Pietismus

[496] Pietismus (der) oder die Frömmelei ist als eine Verirrung des religiösen Gefühls mit dem Mysticismus (s.d.) verwandt, wird mit demselben oft gleichbedeutend genommen, unterscheidet sich aber von ihm dadurch, daß dieser des höhern göttlichen Ursprungs der Religion, jener der beseligenden Wirkungen derselben sich bewußt zu werden sucht. Diese dem Pietismus eigenthümliche Richtung liegt in dem Grundcharakter desselben, dem vorherrschenden Gefühl von der sittlichen Verderbtheit der menschlichen Natur und der verdammlichen Eitelkeit des menschlichen Lebens. Der Pietismus verdammt das Leben, damit er es heilige und die Frömmigkeit das höchste und letzte Ziel alles menschlichen Strebens werde. Wie er aber dadurch das Gebiet der Religion verrückt und Das, was er erstrebt, nicht mehr die natürliche Folge der allgemein menschlichen Überzeugung, sondern der besondern: der von der Verdammlichkeit des[496] menschlichen Lebens ist, so ist auch die pietistische Frömmigkeit ihrem Wesen nach Verirrung, Überreizung und krankhafte Richtung des religiösen Gefühls. Der Sache, wenn auch nicht dem Namen nach, ist sie im Mönchthum enthalten und indem dasselbe durch die Ertödtung des Fleisches, durch Entsagung der Welt und geistliche Übungen bei beschaulicher Lebensweise, theils die Reinheit der Seele vor dem verderblichen Einflusse des Körpers zu bewahren, theils die begangenen Sünden abzubüßen und zu sühnen suchte, folgte man dem Pietismus der Ascetik, der im Mönchleben seine volle Ausbildung erhielt und noch jetzt in der katholischen Kirche fortdauert. Hiervon unterscheidet sich der Pietismus im eigentlichen Sinne, d.h. der evangelischen Kirche, unter welchem Namen man zuerst die durch Spener (s.d.) und dessen Freunde, seit dem I. 1689 angeregte Denkart bezeichnete, welche im Gegensatz der trocknen und gelehrten, die gefühlsfromme und erbauliche Behandlung des Christenthums zum Zweck hatte und für jene Zeit eine Art Bedürfniß war. Den Anfang hierzu machten die Versammlungen (collegia pietatis), welche Spener 1670 in seinem Hause zu Frankfurt am Main hielt und in welchen das fromme Gefühl durch erbauliche Auslegung der heiligen Schrift und durch christliches Gespräch genährt wurde. In den Schriften: »Fromme Wünsche (Pia desideria), oder herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche« (1679); »Das geistliche Priesterthum« (1677); »Die allgemeine Gottesgelahrtheit der gläubigen Christen« (1680), legte er dann die Absicht einer Verbesserung des gesammten Kirchenthums nach dem Grundgedanken dar, daß Religion Sache des Herzens, das Predigtamt sie durchs Gemüth zu erwecken bestimmt und die Theologie auf diesen alleinigen Zweck angewiesen sei. Anerkennung und Nachahmung fand diese Wirksamkeit Spener's besonders in Leipzig, wo sich durch seinen Einfluß unter jungen Gelehrten eine Gesellschaft zur gelehrten Auslegung und frommen Nutzanwendung der heiligen Schrift 1687 gründete, aus deren Kreise drei Magister, unter ihnen August Hermann Francke, deutsche erbauliche Vorlesungen über das N. T. eröffneten, die auch von Bürgern fleißig besucht wurden. Wegen übertriebener Schaustellung ihrer Frömmigkeit im äußern Leben spottweise Pietisten genannt, erregte diese Neuerung in den sogenannten pietistischen Streitigkeiten den heftigsten Widerstand der Theologen, in Folge dessen die Pietisten auf die Anklage: Verachtung des öffentlichen Gottesdienstes und der Wissenschaft, sowie eine trübsinnige Lebensansicht zu befördern, 1690 aus Leipzig verdrängt wurden, und mit ihrem geistvollen Vertheidiger Thomasius 1694 die Universität Halle begründeten, wo sie im Kampfe mit der glaubensarmen Zeit endlich den Schutz der Regierung fanden und Francke's Stiftungen die Pflanzschule des Pietismus wurden. Aber dieser hatte sich durch Übertreibung und Verirrung längst zu einem strengen Gegensatz ausgebildet und konnte, wie viel Gutes auch der von ihm ausgehende Eifer für ein lebendiges Christenthum im Leben und in der Wissenschaft zur Folge gehabt hatte, den Ruhm eines gemeingültigen Wirkens nicht behaupten. Eine ernste, beinahe düstere Moral, die Tanz und Spiel und andere herkömmliche Vergnügen als Werke des Teufels verwarf, der Glaube, alle wahrhafte Wiedergeburt sei durch einen Bußkrampf und plötzlichen Durchbruch der Gnade bedingt und nur ein wiedergeborener Theolog könne das Heiligthum verwalten, hohe Meinung von der Nutzbarkeit jener Andachtsübungen (Conventikel), zu welchen sich die Eingeweihten, meist gemeine Leute, in Privathäusern versammelten, Verachtung der Kunst und Wissenschaft und Mistrauen gegen Andersdenkende, dazu einzelne schwärmerische Hoffnungen eines tausendjährigen Reichs und viel hohles Wortgeklingel frommer Redensarten – dies waren Grundzüge des Pietismus, wie der damaligen, so auch der nachfolgenden Zeit. Obgleich nun der Pietismus zu allen Zeiten den Beifall redlicher aber schwachsinniger Freunde einer mystischen Herzensreligion fand und aus seiner Mitte die evangelische Brüdergemeine (s.d.) 1722 und in der englisch-bischöflichen Kirche seit dem I. 1735 die Methodisten (s.d.) als zwei verwandte Zweige hervorgingen, so ist derselbe doch nie eine eigentliche Partei der Kirche gewesen, ungeachtet der Pietismus neben dem Geiste der Frömmelei und des Schwelgens in religiösen Gefühlen auch den Geist der kirchlichen Absonderung nährt und Gegner der Pietisten denselben nicht selten die gehässigsten Ketzernamen beilegten. Mit dem Beten haben es freilich viele derselben mehr gehalten als mit dem Thun, daher auch das Sprüchwort »Pietist, fauler Christ« entstanden ist. Die besten Verwahrungsmittel gegen den Pietismus, der das Leben traurig und niedergeschlagen macht und das Elend der Menschen nur beseufzen und beweinen, durch sich selbst aber nichts Gutes vollbringen kann, sind Besonnenheit und Nüchternheit des Geistes. Freunde der Wahrheit und des Lichts sind beständig bemüht, den Pietismus als eine Wucherpflanze auf dem Gebiete des wissenschaftlichen und kirchlichen Lebens auszurotten, indem sie ihm durch Aufklärung in religiösen Dingen den eigentlichen Grund und Boden zu entziehen suchen, wie dies auf eine geeignete Weise auch von Bretschneider (s.d.) in seiner auch dem Ungelehrten verständlichen Schrift: »Der evangelische Pietismus«, geschehen ist. Leider wird er aber daneben von Geistesschwachen noch in neuester Zeit gehegt und gepflegt und seine Verbreitung unter dem Volke (durch die sogenannten Tractätchen) betrieben, ja selbst von manchen Regierungen in der Meinung begünstigt, daß er dem gefährlichen Freiheitsgeiste am nachdrücklichsten entgegenwirke und das wirksamste Verwahrungsmittel gegen Revolutionen sei.

Quelle:
Brockhaus Bilder-Conversations-Lexikon, Band 3. Leipzig 1839., S. 496-497.
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