. Aber nicht nur im Preußischen, sondern auch in andern protestantischen Ländern, namentlich in Sachsen, sonderte sich nun eine Partei der sogenannten Altlutheraner ab und wanderte zum Theil nach Amerika aus, wo sie eine selbständige Kirche bilden zu dürfen hoffen. Es hat sich jedoch schon auf eine bedauerliche Weise herausgestellt, daß die Anführer dieser Auswanderer wenigstens zum Theil unreinen Zwecken huldigten und mit ihren Anhängern den schändlichsten Misbrauch trieben. (Vgl. Stephan.) Ein schmachvolles Ende nahmen die sogenannten Mucker, welche besonders in Königsberg ihr Wesen trieben und von der überspannten Ansicht ausgehend, daß der Mensch durch Überreizung der sinnlichen Lüfte diese ertödten und die Herrschaft des Geistes begründen müsse, sich zu den schmachvollsten Sünden der Wollust hinreißen ließen. Dagegen war es ein Versuch zum völligen Austritt aus der christlichen Kirche, nicht einmal eine vermeintliche Reformation derselben, den ein Verein religiöser Wahrheitsfreunde oder Philalethen, wie sie sich nannten, machte, indem sie einen »Entwurf einer Bittschrift an deutsche Fürsten« (Kiel 1830) herausgaben. Sie wollten einen Verein stiften, welcher von jeder offenbarten, aber auch von jeder auf wissenschaftlichem Wege gewonnenen Erkenntniß des göttlichen Wesens und seines Verhältnisses zum Menschen absah und nur an einer moralischen Zucht, die fälschlich für Religion ausgegeben wurde, festhielt. Sie fand trotz der in vielen Kreisen herrschenden Gleichgültigkeit gegen Religion doch gar keinen Anklang, schon darum nicht, weil eine Vereinigung zu einer derartigen vermeintlichen Religion selbst Denen überflüssig erscheint, welche sich zu den Grundsätzen der Philalethen innerlich bekennen. Es bedarf keiner Vereinigung, um ein moralisch rechtlicher Mensch zu sein, und die Obhut über allgemeine Rechtlichkeit besorgt der Staat.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 4. Leipzig 1841., S. 158-161.
Lizenz:
Faksimiles:
158 | 159 | 160 | 161
Kategorien:
Ähnliche Einträge in anderen Lexika

Buchempfehlung

Weiße, Christian Felix

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Atreus und Thyest. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die Brüder Atreus und Thyest töten ihren Halbbruder Chrysippos und lassen im Streit um den Thron von Mykene keine Intrige aus. Weißes Trauerspiel aus der griechischen Mythologie ist 1765 neben der Tragödie »Die Befreiung von Theben« das erste deutschsprachige Drama in fünfhebigen Jamben.

74 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon