Christenthum

[422] Christenthum (das) oder die christliche Religion ist nach Form und Inhalt die vorzüglichste unter den herrschenden Weltreligionen, obwol seine Bekenner es sehr verschieden und nicht immer auf gleiche Weise dem Sinne seines erhabenen Stifters entsprechend, auffaßten und darstellten. Über die wichtigsten Angelegenheiten des Menschen und alle höhern Bedürfnisse des Geistes, über Gott und seine Verehrung, über die Welt und ihre Güter, des Menschen Werth und Ziel, seine Tugenden und Laster, seine Seligkeit und sein Verderben, ertheilt es die faßlichsten, vollständigsten und gewissesten Belehrungen. Seiner Form nach Offenbarung, seinem Inhalte nach Vernunftreligion, sind seine auf dem Zeugniß Gottes und seiner Gesandten beruhende Lehren dem Volke wie dem Weisen, der in ihm der Weisheit Anfang und Ende erkennt, gleich ehrwürdig. Mit kindlicher und erhabener Einfalt enthüllt es die verborgensten Geheimnisse der Menschheit und das Walten des allliebenden Vaters. Begreiflich für den Verstand, rührend für das Herz, höchst anwendbar für das Leben, kann es jedem Menschen in jedem Verhältnisse, auf jeder Stufe der Bildung Das gewähren, was er bedarf. Ohne sich in die Irrgänge frommer Schwärmerei zu verlieren, entflammt es zur heiligen Andacht; ohne im kühnen Forschungstriebe die Schranken des menschlichen Wissens zu überschreiten, trachtet es durch religiösen Glauben nach der Gemeinschaft mit Gott; ohne in mönchischem Ernste die Entsagung der Welt und die Zerstörung menschlicher Triebe zu fodern, erkennt es in der Mäßigung und Selbstbeherrschung die Bedingung der sittlichen Freiheit. Das dunkle religiöse Gefühl, das sich in die Ausgeburten des Aberglaubens und die Schrecken eines blind waltenden Schicksals verlor, ward vom Christenthume in den klaren und lebendigen Begriff Gottes, des höchsten die Menschen liebenden und sie zur Sittlichkeit und Wohlfahrt erziehenden Vaters, verwandelt. Zu ihm soll sich der Mensch im Geist und in der Wahrheit erheben und den göttlichen Willen zu seinem Willen und diesen dann selbst wieder zu einer großen Thatsache seines Lebens machen. So hörte im Christenthume die Religion auf, das Werkzeug der Unterdrückung in den Händen herrschsüchtiger Priester zu sein und wurde Herzensangelegenheit; sie wurde Trösterin bei den Widerwärtigkeiten des Lebens und überzeugende Verkündigerin der Unsterblichkeit.

Je größer in dem religiös und sittlich verwilderten Zeitalter Jesu das Bedürfniß nach vollkommener Gotteserkenntniß und reinerer Tugend sein mußte, um so willkommener mußte auch da, wo dieses Gefühl vorherrschte, die Verkündigung des Evangeliums sein. Es bildeten sich deshalb schon im ersten Jahrh. durch die begeisterte Wirksamkeit der Apostel zahlreiche christliche Gemeinden zu Jerusalem, Antiochia, Ephesus, Rom u.s.w., denen auch bald ein Theil der Bevölkerung des umliegenden Landes sich anschloß. Nicht der Ursprung des Christenthums, denn es war aus einer verachteten Nation hervorgegangen, nicht seine kunstreiche und gelehrte Form, denn es wurde in der Sprache des gewöhnlichen Lebens als Glaube an den Gekreuzigten verkündigt, gaben ihm den Vorzug vor dem Heidenthum; sondern das Leben seiner Bekenner, der Gemeinsinn, der dem Einzelnen Alles für das Wohl der Gemeinde hingeben ließ, die Bruderliebe, die Sklaven und Herren verband, der milde und sanfte Geist ihrer Sitten und die selbst im Märtyrertode unerschütterliche Kraft des Glaubens und Gottvertrauens. Siegreich ging es aus den von roher Pöbelgewalt, priesterlicher Engherzigkeit und eigensinniger Politik angeregten blutigen Verfolgungen hervor und nahm unter dem röm. Kaiser Konstantin, gest. 337, selbst Thron und Reich in Besitz. Innigkeit und Wärme des Glaubens, strenge Sittlichkeit, ungeheuchelte Gottesfurcht machen die Christen der vier ersten Jahrhunderte zum Vorbild des christlichen Lebens für alle nachfolgenden Zeiten. In Privathäusern, oft über den Gräbern der Märtyrer, späterhin in Tempeln, hielten sie des Nachts ihre gottesdienstlichen Zusammenkünfte,[422] wo das ehrwürdige Alter und die durch Frömmigkeit und Redegewandtheit Ausgezeichneten, die Ältesten und Bischöfe auf apostolische Weise die Gemeinde erbaueten. Hier sättigte sich der Arme von den milden Gaben des Reichen und sittliche Vergehungen einzelner Gemeindeglieder wurden durch Buße (s.d.) gesühnt. So kräftig sich demnach auch das Christenthum in seinen Bekennern entwickelte, so zeigten sich doch jetzt schon die Keime der Übel, an denen es späterhin vielfach litt. Überspannter sittlicher Eifer fing an, die Gemeinschaft mit Menschen als Anreizungsmittel zur Sünde, zu fliehen, und suchte in Wüsteneien und Einöden oder in den Mauern der Klöster eine vollkommenere Frömmigkeit und Heiligkeit. Über geheimnißvolle und dem Verstande unbegreifliche Glaubenslehren entstanden eine Menge unfruchtbarer Streitigkeiten, deren Entscheidung auf allgemeinen Kirchenversammlungen unter dem Einflusse der weltlichen Macht einige Formulare und Glaubensbekenntnisse zur Folge hatte, durch die man zwar die Einheit des Glaubens, mit derselben aber auch zugleich die bloße Äußerlichkeit des Christenthums und die gänzliche Erstarrung des christlichen Lebens herbeiführte. Was in den Zeiten der Apostel das Eigenthum eines jeden Christen gewesen war, ein heiliger Sinn und Geist, das wurde jetzt nach und nach der bischöflichen Würde ausschließlich zuerkannt. Auf dieser Grundlage aber erhob sich die alleinseligmachende Kirche, als die vom heiligen Geist beseelte Gesammtheit der Bischöfe; hier fand sie ihr Recht, mit Hülfe der weltlichen Behörde untrügliche Gesetzgeberin in Glaubenssachen zu werden, Andersdenkende mit blutiger Geißel zu verfolgen und als Ketzer aus ihrer Mitte zu stoßen; hier endlich erhob sich die verderbliche Scheidewand zwischen Priester und Laien. So wurde vom Ende des 4. Jahrh. an das Christenthum ein Priesterthum, das im Morgenlande zu Konstantinopel, im Abendlande zu Rom seinen Sitz hatte, und aus einem Gemisch jüdischer und heidnischer Ceremonien und willkürlich aufgestellter Glaubensartikel einen Gottesdienst bildete. Mit dem Verfall der griech. und röm. Literatur in dieser Zeit, verschwand auch bei den Christen alle höhere geistige Bildung; nur einzelne Geistliche verstanden dürftig die h. Schrift in der Ursprache zu lesen, und Legenden und Heiligengeschichten mußten ihren beseligenden Inhalt ersetzen. Die Einführung des Bilderdienstes (s.d.) und zunehmende Pracht des Kirchendienstes gaben der sinnlichen Auffassung der Religion das Übergewicht über die geistige; Unwissenheit und Aberglaube wurden überall herrschend, und deshalb blieben die Bemühungen Karl's des Großen, durch Errichtung von Volks- und Gelehrtenschulen den Volksunterricht zu verbessern, ohne große Folgen. Doch nicht nur an innerm Werthe, auch an äußerm Umfang hatte das Christenthum viel verloren. Der ganze Orient wurde im 7. Jahrh. um so leichter eine Beute der durch Schwert und Fanatismus furchtbaren Bekenner Mohammed's, da denselben meist unter sich, sowie mit der rechtgläubigen Kirche zerfallene, ketzerische Parteien inne hatten. Im folgenden Jahrhunderte begründeten jene ihre Herrschaft auch in der pyrenäischen Halbinsel und das nun auf das griech. Reich, Italien und Frankreich beschränkte Christenthum erhielt nur in den germ. Völkern und von 10.–12. Jahrh. in den Slawen neue zahlreiche Bekenner und Vertheidiger. Mittelbar wohlthätig für das Christenthum waren auch die Kreuzzüge (s.d.), jene von 1096 bis zum Ende des 13. Jahrh von frommer Schwärmerei und Sucht nach Abenteuern und Gewinn unternommenen Kämpfe des Christenthums mit dem Islam, obgleich sie ihren eigentlichen Zweck, die Eroberung des heiligen Grabes, verfehlten. Das Papstthum hatte jedoch während dieser Zeit allgemeiner Verwirrung nach dem Plane Papst Gregor VII., gest. 1085, die Herrschaft der geistlichen Macht über die weltliche errungen, dadurch aber auch zugleich eine seiner Hauptbestimmungen, die Seelsorge und den Religionsunterricht des Volkes, ganz aus den Augen verloren. Eine Menge Parteien und Sekten, die seit dieser Vernachlässigung des Kirchenwesens auf ihre Weise für die religiösen Bedürfnisse ihres Geistes und Herzens sorgten, fanden dadurch ihr Entstehen, und viele konnten weder durch die neugestifteten Orden der Dominikaner und Franziskaner (1216), die den Volksunterricht übernehmen sollten, noch durch die strengsten Glaubensgerichte und blutige Verfolgung in den Schoos der Kirche zurückgeführt werden, wie z.B. die Albigenser und Waldenser (s.d.).

So wenig nun auch die Kirche diese Versuche des Volkes, den Religionszustand zu verbessern, guthieß, so wenig suchte sie dennoch durch kräftige Maßregeln dem Verlangen darnach entgegenzukommen. Es häuften sich vielmehr die Klagen über die Unwissenheit und moralische Verdorbenheit der Geistlichen, und die gegenseitigen Bannbullen der seit 1378 über 30 Jahre sich um die Oberherrschaft streitenden Gegenpäpste gaben der ganzen Christenheit ein großes Ärgerniß mehr. Zwar wurde die dadurch entstandene Spaltung durch die Beschlüsse des Conciliums zu Konstanz, 1414–18, ausgeglichen, allein durch die ebendaselbst 1415 erfolgte Verbrennung des Joh. Huß und seines Freundes Hieronymus von Prag, die nach dem Vorgange Wiklef's in England, 1384, die Reinigung der Religion und Kirche in Böhmen mit vielem Beifall unternommen hatten, wurde zunächst der Ausbruch der Empörung ihrer Anhänger veranlaßt, durch welche dem bald darauf zu Basel von 1431–43 versammelten Concilium Verwilligungen abgenöthigt wurden, welche, wurden sie durchgeführt, den Freunden der zu Basel in Vorschlag gebrachten Kirchenverbesserung an Haupt und Gliedern darthaten, was Einigkeit und Entschlossenheit wider die in der röm. Kirche herrschenden Misbräuche ausrichten könne. Seitdem eilte die Kirche, so sehr es auch die päpstliche Curie zu verhindern suchte, unaufhaltsam der endlich 1517 begonnenen und glücklich vollendeten Reformation (s.d.) entgegen, durch welche sich die Christenheit in zwei große Parteien, die Katholiken und Protestanten, trennte, die sich oft in dem Wahn, daß diese oder jene ausschließlich das wahre Christenthum besitze, verfolgten, ohne zu bedenken, daß da nur, wo Christi lebendiger Geist wohnt, das wahre Christenthum stattfinden könne, das den ganzen Menschen durchdringen, seinen Geist erhellen und seinen Willen heiligen soll, und nicht in den verschiedenen christlichen Religionsparteien, sondern in den Hindernissen der sittlichen und geistlichen Bildung des Menschen seine Widersacher erkennt. Für die Ausbreitung des Christenthums wirken in neuester Zeit vorzüglich Bibelgesellschaften und Missionen (s.d.) in allen Welttheilen mit aufopfernder Thätigkeit.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 1. Leipzig 1837., S. 422-424.
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